1941 hatte die Schauspielerin Paula Wessely, Mutter des Hörbiger-Clans und Liebling der Wiener, ihren ganz großen Auftritt in einem Ufa-Film. Er hieß "Heimkehr" und liegt heute im Giftschrank für die übelsten NS-Propagandastreifen. Perfide die Kriegsschuld umkehrend, zeigt er, wie deutsche Bewohner einer Kleinstadt in Polen unter der Aggression der polnischen Bevölkerung schwer zu leiden haben. In ihrer Rolle als eine der Drangsalierten richtet Paula Wessely ihre verzweifelten Leidensgenossen auf, mit einem Monolog, in dem sie von der Heimkehr ins Reich schwärmt, wo alles deutsch ist, deutsch klingt, deutsch aussieht, von der Ackerkrume bis zum Haselnussstrauch; wo man nicht nur ein deutsches Leben führt, sondern sogar einen deutschen Tod stirbt. Und so weiter.
Das klingt heute alles nur noch komisch. Weil es das aber nicht war, musste Paula Wessely, die 1938 auch den 'Anschluss' freudig begrüßt hatte, nach dem Krieg mit einer Schramme in ihrem Image leben. Aber nur ganz kurz. 1948 bekam sie die Gelegenheit, eine Halbjüdin namens Henriette Alt zu spielen, die von den Nazis in den Tod getrieben wird. Es galt als ausgemacht, dass sie sich mit dieser Rolle reingewaschen hatte. Wien konnte weitermachen mit seiner Wessely, seinen Hörbigers und mit seinem habituellen Antisemitismus.
Der Film hieß "Der Engel mit der Posaune". Aber außer dem Titel hatte diese gehobene Schnulze mit Ernst Lothars 1945 erschienenem Roman nicht viel gemein. Statt durchwachsener Charaktere noble Lichtgestalten, statt boshafter Pedanten und Rassisten liebevolle Verwandte - keine Spur von der zwischen Panoptikum und Pandämonium schillernden Wiener Familie Alt, die Ernst Lothar vor dem Zeitpanorama des Fin de Siècle und des heraufziehenden Faschismus auftreten lässt.
Zentrale Gestalt ist Henriette, Tochter eines jüdischen Professors und einer Sängerin - beides erregt das Missvergnügen der vom Autor nicht umsonst mit dem Namen Alt versehenen traditionsbewussten Klavierbauerfamilie, in die Henriette einheiratet. Und mit der sie fortan leben muss: Denn die Alts, Onkel, Tanten, Schwager, Schwägerinnen und Kinder, wohnen alle zusammen in dem großen Haus, das ihr Ahnherr 100 Jahre zuvor in der Wiener Innenstadt gebaut hat.
Doch der steinerne Engel über dem Eingang, der in eine Posaune bläst, ist nur das Trugbild heiter-kultivierter Lebenslust; hinter den Mauern dieser Alt-Wiener Idylle brütet der verknöcherte Geist der späten K.u.k.-Monarchie, verkörpert in pedantischen Beamten, abgetakelten Offizieren, verbitterten Ehefrauen; und im Lauf der Geschichte wird so mancher Abgrund sich auftun, bis hin zum Mord.
In dieser Umgebung ist Henriette ein Paradiesvogel, unverstanden und misstrauisch beäugt. Auch ihr Ehemann, der schon etwas angejahrte Franz Alt, Chef des Familienbetriebs, ist hoffnungslos realistisch. Der große Schatten von Thomas Mann liegt über dieser Mesalliance aus Geschäftssinn und Kunstsehnsucht, aber im Gegensatz zu Gerda Buddenbrook ist die umwerfend schöne Henriette schlicht prätentiös, ein Snob. Aus ihrer bescheidenen Liaison mit Kronprinz Rudolf, dem notorischen Herzensbrecher, strickt sie ihre Lebenslüge, der zufolge sie seinen Selbstmord in Mayerling hätte verhindern können. Nichts bereitet ihr mehr Freude als die Aufmerksamkeit aristokratischer Kreise, wenn sie, selten genug, beim Pferderennen in der Freudenau, im Prater, auftaucht.
"Sie bemerkte mit Genugtuung, man habe es in den unteren Reihen der Nobeltribüne bemerkt. ... Die Gräfin Wydenbruck fixierte sie mit ihrem Lorgnon, die Gräfinnen Goluchkowski und Trautmannsdorff mit freiem Auge, Frau von Ephrussi sogar mit dem Opernglas."
Was die politisch unbedarfte Henriette gar nicht mitbekommt: Ein Mitglied ihrer Familie, der junge Neffe Otto, hat zum gesellschaftlichen Ereignis in der Freudenau auch etwas zu sagen:
"Ist es dem Herrn Bürgermeister bekannt, dass eine der Zierden des Wiener öffentlichen Lebens, der Rennsport, in die Gefahr geraten ist, jüdischem Einfluss und jüdischem Kapital zu erliegen?"
Auf diese Art, selten und beiläufig, lässt Ernst Lothar durchblicken, wie der alltägliche österreichische Antisemitismus zu der aggressiven Krankheit heranwächst, die aus Otto und schließlich auch Henriettes jüngerem Sohn Hermann Nazis macht. Was damit zu tun hat, dass sie diesen Sohn nie lieben konnte, im Gegensatz zu ihrem Ältesten, dem wesensverwandten Hans, der als einziger in die offene Opposition zur Familie und zum Faschismus gehen wird.
"Der Engel mit der Posaune" beginnt im Schicksalsjahr 1888, dem Todesjahr Rudolfs, und endet 1938, mit dem "Anschluss" an Hitlerdeutschland. Ernst Lothar, geboren 1890, schrieb also einen Zeitroman, in der Machart des im 19. Jahrhundert blühenden historischen Romans: In repräsentativen Nukleus des Familienkollektivs bündelt Ernst Lothar die große Geschichte des Wiener Fin de Siècle, des Ersten Weltkriegs und der Ersten Republik. Lothar, gelernter Jurist, später Theatermacher und Autor, erzählt feuilletonistisch und bildungsgesättigt, mitunter auch im pragmatisch-schnörkellosen Ton einer K.u.k.-Kanzleiakte, doch jederzeit zügig - von ein paar predigthaften Passagen abgesehen. Historische Persönlichkeiten kommen scharenweise in der Handlung vorbei, aber immer treten sie den fiktiven Personen nur gerade so nah, dass historisch sensible Leser sich nicht beleidigt fühlen müssen. Oft genügt ein Zitat
"Haben Sie heute die 'Ode an den Führer' gelesen? Erstklassig!" - um an die Schriftstellerin Gertrud Fußenegger zu erinnern, die mit dieser Ode ihren Ruf beschmutzte.
Jede Menge zeithistorische Andeutungen machen aus Ernst Lothars Roman eine Fundgrube, deren tiefere Schichten sich je nach Epochenkenntnis erschließen - und prompt staunt man, dass das Rote Wien der 20er-Jahre, der Schrecken der damals zur Kasse gebetenen Bourgeoisie, in der stur-konservativen Familie Alt kein Thema ist. Nur einmal erwähnen gut gelaunte Besucher von auswärts dieses große sozialdemokratische Experiment: Aber nur, weil es nicht mehr da ist.
"Sie fanden, das Rote Wien sei nicht wiederzuerkennen. Fast wieder dieselbe unwiderstehliche Stadt geworden wie in der Kaiserzeit! die Vorstellungen in der Oper unter Bruno Walter! Das Theater in der Josefstadt unter diesem genialen Max Reinhardt! Die Philharmoniker! 'Von der roten Bagasch is nix mehr zu merken.'"
Da ist die Zeit des Austrofaschismus angebrochen - am Vorabend des Nazi-Einmarschs. Zunehmend verengt sich das fulminante Zeitpanorama auf Terror und schiere Angst. Aber dabei konnte es Ernst Lothar 1944 nicht belassen: Auf den letzten Seiten findet ein Mitglied der Familie Alt zum Widerstand - als Ausblick auf bessere Zeiten.
Ernst Lothar: "Der Engel mit der Posaune", mit einem Nachwort von Eva Menasse, Roman, Zsolnay 2016, 544 Seiten.