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Liedermacher und 1968er Fredrik Vahle
"Wir wollten die Revolution aufs Land tragen"

Wie viele seiner Altersgenossen hatte auch der Achtundsechziger Fredrik Vahle die Weltrevolution im Sinn, aber mit seinen maoistischen Mitstudenten fremdelte er. Im Dlf erzählt er, wie er von Stendal, Frankfurt und Gießen in die hessische Provinz und zum Schreiben politischer Kinderlieder kam.

Fredrik Vahle im Gespräch mit Johanna Herzing |
Der Musiker Frederik Vahle
Vahle 2017 im Studio bei Deutschlandfunk Kultur (Deutschlandradio/Maurice Wojach)
Salzböden in Hessen – ein Mann öffnet die Haustür, barfuß, weißhaarig, Pferdeschwanz. Dabei war er jahrzehntelang mit Kurzhaarschnitt unterwegs – und mit ziemlich politischer Musik: Fredrik Vahles Stimme hat seit den frühen 1970er-Jahren Generationen von Kindern begleitet. Frech, witzig, politisch immer klar links angesiedelt waren seine Lieder. Für die einen war das reinste Agitprop, für die anderen entsprach Vahles Musik dem lang ersehnten Befreiungsschlag, raus aus der braven Hänschen-klein-Liederwelt. Heute zählen „Anne Kaffeekanne“, „Der Katzentatzentanz“, „Der Cowboy Jim aus Texas“ und viele andere seiner Lieder zum Standard-Repertoire in deutschen Kindergärten und Liederbüchern.
Neben der Musik widmet sich der bald 80-jährige Fredrik Vahle seiner Lehrtätigkeit als außerplanmäßiger Professor für Germanistik an der Universität Gießen. Im Zentrum steht für den Sohn eines Künstlerpaares aber immer die Musik, täglich und vielerorts, ob im Seminarraum, an Schulen und Kindergärten oder beim Corona-Konzert auf dem Balkon seines Hauses.

Eine Kindheit in Ost und West

Johanna Herzing: Danke, dass wir bei Ihnen zu Besuch sein dürfen. Wir sind in Salzböden, das ist ein kleiner Ort in Hessen, in dem Sie mittlerweile schon seit vielen Jahrzehnten wohnen. Bis Sie Teenager waren, sind Sie in Stendal aufgewachsen, das ist heute in Sachsen-Anhalt, und in Ihrer Kindheit war das erst sowjetisch besetzte Zone, später dann DDR. Wie eng waren die Grenzen für Ihre persönliche Entwicklung? Also haben Sie Regime und Doktrin in Ihrer Kindheit wahrgenommen oder war das eine Selbstverständlichkeit, die Sie gar nicht empfunden haben?
Fredrik Vahle: Na ja, ich habe das schon wahrgenommen, aber noch nicht als Doktrin. Also, man musste damals noch nicht in die Jungpioniere gehen, unsere Lehrer waren teils, teils, also teils alte Lehrer, die gar nicht so sehr auf das Regime abgefahren sind, meine Freunde kamen auch aus Elternhäusern, die der DDR oder der neuen Politik, die da gemacht worden ist, eher kritisch gegenüberstanden – aber es war nicht so eine direkte Opposition.
Herzing: Also nichts, wo direkt sozusagen der Druck dann wahrnehmbar geworden wäre.
Vahle: Nein. Ich habe etwas aus der DDR mitbekommen, was gar nicht so sehr mit der offiziellen DDR zusammenhing, sondern mit der Literatur und mit den Dingen, mit denen ich mich damals beschäftigt habe, also sehr viel mit Gedichten, mit Liedern, mit Geschichten. Und wenn ich so in mein literarisches Unterbewusstsein gehe, dann sind da heute für mich so Schriftsteller maßgebend wie Eva Strittmatter, Christa Wolf, Bert Brecht, dann als ich in den Westen kam auch Heinrich Heine, aber diese Schriftstellerinnen und Schriftsteller waren für mich viel wichtiger und waren für mich viel eher auch literarische Leitbilder, auch Peter Hacks zum Beispiel, das ist selbst im Westen so geblieben – also so eine humane Schicht von Kultur, die sich anscheinend in der DDR entwickeln konnte, ohne offiziell zu werden, und teilweise auch mit der offiziellen Politik angeeckt ist.
Herzing: Trotzdem haben sich Ihre Eltern ja entschieden, 1956 in die BRD überzusiedeln.
Vahle: Ja.
Herzing: Haben die Sie da vorher längerfristig eingeweiht oder war das so eine große Überraschung für Sie? Wie lief das ab?
Vahle: Meine Mutter hat zu mir gesagt: Wir werden an einen großen See ziehen. Und ich habe den See gesehen dann. Wir zogen nach Darmstadt, und der große See war ein großer Teich, das war der große Woog in Darmstadt. Und ich war damals 14 Jahre, und ich war einfach neugierig auf den Westen. Bei meinem Bruder war das schon eher .. Der hatte seine ganzen Freunde in Stendal, dem ist die Trennung von der alten Heimat schon schwer geworden. Und ich bin auch später immer wieder rübergefahren. Es gab dann Jahrzehnte, da habe ich weniger Kontakt zu Stendal gehabt, aber jetzt ist es so, dass ich auch wieder jedes Jahr ein, zwei Mal nach Stendal fahre und da mittlerweile auch Freunde aus der alten Zeit habe, …
Herzing: Also ist schon so eine Verbundenheit geblieben.
Vahle: … ja, die mich dann begrüßen mit, ach Fritzchen, ja.

"Das passte nicht so genau ins gängige DDR-Klischee hinein"

Herzing: Warum haben sich Ihre Eltern entschlossen, in den Westen zu gehen?
Vahle: Sie haben sich im Westen mehr künstlerische Freiheit erhofft. Mein Vater stammte ja aus dem Ruhrgebiet, der hat dann auch immer angegeben, ich will in meine alte Heimat zurück. Ich glaube, dass diese künstlerische Freiheit, die sie hier vermutet haben, dass das der Hauptausschlag, Grund war, dass wir in den Westen gegangen sind. Es ist ihnen nicht einfach gefallen, weil sie alle ihre Freunde da hatten und mein Vater zum Teil auch Malkurse gegeben hat am RAW mit Arbeitern, was auch nur in der DDR möglich war. Da war der Westen ganz anders. Da kam dann so die Konkurrenz anderer Maler hinzu und Malerinnen, und was sie gar nicht so erwartet hatten.
Herzing: Sind sie nicht so gut angekommen im Westen?
Vahle: Doch, schon. Also sie hatten dann auch Ausstellungen im Ausland. Sie wurden auch als Künstler aus dem Osten sehr hofiert von einigen. Als ich in die Schule kam und kam aus der DDR und so weiter, das war dann irgendwie schon was. Da wurde ich halt als Flüchtling … Und wenn ich dann gesagt habe, ich bin gar kein Flüchtling, wir sind übergesiedelt, wir durften alles mitnehmen – hm, das passte dann schon nicht so genau in das gängige DDR-Klischee rein.
Herzing: Und Sie als Kind sind gut in Darmstadt angekommen und haben sich da in diese neue Umgebung gut eingefügt?
Vahle: Ja, das war nicht so einfach, neue Freunde zu finden. Da habe ich dann gemerkt, dass man dann so als Ossi, würde man heute sagen, da doch schon Schwierigkeiten hatte.
Herzing: Waren Sie als Ossi erkennbar, und woran?
Vahle: An der Sprache.
Herzing: Wie haben Sie gesprochen? So wie heute? Heute sprechen Sie ja nicht besonders …
Vahle: Na ja, vielleicht so ein bisschen mehr Berlinerisch, watt denn, watt denn? Die höflichste Form, die Stendaler haben, um mich zu begrüßen, ist: Fritze, watt willstn du hier?

1968 – von Maoisten und Polizisten

Herzing: Angekommen im goldenen Westen hat dann die Begeisterung für, ja, diesen goldenen Westen nicht so lange angehalten, oder? Wann hat es angefangen, dass Sie das politische System der BRD und den Kapitalismus dann plötzlich ganz kritisch gesehen haben? Was, würden Sie sagen, war so Ihre politische Erweckungsphase?
Vahle: Na ja, Erweckungsphase ist vielleicht ein bisschen zu hoch gegriffen. Das war so eine Aktivierungsphase. Das war in Gießen, da musste ich das Philosophikum machen, habe mich mit dem jungen Marx beschäftigt.
Herzing: Also, Sie haben Germanistik und Politik studiert, richtig?
Vahle: Ich habe Germanistik und Politik studiert, und da musste man ein Philosophikum machen, und da habe ich mich mit dem jungen Marx beschäftigt, und das war bei dem inzwischen relativ berühmten Philosophen Odo Marquard beziehungsweise bei einem seiner Assistenten. Und da habe ich rausbekommen, nachdem ich dieses Philosophikum gemacht habe, dass sich im philosophischen Institut der Universität Gießen auch der Gießener SDS, der Sozialistische Deutsche Studentenbund, traf, und habe dann Freunde getroffen, und weil ich ja durch die Literatur und auch schon durch bestimmte Erfahrungen in Stendal und auch hier wusste, dass wir in einer Gesellschaft leben, in der es große Unterschiede gibt zwischen arm und reich und in der die Chancengleichheit nicht da ist und in der arme Kinder ganz anders aufwachsen und auch vom Schulsystem ganz anders aufgenommen werden, … Ich habe das schon erlebt in Stendal mit meinem damaligen besten Freund, also so einer meiner ersten Freunde, der hieß Siggi Fesike, der war viel stärker als ich, der war viel schlauer als ich, der wusste mit dem Leben viel besser zurechtzukommen als ich, und der stammte aus einer Arbeiterfamilie. Und als wir dann in die Schule mussten, da kam der Siggi in eine Hilfsschule. Und das habe ich nie kapiert. Ich fand das einfach komisch, dass der mit dem, was er alles konnte, der hat mich natürlich auch oft verprügelt, also der war auch stärker als ich, aber dass ausgerechnet der Siggi auf eine Hilfsschule kam.

"Muss es denn gleich die Weltrevolution sein?"

Herzing: In Ihrer Biografie schreiben Sie, Sie sind kein Vollblutrevolutionär geworden. Ich habe da so ein Zitat gefunden, Sie bezeichnen sich da als „windigen Genossen, der mit dem Heine in der Tasche, der Gitarre unter dem Arm bei den Griechen rumhing“.
Vahle: Ja. Also für mich war Literatur, Poesie, Philosophie ein ganz wichtiger Impuls, auf die Welt zu schauen. Und da sieht man eben auch die Unterschiede, die es gibt. Aber man wird nicht sofort zum Aktivisten, der glaubt, er müsste die Revolution machen, beziehungsweise, wie es heute heißt, die Welt retten.
Herzing: Das heißt, mit den anderen im SDS haben Sie ein bisschen gefremdelt? Oder haben Sie mit denen schon was gemeinsam gemacht?
Vahle: Ja, ich habe oft, auch wenn die so geredet haben, habe ich oft gedacht: Geht es auch eine Nummer kleiner? Also muss es denn gleich die Weltrevolution sein?
Herzing: Die wurde damals in Gießen geplant?
Vahle: Na sicher. Gießen war das Zentrum. Nein, wir waren eigentlich so ein Ableger von Frankfurt.
Herzing: Wie sah Ihre politische Aktivität da aus, was haben Sie da gemacht?
Vahle: Na ja, der SDS, ich habe ja zuerst in Frankfurt studiert, und da hingen so Plakate rum, da war der SDS, ich weiß es gar nicht, aber noch mehr so auf Mao-Kurs. Da fanden dann immer so Veranstaltungen zu China statt. Dann hat die Uni Frankfurt oder der Studentenrat den Biermann eingeladen, und da bin ich auch hingegangen, und das hat mich ganz wesentlich motiviert, weil ich merkte, dass beim Biermann sehr differenzierte Aussagen gemacht werden, dass da sehr gute Geschichten erzählt werden und dass er das große Deklamatorische nur teilweise hat. Also er hat sich ja auch entwickelt. Später ging es dann auch in Bereiche, die ich nicht mehr so nachvollziehen konnte, weil er da meiner Ansicht nach immer den Mund zu voll genommen hat. Also das gefiel mir auch schon bei meinen SDS-Genossen nicht so gut.
Wolf Biermann sitzt mit Gitarre vor einem Mikrofon.
Der Sänger, Liedermacher und Lyriker Wolf Biermann in den 1970er-Jahren (picture-alliance / dpa / KPA)
Herzing: Aber trotzdem war Biermann jemand, den Sie bewundert haben?
Vahle: In seiner Anfangszeit ja.

"Ich habe die DDR kritisch-solidarisch gesehen"

Herzing: Und wie hat das Ihren Blick vielleicht auch auf die DDR verändert oder hat es Ihren Blick gar nicht verändert? Wie haben Sie die DDR gesehen damals?
Vahle: Ja, ich habe die DDR, wie soll ich das sagen, kritisch-solidarisch gesehen.
Herzing: Was bedeutet das?
Vahle: Das bedeutet, dass ich mir nicht gewünscht habe, dass es der DDR so geht, wie es ihr heute gegangen ist, sondern dass ich immer dachte, die müssten es schaffen, einen humanen, demokratischen Sozialismus gesellschaftlich durchzusetzen, ja, auch im Sinne von Christa Wolf oder … Das war so meine Sicht auf die DDR.
Herzing: Auch nach der Ausbürgerung von Biermann und zig anderen Künstlern noch? War das nicht ein Moment, wo man überlegt hat, …
Vahle: Na ja, das gehörte dazu, das gehörte dazu, diese Autokratie, die sich in der DDR verhärtet hat, aber dann auch die große humane Substanz, die dann noch da drunter war. Und das ist schade, dass da jetzt durch die jetzige Entwicklung in so eine Richtung gelaufen wird, dass das nicht gerade eine gute Entwicklung dieser Substanz genommen hat. Das finde ich schade.
Herzing: Was meinen Sie damit genau?
Vahle: Na ja, dass zum Beispiel jetzt in der ehemaligen DDR die AfD sehr stark ist.

Gewalt "habe ich abgelehnt, das war nicht mein Ding"

Herzing: Wenn wir zurückgehen auf die Achtundsechziger: Sie haben an Demos teilgenommen, aber nicht in vorderster Front.
Vahle: Na, ich war bei einer ganzen Reihe von Anti-Vietnam-Demonstrationen dabei, ja, haben ja auch einmal einen Polizisten zusammengeschlagen, der vorher einige Demonstrantinnen und Demonstranten verprügelt hat und wo ich dann im Affekt gehandelt habe. Das habe ich ja auch in meiner Biografie geschrieben. Das war schon eine Sache, die mich sehr, sehr beschäftigt hat.
Herzing: Weil es Ihnen im Nachhinein leid getan hat oder …
Vahle: Nee, es hat mir nicht leid getan, das war es, weil ich habe das gesehen, wie die Menschen verprügelt worden sind, und da ist in mir so ein Instinkt erwacht: Dem muss ich jetzt auch eins verpassen. Und das hat mir nicht leid getan. Ich bin dann gelaufen, gelaufen, gelaufen, ich wollte nicht erwischt werden, weil wenn ich erwischt worden wäre, dann wäre es mir nicht so gut gegangen. Ein SDS-Genosse, sage ich jetzt mal, von mir, der hatte einem Polizist auf den Arm gehauen und der sollte sechs Monate kriegen. Ja.
Herzing: Wie war allgemein Ihr Verhältnis zu Gewalt damals? Das wurde ja viel diskutiert. Darf man mit Gewalt gesellschaftliche Veränderungen herbeiführen? Wie haben Sie das betrachtet?
Vahle: Das habe ich abgelehnt, das war nicht mein Ding. Aber ich habe auch gesehen, dass es Gewalt gab, zum Beispiel in den Kolonien, die ganzen kolonialen Befreiungskämpfe oder auch die Entwicklung von Kuba und so weiter, wo ich schon verstehen konnte, dass in der Geschichte Gewalt da ist und dass die auch ihre historische Bedeutung hat.

"Unsere Lieder waren dazu gut, so was wie eine humane, soziale Stabilität in den Menschen zu schaffen"

Herzing: Sie haben angefangen, als Musiker aufzutreten mit diesem Duo Ulli und Fredrik, wenn ich das richtig weiß.
Vahle: Ja.
Herzing: Ich habe auch ein Video gesehen von den Essener Songtagen, da sind Sie 1968 gemeinsam aufgetreten, da waren Sie ziemlich wütend so in Ihrer Haltung und trotzig. War die Musik so Ihre Idee, wie Sie Veränderung politischer Art, gesellschaftlicher Art herbeiführen können? War das Ihr Ziel? Oder war das einfach nur Ausdruck sozusagen Ihres eigenen Befindens?
Vahle: Nee, das war schon ein Versuch, bestimmte gesellschaftskritische Bewegungen durch Musik und durch Lieder zu unterstützen, also Studentenbewegung, Anti-Vietnam, Anti-Notstandsgesetze und das alles.
Herzing: Hat es funktioniert? Also was hat die Musik dort speziell gemacht mit den Leuten?
Vahle: Na ja, ich kriege heute noch Briefe von mittlerweile Eltern, die mir sagen, dass diese Lieder ganz wesentlich dazu beigetragen haben, dass sich in diesen Menschen so eine Art soziales Bewusstsein und ein Gerechtigkeitsbewusstsein heranbilden konnte. Und das freut mich natürlich, wenn ich solche Resonanzen kriege.
Herzing: 1968 wird heute so als Kulminationspunkt betrachtet, die Ermordung Martin Luther Kings, die Proteste gegen den Vietnamkrieg, Prager Frühling, der Anschlag auf Rudi Dutschke. Wie haben Sie dieses spezielle Jahr in der deutschen Geschichte und auch in der internationalen Geschichte, wie haben Sie das in Erinnerung? Wo waren Sie da, was haben Sie gemacht – außer bei den Essener Songtagen?
Vahle: Wir haben unsere Lieder geschrieben. Die waren keine unmittelbaren Kommentare zu diesen Ereignissen, die waren aber dazu gut, so was wie eine humane, soziale Stabilität in den Menschen zu schaffen, so würde ich es heute sehen. Das waren keine Agitationslieder.
Herzing: Damals hat man gesagt, das Private ist politisch, und die Studenten sind sehr stark da rangegangen, vor allem die NS-Vergangenheit aufzurollen und auch die Geschichte der eigenen Familie aufzurollen.
Vahle: Ja.

Die NS-Vergangenheit des Vaters

Herzing: Wie war das bei Ihnen? Ihr Vater war Wehrmachtssoldat. Wie haben Sie Ihren Vater konfrontiert und haben Sie ihn überhaupt konfrontiert?
Vahle: Na ja, wir hatten ganz heftige Gespräche in der SDS-Zeit. Also es war mal so heftig, dass er sagte, so, jetzt gehe ich mit einem Rechtsanwalt gegen dich vor.
Herzing: Warum das?
Vahle: Weil meine Eltern hatten, glaube ich, Wandteppiche gemacht für die BASF, und die BASF war irgendwie in dem chemischen Krieg in Vietnam beteiligt. Und ich habe ihm praktisch vorgeworfen, er würde da irgendwelche kriegstreibenden Kräfte durch seine Kunst unterstützen. Und da ist er also ganz, ganz böse geworden. Und das war aber ein Konflikt, den haben wir später auch beilegen können.
Herzing: Wie hat er seine eigene Rolle in der NS-Zeit gesehen?
Vahle: Mein Vater war Frontmaler. Der war bei der Luftwaffe, und der war für seine künstlerische Arbeit als Frontmaler freigestellt. Und dann konnte er während der Einkesselung von Leningrad, Petersburg, wie es heute heißt, konnte er malen. Und er hat eben keine Propagandabilder gemalt, er hat russische Bauern gemalt, er hat Landschaften gemalt, und ab und zu sah man darin mal ein Geschütz oder einen Soldatengraben oder so was, aber es gab keine unmittelbaren Propagandathemen, die er jetzt in seiner Malerei aufgegriffen hätte.
Herzing: Haben Sie ihn gefragt nach seinem Verhältnis zur NS-Ideologie?
Vahle: Ja. Er war so immer auf dem romantischen Rückzug vor der Ideologie. Er war nicht offiziell dagegen, auch nicht offiziell dafür, aber er hatte so den Bereich der Kunst, und dahin hat er sich zurückgezogen, selbst als er als Soldat da in Leningrad lag, und da sind ja, ich weiß nicht, mehrere Millionen Menschen verhungert. Also das war schon ein Thema, da musste er ziemlich weggeguckt haben oder er musste das nicht an sich rangelassen haben. Und ich habe ihn dann auch gefragt danach, wir haben darüber geredet, und ich bin dann selber nach Leningrad damals noch gefahren an die Stellen, wo mein Vater als Soldat aktiv war, und habe ihm auch davon erzählt und so weiter, dass ich mich damit beschäftige, was da alles passiert ist. Und da ist ja auch dieses eine Lied entstanden, „Tanja“, die lebte in Leningrad, was für mich heute noch ein sehr berührendes Lied ist. Ich habe da so einiges aus meinem Vater rausgeholt, aber insgesamt war er doch eher schweigsam.

"Ich war ein gemäßigter Frauenheld"

Herzing: Ein anderes Großthema der Achtundsechziger war Sexualität und sexuelle Befreiung, später dann auch die Frauenbewegung und Emanzipation. In Ihrer Biografie sagen Sie, das war schon ein wichtiges Thema für Sie, aber Sie schauen auch relativ selbstkritisch da drauf, Sie sagen, Sie waren eher ein Frauenheld und weniger an den Bedürfnissen der Frauen orientiert.
Vahle: Na ja, ich war ein gemäßigter Frauenheld, der aber durchaus Lieder mit feministischer Tendenz geschrieben hat. Also ich weiß, auf unsere erste Schallplatte, da kam Kritik von feministisch eingestellten Frauen, und die haben rausgekriegt, da kommen hauptsächlich Jungs vor und Männer, und selbst in unserem großen Solidaritätslied „Die Rübe“, da sind es die Jungs, die eigentlich die Aktiven sind, und das Mädchen kommt erst später dazu. Also habe ich in der nächsten CD, Quatsch, CD, in der Schallplatte, auf der „Anne Kaffeekanne“ war, da kamen dann hauptsächlich Mädchen drin vor.

Revolutionäre Landpartie

Herzing: Sie sind in den 70er-Jahren mit Freunden dann aufs Land gezogen, haben eine WG gegründet, hier in diesem Ort, in Salzböden. Warum haben Sie sich so zurückgezogen, aufs Land zurückgezogen? War das Stadtflucht?
"Ich habe immer noch Riesenspaß an der Musik" - Vahle im Interview 2012
Vahle: Wir haben uns nicht aufs Land zurückgezogen, wir wollten, ich sage es jetzt mal ganz agitatorisch, wir wollten die Revolution aufs Land tragen. Und damals war das revolutionäre Subjekt schon nicht mehr die deutsche Arbeiterklasse, sondern das waren die Kinder. Und deswegen waren unsere frühen Kinderlieder auch zum Teil durchaus im agitatorischen Sinne politisch, weil wir da noch so eine Hoffnung hatten, dass sich bestimmte politische Reformen, bestimmte soziale Reformen viel einfacher durchsetzen würden, als es sich jetzt herausgestellt hat so.
Herzing: Also quasi eine bessere Gesellschaft durch bessere kleine Menschen, die große Menschen werden und dann das Neue schaffen?
Vahle: Genau, ja, ja. Also wir haben dann auch schon eher Marcuse gelesen und nicht mehr Marx. Und da spielten halt die sozialen Randgruppen eine große Rolle.
Herzing: War das so eine bewusste Entscheidung, dass Sie gesagt haben, ich mache jetzt keine Musik mehr für Erwachsene, sondern ich mache die jetzt für Kinder und für mein neues revolutionäres Subjekt?
Vahle: Das war so: Wir suchten einen Ort zwischen Gießen und Marburg, und da bot sich Salzböden an, das liegt so ungefähr in der Mitte. Hier haben wir dann auch ein Haus gefunden und wollten eine WG machen, unsere politischen Ideen an die Landbevölkerung vermitteln. Dann hat sich herausgestellt, dass das alles nicht so geht, und da waren wir schon relativ resigniert.
Herzing: Warum das ging das nicht so?
Vahle: Na ja, das wissen Sie doch selber, hm? Das ist jetzt eine Frage. Wir leben heute in einer Gesellschaft, wo sich gezeigt hat, dass das nicht ging, oder?
Herzing: Mich interessiert, wie die Salzbödener auf Sie reagiert haben, was Sie versucht haben und wie die auf Sie reagiert haben.
Vahle: Ja. Also das ist eine ganz schöne Geschichte. Die haben das Riesenplakat von Marx in unserem Zimmer gesehen und das konnte man vom Frisör aus sehen. Und dann haben die Salzbödener gesagt: „Die sind nicht Korporierte, die sind vom Mao.“ Student war damals für einen Landbewohner, das waren die Korporierten (in Verbindungen organisierte Studenten, d. Red.). Das kannten sie aus Gießen von den Verbindungen her. Und die haben sogar mal ein Studentenstück hier in Salzböden gespielt, wo auch ein Student auftrat, natürlich als Korporierter. Und dann hat der damalige SPD-Vorsitzende Hans Steiß, der hat den gespielt. Und diese SPD-Genossen, die saßen im Nebenhaus beim Frisör und tranken Bier und ließen sich die Haare schneiden und diskutierten. Und jetzt waren da diese komischen Studenten ins Nebenhaus eingezogen, und da wurden die neugierig, und dann haben sie sich bei uns eingeladen.
Herzing: Wie war das?
Vahle: Dann kam die ganze SPD-Ortsgruppe an, wir haben uns alle um einen runden Tisch gesetzt, und dann ist einer aufgestanden und hat eine Rede gehalten. Und wir konnten keine Reden halten. Ich weiß noch, ich habe mir da so eine Rede zusammengestottert. Na, kurz und gut, es gab dann einen Gedankenaustausch. Wenn man das so thematisch zusammenfassen möchte, müsste man sagen, die Salzbödener haben uns ganz gleich klargemacht: Sie vertreten den realen Sozialismus, die SPD, Linke, SPD, und die Studenten vertreten den theoretischen Sozialismus, die haben sich das alles ausgedacht, und wir machen das praktisch, wir fahren nämlich jedes Jahr einmal in die DDR rüber und reden da auf irgend so einer Arbeiterkonferenz mit anderen Arbeitern in der DDR. Das war damals schon eine eher sozialdemokratische Sache, auch in der DDR, das war schon eher so eine Opposition zur SED, die die da mit ihren Genossen praktiziert haben in der DDR. Das finde ich auch eine ganz interessante Sache. Und die wollten eben wissen: Was haben die Studenten in ihren Köpfen? Was ist übrig geblieben davon? Es gab, heute würde man sagen, einen inoffiziellen Arbeitskreis, der sich immer sonntags gegen späten Nachmittag in der Dorfkneipe traf und wo dann politische Themen diskutiert wurden. Also, da ist auch sehr viel zwischen den Salzbödenern und uns hin- und hergegangen. Das heißt, wir haben von den Salzbödenern gelernt, und die Salzbödener haben einiges von uns gelernt. Und wir haben dann gleichzeitig in der Schule für Lernbehinderte … Die suchten Gruppenleiter. Und das war eine wunderbare Möglichkeit für unsere WG, sich als ganze da in Lollar in der heutigen Bettina-von-Arnim-Schule als Gruppenleiter zu betätigen. Also die Schulleiterin, das war eine Schwester von der Ulrike Meinhof, und die war sehr sozial eingestellt und hatte auch sehr gute pädagogische Ideen, und das passte genau zu unserem Konzept. Und in dem Konzept haben wir dann unsere ersten politischen Kinderlieder, so nenne ich sie jetzt mal, geschrieben.

"Den Kindern bestimmte Ideologien durchschaubar machen"

Herzing: Die Themen von Ihren Kinderliedern waren ja also nicht immer, aber zum Teil auch sehr politisch. Da ging es um Militarismus, um Arbeitslosigkeit, hohe Mieten, Ausländerfeindlichkeit. Und Sie schreiben in Ihrer Biografie ja auch, dass Sie Kinder sozusagen als revolutionäres Subjekt ausgemacht haben. Ich war mir nicht ganz sicher, ob Sie das sozusagen mit so einer gewissen Selbstironie geschrieben haben, oder ob Sie tatsächlich gedacht haben, wir müssen diese Kinder sozusagen auf den Klassenkampf vorbereiten. Haben Sie das so gesehen damals?
Vahle: Nein. Also da haben Sie mich falsch verstanden. Ich komme ja von Heinrich Heine her, und bei Heinrich Heine ist Ironie sehr, sehr groß geschrieben. Und wenn ich jetzt von revolutionärem Subjekt rede, dann benutze ich da einen Jargon, der mir schon damals suspekt war, …
Herzing: Was wollten Sie dann?
Vahle: … aber wo ich nicht sage, das war ganz schlimm, dass es diesen Jargon gab, den gab es halt, ja. Und ich habe ja auch Politologie studiert, und da neigt man schon manchmal zu solcher Art von Begriffsbildung. Das war aber vom … Beim Frankfurter SDS oder so, da hat das noch ganz andere Blüten getrieben, da war der Gießener SDS eher provinziell. Und wir hatten eben eine sehr starke Griechenfraktion, und mit denen war ich immer zusammen, weil bei den Griechen Kultur und Politik doch eine sehr große Einheit bildeten, und da haben wir als Deutsche die oft bewundert. Also jedenfalls viele meiner SDS-Genossen, die hatten so ein sehr fast maoistisch geprägtes, kulturkritisches Verhältnis. Also da durfte eigentlich kein konventionelles Lied mehr gesungen werden. Und dann haben wir mal auf einer Vietnam-Veranstaltung … Da wollten wir ein Lied von Biermann singen, und das mussten wir dem SDS vorsingen, und da waren einige dabei, ja, das ist doch Faschingsgeklampfe, das ist keine kulturrevolutionäre Kunst. Also da stand ich dann schon eher auf einer, wenn man so will, konservativen Seite.
Herzing: Aber wenn Sie die Kinder nicht sozusagen zu kleinen Revolutionären ausbilden wollten, worum ging es Ihnen dann? Was wollten Sie gern bei den Kindern erreichen mit Ihrer Musik?
Vahle: Na ja, das, was heute auch für mich noch einen Wert hat für Kinder, nämlich das, was man als soziale und politische Aufklärung bezeichnen kann, ja. Das heißt, dass man den Kindern auch bestimmte Ideologien durchschaubar macht, dass man Geschichten erzählt, die in ihnen so was wecken wie ein soziales und auch geistiges Gerechtigkeitsempfinden, und dass man ihnen von früh auf sagen kann, die Lieder und die Gedichte und die Geschichten, die ihr jetzt hört, das ist keine reine Unterhaltung. Die sollen natürlich auch unterhaltsam sein, aber es kommt auch drauf an, dass euch diese Geschichten und Lieder berühren und dass sie euch erfassen, wenn ihr euch denn erfassen lasst. Und das ist für mich immer noch eine Aufgabe, mit meinen Themen jetzt an Kinder ranzukommen. Bei jedem Konzert, auch heute, stellt sich die Aufgabe von Neuem.
Herzing: Trotzdem gab es ja immer wieder auch so Kritik, das wäre Agitprop, was Sie da gemacht haben. Wie gehen Sie damit um und wie schauen Sie da drauf, auf diese Kritik?
Vahle: Na ja, wir haben so Briefe bekommen, studieren Sie weiter auf Kosten unserer Steuergelder, aber lassen Sie die Hände von der Schulmusik, von der Sie, wie Ihre letzte Schallplatte zeigt, weniger als nichts verstehen. Wie sind wir damit umgegangen? Wir haben solchen Leuten geschrieben und haben ihnen versucht, unsere Ziele und unsere Arbeitsweisen ein bisschen näherzubringen. Aber da ist nie eine Antwort gekommen.

"Keine Entweder-oder-Lieder, sondern Nach-und-nach-Lieder"

Herzing: Wie wichtig war Ihnen selber, dass die Kinder verstehen, was Sie in ihren Texten ausdrücken? Das war ja schon relativ anspruchsvoll manchmal.
Vahle: Ja, ja. Na ja, da würde ich sagen, die Lieder sind keine Entweder-oder-Lieder, sondern Nach-und-nach-Lieder. Das heißt, die Lieder ermöglichen den Kindern nach und nach einen Einstieg in diese Themen, wenn das auch durch andere Dinge, durch konkrete Erfahrungen der Kinder oder auch durch Geschichten oder durch Gespräche mit den Eltern flankiert wird. Also da ist das einzelne Lied kein einsamer Impuls, sondern er ist so etwas, was immer anderen Dingen verbunden sein muss, damit es wirksam werden kann.
Herzing: Wo verläuft für Sie da die Grenze? Sie haben vorhin das Lied „Tanja“ angesprochen, wo es um ein Mädchen geht, dessen ganze Familie während der Belagerung von Leningrad im Krieg stirbt, und am Schluss stirbt sie auch selbst. Ist das richtig, Kinder damit zu konfrontieren?
Vahle: Na ja, ich überlege mir ja vorher immer selber, wem ich wann das Lied singen kann. Und das Lied ist ein sehr realistisches Lied, das heißt, da wird den Kindern überhaupt nichts vorgemacht. Aber es gibt ein bestimmtes Alter und bestimmte Gefühlslage bei Kindern, wo ich dieses Lied eben nicht singen würde.
Herzing: In den 70er-Jahren ging es viel in der Pädagogik um die Frage, wie man Kinder emanzipieren kann, wie sie sich zu selbstständigen Menschen und möglichst frei entwickeln können, jedenfalls war das so der Geist der Achtundsechziger, aus der sich dann die antiautoritäre Erziehung entwickelt hat. Haben Sie sich damit beschäftigt, und war das was, was auch sozusagen Eingang in Ihre Musik gefunden hat? Oder hat sich Ihre Musik eher natürlich entwickelt und Sie haben sich da jetzt gar kein großes Konzept gemacht, wie kann ich da die Kinder sozusagen darüber emanzipieren?
Vahle: Ja, das gab so unterschiedliche Phasen. Wir haben manchmal sehr viel Literatur gelesen dazu und auch entsprechende Lieder geschrieben, aber manchmal fehlte das völlig, da haben wir uns mehr auf unsere Kontakte mit den Kindern verlassen, auch auf Gespräche, auf Impulse, die von den Kindern kamen beziehungsweise die sich entwickelten, wenn wir in der Schule unterwegs waren und haben mit den Kindern geredet.
Herzing: Aber im Prinzip war das so Ihre Idee und entsprach Ihren Vorstellungen, die antiautoritäre Erziehung? Das konnten Sie unterschreiben?
Vahle: Ja, das war so eine Welle, wo das ging, und zum Teil auch in Formen geführt hat, wo das eben nicht mehr ging. Aber es gibt so einen, wie soll ich sagen, so einen humanen sozialen Bodensatz dieser Zeit, der meiner Ansicht nach heute noch existiert und der ist auch für mich wertvoll, obwohl er inzwischen auch überflutet wird von bestimmten Formen von Popmusik und von der ganzen digitalen Entwicklung oder wo es diesen Impulsen schwer gemacht wird, noch weiter auf Kinder einzuwirken.
Herzing: Sie haben gerade gesagt, die antiautoritäre Erziehung hat Ihrer Meinung nach auch Formen angenommen, wo es nicht mehr ging. Was fanden Sie, wo ging es nicht mehr?
Vahle: Na ja, das sind die Dinge, die man in allen Zeitungen lesen kann, die auch sehr breitgetreten worden sind später, auch in der ganzen Debatte um Sexualität, das ist so ins allgemeine Bewusstsein eingegangen. Dieser humane Bodensatz, der da da war und der heute noch wichtig ist, der lässt sich medial nicht so reißerisch vermitteln. Das ist mehr so eine stille Sache. Aber die ist auch noch da. Und da möchte ich mich auch für stark machen.
Herzing: Wie haben Sie diese Debatte, die sich maßgeblich 2013 eigentlich entsponnen hat, die auch viel mit der Publikation von Daniel Cohn-Bendits „Der große Basar“ dann entsponnen hat, wo dann diese Pädophilie-Debatte bei den Grünen und den neuen sozialen Bewegungen losging, wie haben Sie das wahrgenommen? War das für Sie so ein bitterer Moment?
Vahle: Ja, ich habe gemerkt, dass damit eigentlich die ganze Bewegung diffamiert werden sollte. Das ging eigentlich nicht um Cohn-Bendit, das ging um die wirklich freiheitlichen Impulse, die damals da waren. Ich weiß zum Beispiel, es gab damals ein Kindertheater, die „Rote Grütze“.
Herzing: In Berlin.
Vahle: In Berlin. Und die haben so ein Aufklärungsstück geschrieben. Oder nehmen Sie das Grips-Theater in Berlin. Das sind ja auch Impulse von dieser humanen Basis, die sich über die Jahrzehnte gehalten haben und die ganz, ganz wichtig sind. Und wenn man die jetzt alle in einen Topf schmeißt, dann wird man der Sache meiner Ansicht nach nicht gerecht.
Herzing: Das andere gab es auch, und es war wichtig, da ein Schlaglicht drauf zu werfen, oder nicht?
Vahle: Ja, klar. Aber wie gesagt, ich habe eher das Gefühl, dass da das Ganze mit gemeint war, weil es gibt natürlich auch die anderen, so die konformistischen Tendenzen in der Erziehung, dass Kinder eben in gewisser Weise auch abgerichtet werden sollen und durch bestimmte Medien gefesselt werden sollen und sich dann nicht mehr so frei entwickeln können.

Neue Ansprüche, neue Lieder

Herzing: Das Ende der DDR und des Ost-West-Konflikts, wie hat sich das auf Ihre Musik ausgewirkt? Sie waren vorher, das ist jetzt mein Empfinden, sehr sozialkritisch, gesellschaftskritisch, politisch in Ihren Texten, und Sie sind aber dann übergegangen zu Texten, wo es mehr um Bewegung, Sinneswahrnehmung geht. Hatte das auch was mit der Veränderung, mit dieser massiven Veränderung der politischen Verhältnisse zu tun?
Vahle: Weiß ich gar nicht. Also ich hatte das Gefühl, mein ganzes Angebot ist damals ganzheitlicher geworden. Also, ich habe solche Lieder wie „Ayse und Jan“ oder den „Friedensmaler“ und so weiter, das habe ich praktisch bis zum heutigen Tag weitergesungen und singe ich auch heute noch, oder auch das „Helgoland“-Lied, wo es auch um politische Konflikte geht oder so. Die Lieder sind zum Glück nicht verschwunden. Oder auch das, was ich zu Südamerika gemacht habe, zu Nicaragua, „Tamaro“, diese Dinge, wo es um, in der damaligen Sprache ausgedrückt, um Dritte-Welt-Thematik ging, die sind nicht verschwunden. Aber andere Lieder, wo es mehr um Bewegung, Wahrnehmung, auch um geistige Themen, um Spiritualität ging, dieser ganze Bereich ist jetzt dazugekommen. Und ich bin eigentlich froh, dass das alles so erhalten geblieben ist, ja, dass ich heute noch die alten politischen Lieder singen kann, ohne rot zu werden. Na ja, ein bisschen rot war ich schon. Also vielleicht werde ich jetzt auch ein bisschen rot, wenn ich das sage, so.
Herzing: Auf eine andere Art und Weise ist Ihre Musik vielleicht manchmal politischer gemacht worden, als Sie ursprünglich mal gedacht war. Es gab so eine Diskussion um ein sehr bekanntes Lied von Ihnen, den „Katzentatzentanz“, wo es dann hieß, die Katze tanzt sozusagen nur mit ihrer eigenen Art, nämlich mit dem Kater, und allen anderen Tieren schlägt sie den Tanz aus. Das wurde dann als rassistisch empfunden. Wie erinnern Sie sich an diese Diskussion, wie sind Sie damit umgegangen?
Vahle: Na ja, das Prickelnde beim Tanzen ist ja, dass es auch was Geschlechtliches hat, ja, und Tanz ist ja auch immer eine Form, wo die Geschlechter zusammenfinden. Und kleine Katzen kommen nun mal daher, dass der Kater mit der Katze zusammenfindet. Mit einem Igel hat der eher Schwierigkeiten. Aber immerhin ist es in meinem Lied so, dass die erst mal tüchtig zusammen tanzen und dadurch auch ihre Unterschiede kennenlernen. Insofern geht diese Kritik an bestimmten elementaren Dingen des menschlichen Lebens oder des menschlichen Lebens in Tiergestalt etwas vorbei.
Der Liedermacher Fredrik Vahle 2003 in Berlin
Der Liedermacher 2003 in Berlin (imago / gezett)

"Die Erwartungen an Kinder haben zugenommen"

Herzing: In den Siebzigern und Achtzigern ging es viel um Emanzipation und das Ernstnehmen von Kindern. Wie sehen Sie das heute? Werden Kinder heute für voll genommen in unserer Gesellschaft? Sind die frei von Zwängen und Erwartungen, oder freier, sagen wir mal so?
Vahle: Also ich denke mir, die Abhängigkeit, die Zwänge und die Erwartungen an Kinder haben zugenommen. Ich erlebe die Kinder heute in dem jedenfalls, wie ihnen die Gesellschaft begegnet, eher als … Ja, sie haben nicht mehr so viele Möglichkeiten zu wählen. Sie haben scheinbar eine große Möglichkeit, wenn sie ihr Smartphone in der Hand haben, aber wenn man sich die konkreten Kinderaktivitäten anschaut, dann ist es doch sehr schwierig. Also ich habe hier an der Salzbödener Schule … Da ist im letzten Jahr so ein ganz interessantes Experiment gelaufen, das war auch zur Corona-Zeit, und da habe ich mich im Wald versteckt und habe Flöte gespielt und die Kinder sind dann zu so einer Art Wandertag aufgebrochen und dann durften die mich suchen. Und dieser Abenteuerspaziergang, als sie mich dann gefunden haben und ich habe da so eine kleine Performance … war für die Kinder so ein riesiges Erlebnis, ich sage es mal jetzt, so in ihrem digitalen Alltag und dem Corona-Alltag, also, das war für mich auch so berührend, da sind mir fast die Tränen gekommen. Und auch bei den Kindern, die normalerweise für so einen Wandertag gar nicht so begeistert sind. Aber das war dann plötzlich diese Flöte, die sie da gefunden haben, und die Kinder denken heute noch, ich würde da oben im Wald wohnen, und fragen mich danach. Also da habe ich gemerkt, dass solche Sachen in unserer Gesellschaft bitter, bitter notwendig sind.
Herzing: Was denken Sie, was macht Kinder in der Corona-Pandemie stark? Wie kann man die stützen?
Vahle: Also, die Lieder und die Geschichten, das merke ich an der Resonanz von den Kindern in den jetzigen Konzerten, sind ganz, ganz wichtig. Das sind keine besonderen Lieder, sondern das sind Lieder mit den Intentionen, die ich vorher schon dargestellt habe. Die sind nur viel, viel wichtiger geworden. Und das ist für mich ganz berührend, in den Kinderkonzerten, die Kinder, die sitzen dann so in kleinen Familiengruppen, die müssen Distanz halten und so weiter, welche Freude und auch welche Innigkeit bei diesen Kindern da ist, die es dann endlich geschafft haben, nach mehrmaligem Anlauf, dann in so ein Konzert zu kommen.
Herzing: Herr Vahle, vielen Dank für das Gespräch!
Vahle: Schon zu Ende?
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.