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Polens früherer Botschafter
Janusz Reiter: Es gibt ein deutsches Wunschdenken im Umgang mit Russland

Janusz Reiter war lange polnischer Botschafter in Deutschland. Im Dlf bescheinigt er Deutschland eine Tradition der Selbstüberschätzung, es könne Einfluss auf Russland nehmen. Hintergrund dieses Wunschdenkens seien auch Geschäftsinteressen.

Janusz Reiter im Gespräch mit Johanna Herzing |
Janusz Reiter 2014 in der ZDF-Talkshow "maybrit illner"
Janusz Reiter 2014 in der ZDF-Talkshow "maybrit illner" (picture alliance / Eventpress)
Als Janusz Reiter mit 38 Jahren Botschafter der Republik Polen in Deutschland wurde, war er einer der Jüngsten im Bonner Diplomatenkreis. Dazu ein Quereinsteiger, denn er hatte nie eine diplomatische Ausbildung erhalten. Sein Amtsantritt war im Sommer 1990. Berlin war zu der Zeit noch nicht Hauptstadt, Sitz der Botschaft war Köln. Reiters Heimatland, Polen, hatte da gerade auf friedliche Weise den Kommunismus abgeschüttelt, den Anfang vom Ende des Ostblocks eingeleitet. Manchem deutschen Zeitungsleser war Reiters Stimme wohl schon in den 80er-Jahren bekannt, wenn auch unbewusst: Unter Pseudonym hatte er, damals noch Journalist in Warschau, auch für deutsche Zeitungen geschrieben.
Am Nachbarland, so erzählt er im Zeitzeugengespräch mit dem Deutschlandfunk, hätten ihn besonders die historischen Brüche und die schwierige deutsch-polnische Geschichte interessiert. Der deutsch-polnische Grenzvertrag und der Nachbarschaftsvertrag, 1990 und 1991 geschlossen, zeugten von diesen Brüchen der gemeinsamen Geschichte. Neben der deutsch-polnischen Annäherung war es die beginnende Integration in die Europäische Gemeinschaft, später Europäische Union, und in die NATO, die Reiters Amtszeit bis 1995 prägte. Von 2005 bis 2007 vertrat er sein Land schließlich als Botschafter in Washington.
Heute reist der bald 70-Jährige Janusz Reiter als Gründer des Warschauer „Zentrums für Internationale Beziehungen“ quer durch Europa. Für den Deutschlandfunk machte er Halt im Berliner Funkhaus.

Polen, Deutschland und Russlands Krieg gegen die Ukraine
Johanna Herzing: Herr Reiter, Zeitzeugengespräche im Deutschlandfunk beginnen sehr häufig mit einem Rückblick in die 40er- und 50er-Jahre, also die Jahre, in denen viele von unseren Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartnern geboren wurden oder Kinder gewesen sind. Seit dem 24. Februar 2022 ist das ein bisschen anders. Der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz hat es Zeitenwende genannt, den Überfall Russlands auf die Ukraine. Wie geht es Ihnen, wie sehr hat sich ihre Welt oder Ihre Sicht auf die Welt seit dem 24. Februar verändert?
Janosz Reiter: Ich habe eine Zeitenwende erlebt und dachte, eine Zeitenwende reicht für ein Leben. Das war die Zeitenwende von 1989. Und jetzt weiß ich, es werden wohl zwei sein. Noch ist es schwer zu sagen, welche eine tiefere Wirkung haben wird, denn wir wissen noch nicht, wie diese Zeitenwende… die hat ja erst begonnen, es ist ja nicht ein Tag oder eine Woche, in der die Zeitenwende geschehen ist, sondern das ist ein offener Prozess, während die andere Zeitenwende vollzogen ist. Und so, wie für die Generation meiner Eltern alles vor dem Krieg oder nach dem Krieg stattgefunden hat, so war in meinem Leben immer alles vor '89 und nach '89. Ob ich jetzt irgendwann auch oder meine Kinder sagen müssen, das war vor 2022 und nach 2022, das weiß ich nicht.
Herzing: Was würden Sie sagen, wie sehr hat Sie der 24. Februar und das, was an diesem Tag geschehen ist, überrascht?
Reiter: Das hat mich schon überrascht, weil ich einen Krieg in diesem Umfang und in dieser Intensität und in dieser Dramatik nicht erwartet hatte. Irgendetwas wie einen Krieg, damit habe ich schon gerechnet, aber ich muss gestehen, eher im Sinne von so einigen militärischen Aktionen, aber nicht so, wie ein Krieg aussieht.

Polen und der Ukrainekrieg

Herzing: Ich stelle mir vor, Sie leben ja in Warschau, das ist nicht weit nach Kaliningrad, nicht weit nach Belarus, nicht weit an die ukrainische Grenze. Ich stelle mir vor, dass die Betroffenheit in Warschau und das persönliche Sicherheits- oder Unsicherheitsgefühl ein anderes ist als beispielsweise in Berlin oder in Köln. Stimmt das?
Reiter: Einerseits ja, andererseits: Ich höre, ich weiß nicht, ob das stimmt, dass viele Deutsche so Hamsterkäufe machen. Das gibt es in Warschau jedenfalls nicht, ich habe das jedenfalls nicht gesehen.
Herzing: Wie erklären Sie sich das?
Reiter: Ich will nicht behaupten, dass es da irgendwie einen grundsätzlichen Unterschied gibt. Es sind auch viele Menschen aus der Ukraine in Polen, auch in Warschau, man hört auf den Straßen viel Ukrainisch. Das heißt, dadurch sind das keine Nachrichten aus irgendeinem fernen Land, sondern das ist in der unmittelbaren Nähe, dann weiß man auch schon zu unterscheiden, was in der Ostukraine stattfindet und was in der Westukraine stattfindet. Wenn in der Westukraine in der Nähe von Lemberg zum Beispiel etwas passiert, dann wird das sofort realisiert, aber es ist insofern keine Panik, trotzdem ist das das ständige Thema, der Krieg in der Ukraine und die Frage selbstverständlich, kann der Krieg Polen erreichen, aber Panik gibt es nicht.

"Eine Art Hybris in Deutschland, man könnte auf Russland Einfluss nehmen"

Herzing: Jetzt hat Polen – und Sie persönlich haben das auch getan – immer wieder vor Russland gewarnt beziehungsweise davor gewarnt, Russland zu unterschätzen. Ich will Sie jetzt nicht fragen, ob Sie sich freuen, dass Sie recht behalten haben, aber vielleicht haben Sie eine Erklärung dafür, warum man in Deutschland oder auch in anderen westeuropäischen Ländern diese Warnungen lange Zeit nicht so ernst genommen hat?
Reiter: Das ist eine komplizierte Frage, es gibt keine einfache Antwort auf diese Frage, glaube ich. Das Wichtigste scheint mir eine Art Hybris in Deutschland zu sein, die Überzeugung, dass man auf Russland Einfluss nehmen könnte. Die anderen könnten das nicht, aber Deutschland könnte das. Ich habe immer behauptet, dass man auf Russlands Verhalten von außen kaum Einfluss nehmen kann – und das galt nach meiner Meinung auch für Deutschland. Aber es gibt oder gab in Deutschland eben das Gefühl, wir haben da eine besondere Verantwortung, aber gleichzeitig haben wir eine besondere Kenntnis von Russland, wir haben das Vertrauen in Russland, insofern können wir dem Land helfen, sich zu wandeln. Ja, aber nur, wenn das Land das will. Und wenn das Land seit Langem schon ziemlich deutlich gemacht hat, dass es das nicht will, dann hat es wenig Sinn, immer wieder zu behaupten und zu glauben, dass man es trotzdem machen könnte. Das war Wunschdenken, also Hybris, Wunschdenken – und dieses Wunschdenken hatte auch einen praktischen Hintergrund: Es eröffnete den Weg zum Geschäftemachen mit Russland. Russland als Lieferant von billigem Gas und Erdöl, wie manche sagen, eine Tankstelle vor der Haustür. Und warum wurden Warnungen aus Polen oder aus den baltischen Ländern ignoriert? Weil es in Deutschland nicht die Tradition gibt, diesen Ländern zuzuhören, es ist eher eine Tradition, sagen wir, sich um diese Länder zu kümmern, aber ungefähr so, wir machen schon das Richtige.
Herzing: Also eine Form von Paternalismus?
Reiter: Eine Form von Paternalismus oder Maternalismus manchmal, wir machen schon das Richtige, die haben ein Problem, die sind überempfindlich, verstehen wir selbstverständlich, ginge uns nicht anders, aber wir verstehen Politik, die brauchen ein bisschen Psychotherapie, aber bis die so weit sind, machen wir schon die richtige Politik. Das Problem war, dass die meisten von denjenigen, die insbesondere in Polen versuchten zu warnen oder versuchten, die Dinge anders darzustellen, das nicht sehr geschickt gemacht haben.
Herzing: Inwiefern?
Reiter: Man muss, wenn man etwas erreichen will und nicht nur recht haben will, muss man das in einer Sprache kommunizieren, die den Partner erreicht. Und das ist in Polen nicht immer gelungen, und diese Warnungen hatten manchmal so einen Charakter, um Gottes Willen, das hätte man etwas differenzierter formulieren können und auch mit positiven Botschaften verbunden. Aber insgesamt stimmte das, muss ich sagen. Und auch zum Beispiel jetzt wird geplant ein sogenannter Einkaufspool der EU für Erdgas. Das hat Polen vor, ich weiß nicht, 15 Jahren vorgeschlagen. Das wurde nicht mal ernsthaft diskutiert. Ach, was reden die denn, die verstehen einfach nicht, wie das funktioniert, das geht nicht, so etwas geht nicht. LNG-Terminal, ach Quatsch, dann sollen die das doch bezahlen, weil bei uns wird das keiner machen, das ist zu teuer. Energiesicherheit haben wir. Russland war ein immer absolut verlässlicher Lieferant, und so weiter und so fort. Ich sage das ohne Schadenfreude. Es ist gut, wenn man in Deutschland sich dessen bewusst ist, dass man einen schweren Fehler gemacht hat, aber es ist noch wichtiger, jetzt so zu handeln, dass man nicht noch einen zweiten Fehler macht. Und es ist auch wichtig, in Polen so zu handeln, dass man auch eben einen Beitrag leisten kann und nicht nur sagt, haben wir nicht gesagt.

Polnisch-ukrainische Geschichte "ist keine Liebesgeschichte"

Herzing: Jetzt unterstützt Polen die Ukraine auf verschiedenen Wegen sehr stark, schon sehr früh hat Polen das getan. Welche Rolle spielt bei der Unterstützung und überhaupt bei der ganzen Haltung Polens gegenüber der Ukraine, welche Rolle spielt da Geschichte? Gibt es in Polen so eine Art Grundverständnis für die Situation der Ukraine aus der Geschichte heraus, dass man sagt, wir kennen das, dieses Eingeklemmt-Sein zwischen Großmächten, und unterstützen die Ukraine auch deshalb, weil wir diese Situation gut kennen?
Reiter: Es gibt bestimmt viel Verständnis und Sympathie für einen Underdog, für die Schwächeren, das spielt sicherlich eine Rolle, aber die polnisch-ukrainische Geschichte ist keine einfache. Das ist keine Liebesgeschichte, das Verhältnis war sehr kompliziert. Und ich glaube, die Ukraine wird auch in Polen jetzt ein bisschen neu entdeckt. Nicht nur, weil die so tapfer kämpfen, das weckt, glaube ich, großen Respekt, aber auch, wie intelligent sie kämpfen und sich wehren. Das ist vor allem Bewunderung und Respekt für die ukrainische Gesellschaft, die sich weitgehend selbst organisiert. Das ist das eben, was, ich glaube, an der Ukraine immer unterschätzt wurde, insbesondere in Westeuropa, die Reife der Gesellschaft. Der Staat war nicht so unbedingt ein perfektes Wesen mit all der Korruption, die es da gab, aber die Gesellschaft wurde reif. Und die Fähigkeit der Gesellschaft, sich zu organisieren, macht diese Gesellschaft jetzt so, wie man das jetzt so oft sagt, resilient.

Polnisch-ukrainische Geschichte

Herzing: Sie haben gerade schon das Trennende in der polnischen und ukrainischen Geschichte angesprochen. Ich nehme an, Sie denken vor allem an die Verbrechen der 1940er-Jahre, also das Massaker in Wolhynien, aber auch die Aktion Weichsel dann später. Dieses Trennende, ist das in einem Moment wie diesem selbstverständlich im Hintergrund oder sogar in Luft aufgelöst?
Reiter: Nein, aber das sind nicht nur einzelne Ereignisse, sondern das sind eigentlich Jahrhunderte der Geschichte, wo die Ukraine ihr Nationalbewusstsein entwickelte auch weitgehend im Gegensatz zu Polen. Für die Ukraine war Polen auch ein negativer Bezugspunkt, negativ im Sinne von sich abgrenzen wollen, müssen. Nur das Ganze hat vielleicht ein Stück an Bedeutung verloren in den vergangenen 30 Jahren, auch deshalb, weil in Polen in der großen Mehrheit der Bevölkerung verstanden worden ist, die unabhängige Ukraine ist ureigenes polnisches Interesse.
Herzing: Denn?
Reiter: Denn eine demokratisch verfasste, unabhängige Ukraine ist ein besserer Nachbar als eine Ukraine, die unter russischem Joch lebt und von Russland de facto bestimmt wird, einem Russland, von dem man seit Langem weiß, dass es nach innen repressiv, nach außen aggressiv ist. Und insofern ist das auch ein Stück Sicherheit.

Nord Stream 2 - Deutsche haben "jegliche strategische Bedeutung der Pipeline geleugnet"

Herzing: Sie haben sehr früh auch in Kommentaren vor Nord Stream 2 und vor einer Abhängigkeit Deutschlands von Russland gewarnt. Wieso ist Deutschland da so stur geblieben?
Reiter: Das war ein ganzes Bündel von Motiven, das eine, was ich schon erwähnte, war so eine Art Hybris, der Glaube, dass man durch diese Verbindungen Einflussmittel bekommen könnte. Ich habe nie daran geglaubt, dass das so funktioniert, und eher vermutet und befürchtet, dass das sozusagen die gegenteilige Wirkung haben könnte – und leider ist es so gekommen. Warum? Weil man in Deutschland einfach nicht zur Kenntnis nehmen wollte, dass die russische Politik einer anderen Logik folgte. Die deutsche Politik folgte der rationalen westlichen Logik, das ist auch dieses Denken, dass schon so viele Male kompromittiert wurde und trotzdem immer wieder aufgegriffen wird. Länder, die Handel treiben, führen keine Kriege gegeneinander. Das stimmt nicht! Vor dem Ersten Weltkrieg blühte der Handel, vor dem Zweiten Weltkrieg gab es auch Handel. Das ist leider völlig unrealistisch, vor allem, wenn man mit Ländern, mit Staaten zu tun hat, die keine offenen Gesellschaften haben und keine demokratischen Systeme, wo die Machthaber deshalb sich nicht erklären müssen gegenüber ihrer eigenen Öffentlichkeit. Sie definieren selbst, was das nationale Ziel ist. Russland hat – und das hat man in Deutschland nicht zur Kenntnis genommen – über Jahre, über viele Jahre die Gesellschaft militarisiert. Und dann zu glauben, dass man mithilfe einer Pipeline so etwas verhindern könnte, das war wirklich etwas realitätsfremd. Nord Stream 2 war nie auf der deutschen Seite gegen Polen gerichtet, Nord Stream 2 war eine russische Intrige, eine machtpolitische, strategische Intrige – und auf der deutschen Seite wurde sozusagen jegliche strategische Bedeutung der Pipeline geleugnet.
Herzing: Jetzt ist diese Idee, die Sie vorhin beschrieben haben, Wandel durch Annäherung, ganz tief in die DNA der deutschen Sozialdemokratie eingeschrieben. Sie verbinden freundschaftliche Kontakte mit Sigmar Gabriel. Wie verbittert sind Sie über diese Haltung der deutschen Sozialdemokraten, wie verärgert sind Sie oder bringen Sie da Verständnis auf?
Reiter: Ich bin nicht verbittert, ich bin nicht verärgert, also, verärgert manchmal ja, aber dann rede ich mich Sigmar Gabriel, und inzwischen sind wir eigentlich politisch auch weitgehend derselben Meinung. Das war nicht immer so. Ich habe mich gestritten mit vielen Sozialdemokraten, auch mit Helmut Schmidt, den ich schätze, den ich respektierte, den ich für einen unglaublich klugen Mann hielt, aber dem ich auch Vorwürfe machte. Der 13. Dezember 1981, der Tag, an dem in Polen das Kriegsrecht verhängt wurde und Helmut Schmidt in der DDR war – dann diese Kommentare, der europäische Frieden habe Vorrang vor den Ansprüchen der Polen.
Herzing: Also polnische Interessen waren da eigentlich egal.
Reiter: Es ging nicht um polnische Interessen, sondern es ging um den Anspruch in Deutschland, insbesondere in Teilen der SPD, aber nicht nur dort, den Frieden in Europa am besten bewahren, erhalten zu können. Und das geht bis heute so, dass viele in Deutschland überzeugt sind, wir wissen aber am besten, die anderen kümmern sich nicht so ausreichend um den Frieden, dann müssen wir umso mehr uns um den Frieden kümmern. Als ob die anderen entweder lauter Kriegstreiber wären oder eben nicht reif genug, um zu verstehen, was es erfordert, um den Frieden in Europa zu erhalten.

"Die Deutschlandfixierung ist übertrieben"

Herzing: Das heißt, das Bild, das Deutschland gerade in Polen abgibt, ist kein besonders gutes.
Reiter: Das ist nicht so einfach. Deutschland ist ein Land, das geschätzt wird, ein Land, zu dem es die engsten Verbindungen gibt, ein Land, mit dem es die meisten auch menschlichen Verbindungen gibt. Gleichzeitig ist es das Land, das am stärksten in Polen Kontroversen auslöst, und zwar alle haben irgendwie eine Haltung zu Deutschland, eine positive oder eine negative. Die Deutschlandfixierung ist übertrieben, überspitzt und macht es oft schwierig.
Herzing: Sie haben mal von einem Germanozentrismus der Polen gesprochen.
Reiter: Das ist so, ja, das ist aber etwas, was man in Deutschland, glaube ich, zur Kenntnis nehmen sollte, weil das ein bisschen auch damit zu tun hat, das Land ist ja halt das größte Land in Europa, an diesem Land orientieren sich viele andere und an diesem Land reiben sich auch viele andere. Man kann nicht sagen, dass Deutschland in Polen kritisch aufgenommen wird. Jetzt in der konkreten Situation gibt es viel Kritik und Unverständnis. Und ich muss sagen, ich bin einer, der eigentlich immer versucht, Deutschland zu erklären, manchmal fällt es mir schwer, weil ich selber nicht im Stande bin, mir Deutschland zu erklären, aber grundsätzlich ist das vor allem ein Land, das einen sehr starken Einfluss hat auf seine Nachbarn – inklusive Polen. Und ich will auch nicht verschweigen, aus diesem ambivalenten, aus diesen gemischten Gefühlen wird auch in Polen Politik gemacht. Deutschland – und das ist das Problem – ist nicht irgendein Land, mit dem man Beziehungen hat, sondern Deutschland ist auch Teil polnischer Innenpolitik. Das macht die Sache sehr kompliziert.

Weitere Gespräche mit Janusz Reiter

Aufbruch in eine neue Welt – vom Kommunismus zur Demokratie
Herzing: Herr Reiter, ich würde jetzt gerne ein bisschen mit Ihnen zurückspringen in der Zeit und zwar ist Ihre Heimatregion, die Kaschubei, eine Region, wo sich Deutsche und polnische Geschichte und Kultur ziemlich stark auch gemischt haben. Wenn ich das richtig weiß, stimmt das auch für Ihre Familie. Was würden Sie sagen, wo verorten Sie Ihre eigene Identität, ist die eindeutig polnisch oder auch ein bisschen deutsch oder etwas ganz anderes, eine regionale Identität?
Reiter: Nein, sie ist eindeutig polnisch. Mein deutscher Name ist keine Ausnahme in Polen, es gibt viele deutsche Namen in Polen, so wie es viele polnische Namen in Deutschland gibt, das ist Teil unserer Geschichte. Das Regionale, das Kaschubische, ist mir jetzt wichtiger, als es mir in meiner Kindheit war, aber das Regionale war nie eine nationale Identität, sondern das war ein Teil der Identität zusätzlich zu der nationalen Identität, die da eindeutig war. Meine Familie war polnisch, meine Eltern, meine Großeltern auf beiden Seiten, meine Urgroßeltern waren Polen. Gleichzeitig war Deutschland schon irgendwie präsent dort in der Region in der materiellen Kultur und auch in der Sprache, im Kaschubischen vor allem. Ich spreche kein Kaschubisch, ehrlich gesagt, aber auch in der polnischen Sprache dort waren viele Germanismen. Und außerdem war Deutschland irgendwie immer präsent, weil es so viele Erinnerungen gab an Deutsche, die dort auch gelebt haben, obwohl dieses Gebiet vor dem Kriege zu Polen gehörte. Trotzdem, es war ja der Teil Polens, der nach den Teilungen Polens Ende des 18. Jahrhunderts zu Preußen und dann zu Deutschland gehörte. Insofern war das Deutsche dort beständig sehr präsent, sehr gemischt mit viel Bewunderung, Achtung vor der deutschen Kultur und auch mit vielen unangenehmen Erinnerungen.
Herzing: Für viele Polinnen und Polen war ja oder ist vielleicht immer noch Deutsch ja so eine "Marsch-Marsch-Achtung-Achtung"-Sprache, würde ich sagen. Hatte für Sie Deutsch nie diesen Klang?
Reiter: Nein, das war die Sprache, die ich aus den Kriegsfilmen kannte, aber Deutsch war für mich die Sprache der Literatur. Neben der französischen war die deutsche Literatur in meiner Jugend und meiner Kindheit das prägende Erlebnis. Insofern hatte diese Sprache für mich nie einen solchen kriegerischen Klang. Aber ich muss gestehen, für viele, deren Begegnung mit Deutschland weitgehend beruhte auf der Wahrnehmung von Kriegsfilmen, da konnte das schon so passieren.

"Diese ganze Kompliziertheit der deutsch-polnischen Beziehungen war für mich immer etwas Faszinierendes"

Herzing: Sie haben eben auf den deutschen Ursprung Ihres Namens hingewiesen. Ein Landsmann von Ihnen, Donald Tusk, der frühere Ministerpräsident, musste sich ja sehr stark rechtfertigen oder wurde sehr stark diffamiert wegen seines Großvaters, der kurzzeitig in der Wehrmacht dienen musste. Ging Ihnen das nie so?
Reiter: Nein, mir ging es nicht so, weil ich nie einen Wahlkampf führen musste wie Donald Tusk. Der Umstand, dass bei mir in der Familie kein Großvater eingezogen wurde zur Wehrmacht, das spielt da keine Rolle. Diese Großväter wurden nicht gefragt, ob sie zur Wehrmacht wollten oder nicht. Und jemand, der wie ich aufgewachsen ist in der Gegend, weiß das schon sehr gut. Ein Großonkel von mir ist am 1. September erschossen worden, der war Schuldirektor, er war auf einer Liste. Mein Vater kämpfte am 1. September in der polnischen Armee, ging dann in die Gefangenschaft. Und es gab also viele solche Erinnerungen in der Generation meiner Eltern, und selbstverständlich prägte das auch mein Denken, meine Gefühle, meine Wahrnehmung. Gleichzeitig aber war Deutschland eine Art Faszination für mich.
Herzing: Warum?
Reiter: Das kann ich nicht erklären, warum gerade das Deutsche und nicht das Französische oder das Englische. Na gut, eine Erklärung liegt daran, Deutschland war näher, es war präsenter. Deutschland faszinierte mich auch, weil Deutschland eben kein einfaches Land ist, auch die Brüche in der deutschen Geschichte, auch diese ganze Kompliziertheit der deutsch-polnischen Beziehungen, das war für mich immer etwas Faszinierendes, aber ich habe damals in meiner Jugend, in den 60er-Jahren… Erst in den 70er-Jahren, als ich dann nach Warschau ging und studierte, da habe ich meine ersten Begegnungen gehabt mit Deutschen, vorher waren das Begegnungen mit der deutschen Literatur, aber mit keinen Deutschen.
Herzing: Sie haben Germanistik studiert in Warschau, wann haben Sie zum ersten Mal einen Fuß nach Deutschland gesetzt?
Reiter: Als Student noch, ich war in Österreich, damals wurde gerade zwischen Polen und Österreich der Visa-freie Verkehr eingeführt, davon profitierten vor allem junge Leute wie ich. Ich bin dann nach Wien gereist, dann kam meine Freundin, meine jetzige Frau, und wir wollten nach Deutschland.
Herzing: Sie waren neugierig.
Reiter: Ja! Wir gingen zur deutschen Botschaft, die sagten, Sie müssen den Antrag auf das Visum in Warschau stellen, das beruhte auf einem vollkommenen Unverständnis der Situation, wenn wir zurückgekommen wären nach Warschau, wären wir nicht wieder rausgekommen. Also haben wir beschlossen, ohne Visum nach Deutschland zu reisen, und das funktionierte, keiner hat uns an der Grenze gefragt, wenn wir da erwischt worden wären, wäre ich auf einer schwarzen Liste gelandet und dann wäre vielleicht mein Leben anders verlaufen.

Erste Eindrücke von Deutschland in Frankfurt-Sachsenhausen

Herzing: Können Sie sich an Ihre ersten Eindrücke von Deutschland erinnern?
Reiter: Ja, und zwar in Frankfurt – und das ist wieder das Problem in Kriegsfilmen leider. Wir waren in Frankfurt-Sachsenhausen, erstens Sachsenhausen war für mich immer bekannt nur als der Ort, wo das Konzentrationslager war. Zweitens aber, da saßen viele Leute an den Bänken, das war im Sommer, tranken den jungen Wein und sangen Lieder, vor allem kann ich mich erinnern an ein Lied, das ich eben kannte, "Heili... Heilo". Das war ein Lied, das ich aus den Kriegsfilmen kannte, plötzlich saß ich da und sah Hunderte von Deutschen, die da saßen und dieses Lied sangen.
Herzing: Wie haben Sie sich gefühlt?
Reiter: Ich weiß es nicht mehr, aber auf jeden Fall weiß ich, das war schon ein kleiner Schock. Das war ein notwendiger Schock, denn so habe ich erfahren, dieses Lied war für mich Teil des Bildes des Zweiten Weltkriegs, aber dieses Lied hatte ja einen ganz anderen Ursprung, einen ganz anderen Hintergrund. Da musste ich eben lernen, dass viele Dinge eben einen anderen Kontext hatten in der Geschichte als den Kontext, den ich kannte aus einer sehr verengten Perspektive.
Herzing: Sie sind dann in den 70er-Jahren Journalist geworden, Sie haben für die Tageszeitung "Życie Warszawy" und später für den "Przegląd katolicki" eine katholische Zeitschrift, geschrieben. Wie eng waren die Grenzen, wir frei konnten Sie damals schreiben?
Reiter: Bei der "Życie Warszawy" war ich nur relativ kurz, das war der Beginn meiner journalistischen Tätigkeit, dann kam das Kriegsrecht, dann ging das schnell zu Ende. Dann war ich arbeitslos erst mal, erst drei Jahre später bekam ich dann diesen Job bei dieser katholischen Zeitung. Sie war katholisch, sie wurde von der Kirche herausgegeben, sie war so eine Art Zufluchtsort für kritische Journalisten, Schriftsteller, Intellektuelle.

1981 - Kriegsrecht in Polen

Herzing: Der Staat hat sich nicht getraut, da reinzuregieren?
Reiter: Der Staat hat… Die Zensur griff manchmal ein, aber es gab keine Selbstzensur, das war der große Unterschied. Und ich habe auch in Deutschland unter verschiedenen Pseudonymen geschrieben.
Herzing: War das nicht gefährlich?
Reiter: Nein, das war nicht gefährlich, das war … Heute könnte ich wahrscheinlich so nicht leben, ich wurde über drei oder vier Jahre ständig beschattet, mir folgten immer drei, vier Leute, aber ich habe gelernt, damit zu leben.
Herzing: Das hat Sie nicht weiter beeindruckt?
Reiter: Doch, schon beeindruckt, ich musste immer mit der Sorge leben, wenn die reinkommen, was habe ich dann zu Hause. Und da ich nicht unbedingt zur Pedanterie neige, habe ich mir immer Sorgen gemacht, ich habe da irgendwelche Papiere, die die nicht in die Hände bekommen sollten.
Herzing: Das waren Papiere aus dem Ausland oder aus der Opposition?
Reiter: Ja, na ja, ich habe da verschiedene Dinge geschrieben, oft organisiert, Publikationen im Ausland, oder ich bekam etwas aus dem Ausland, aber es war nichts so Schlimmes. Aber wie gesagt, wahrscheinlich gewöhnt man sich daran leichter, wenn man jung ist, ich möchte heute nicht so leben. Aber es sieht auch nicht so aus, als ob das passieren sollte.

"Ich wollte die Mauern fallen sehen"

Herzing: Worüber konnten Sie schreiben damals, über welche Themen?
Reiter: Für diese katholische Zeitung habe ich über verschiedene internationale Themen geschrieben, auch viel über Deutschland, auch über die, wenn ich mich recht erinnere – entweder dort oder in den verschiedenen Untergrundzeitschriften – über die damalige deutsche Friedensbewegung, vor der ich eine große Angst hatte.
Herzing: Inwiefern?
Reiter: Ja, weil ich Angst hatte, dass sie durch ihre Friedensbemühungen mich dazu zwingt, mein ganzes Leben in einem kommunistischen Land zu erleben, durchzuleben. Das war nicht das, was ich vorhatte. Ich hatte Angst, dass die dadurch sozusagen die Teilung zementieren, und ich wollte keine Zementierung, ich wollte die Mauern fallen sehen.
Herzing: Wann kam das bei Ihnen auf, wann haben Sie angefangen, sich für die Opposition zu interessieren oder sich der Opposition anzuschließen? Das waren ja schon sehr früh Streikbewegungen in Polen in den 50ern, in den 60ern, später auch 1970…
Reiter: Das waren für mich die 80er-Jahre, das war meine politische Reifeprüfung. Da musste man sich entscheiden, die Entscheidung war relativ einfach.
Herzing: Warum war die Entscheidung einfach?
Reiter: Weil es relativ einfach war, gut und böse auseinanderzuhalten. Diesen Luxus hat man nicht immer, aber ich empfand das als eine relativ einfache Entscheidung. Und diese Entscheidung hatte dann ihre Folgen. So war es.

Solidarność - "Das Gefühl, hier finden Dinge statt, die die Welt verändern"

Herzing: Wie erinnern Sie sich an die Atmosphäre der 1980er-Jahre, sagen wir mal, von 1980 tatsächlich, als es möglich wurde, eben über Streiks politische Zugeständnisse des kommunistischen Regimes zu erreichen. Was für eine Atmosphäre herrschte da in Polen?
Reiter: Es herrschte am Anfang, als das Kriegsrecht verhängt wurde, große Aufregung, Wut und Kampfwille.
Herzing: Aber zuvor noch?
Reiter: Vorher war die Zeit der Solidarność, der Solidarität, das war eine unheimliche Aufregung, das Gefühl, hier finden Dinge statt, die die Welt verändern. Es war auch ein bisschen so. Und dann kam eben das Kriegsrecht, also ein Rückschlag, aber dieser Rückschlag hat das Land nicht so in die Knie gezwungen, sondern da war ein großer Kampfwille. Nach so drei Jahren herrschte ziemliche Depression. Damals wanderten auch viele aus aus Polen, auch schon früher, auch schon unter Kriegsrecht wanderten viele aus, weil sie einfach keine Chance sahen.
Herzing: Hätten Sie das auch gerne getan?
Reiter: Also am 13. Dezember '81 ja, aber später nicht. Und das war ja eine bewusste Entscheidung, nicht auszuwandern, weil ich Hoffnung hatte, weil ich irgendwie überzeugt war. Ich habe mich mit einem Freund unterhalten mal, der gerade eben beschloss, nach Amerika auszuwandern, und er sagte, er habe nicht vor, seine ganze Lebenszeit zu vergeuden in diesem Land. Und ich habe gesagt, ach, es wird sich hier alles ändern. Sagt er, ja, vielleicht, aber ich habe nicht genug Zeit dafür. Und ich hatte irgendwie schon, gut, es gab auch Zweifel, aber insgesamt die Überzeugung: Es wird schon sich ändern. Und so kam es auch.

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Herzing: Als dann die Runder-Tisch-Gespräche stattfinden – ich stelle mir vor, das muss wie ein Wunder gewesen sein. Wie erinnern Sie sich an die Zeit und wo waren Sie da?
Reiter: Na ja, ich war in Warschau und ich war da immer… Damals war ich noch bei der Zeitung, aber ich war sehr eng mit den politischen Oppositionsführern, und das war in der Tat eine Zeit der großen Aufregung, großer Hoffnung. Aber in dieser Zeit, und das ist, glaube ich, interessant vielleicht, am 1. September 1989 war ich auf der Westerplatte, da, wo der Zweite Weltkrieg begann. Und da kamen zusammen die Überlebenden des Krieges und der Westerplatte-Schlacht, und ich habe mit einem dieser Soldaten gesprochen. Und es war nicht einfach, der wollte nicht sprechen, er hatte irgendwie Angst zu sprechen, und ich musste ihm irgendwie so Sicherheit geben, und dann begann er zu sprechen. Warum war er unsicher? Weil er sagte, oh, ob das alles schon gut geht, ach, die Kommunisten werden sich nicht so zurückziehen und so. Der Mann kämpfte auf der Westerplatte, er wurde nach der Kapitulation dort gefangengenommen, er war in einem deutschen Kriegsgefangenenlager, floh aus diesem Lager, wurde irgendwo in dem östlichen Teil von Polen, von Russland besetzt, von dem russischen Geheimdienst erwischt, die haben ihn gefoltert, und die Russen zwangen ihn, eine Deklaration zu unterschreiben, in der er sich bekannte, deutscher Agent zu sein. Dann wurde er nach Sibirien verschickt in einen Gulag, Ende 1946 kam er zurück nach Polen, und nach einem halben Jahr ungefähr wurde er von der polnischen kommunistischen Geheimpolizei erwischt, die haben ihn auch gefoltert, und er gestand dort, britischer Agent gewesen zu sein. Er war weder britischer noch deutscher noch irgendein anderer Agent. Und dieser Mann war gebrochen nach diesen Erfahrungen, und er hatte noch '89 Angst, über sein Leben zu sprechen. Da wurde mir deutlich, was das für diese Generation bedeutete, nicht für alle, aber für viele. Für mich war klar: Das ist jetzt eine Zeitenwende und es gibt kein Zurück. Aber für ihn war das überhaupt nicht klar.
April 1989 in Polen: Annäherung von Regierung und Opposition am Runden Tisch
April 1989 in Polen: Annäherung von Regierung und Opposition am Runden Tisch (picture-alliance / dpa | pap Bogan)
Herausforderungen der ersten Dienstjahre
Herzing: Im August 1990, Herr Reiter, sind Sie Botschafter in Bonn geworden, Sie waren 38 Jahre alt, und im Gespräch mit meiner Kollegin im Deutschlandfunk Kultur haben Sie kürzlich gesagt, Ihr Vorteil war, dass Sie ein unbeschriebenes Blatt waren. Heißt das, alle anderen im diplomatischen Dienst waren Betonkommunisten?
Reiter: Nein, nein, das wahrscheinlich nicht, aber es ging um die Glaubwürdigkeit. Sie können nicht 10, 20 Jahre einem kommunistischen Staat dienen, der Teil des Ostblocks ist, und dann am nächsten Tag einen demokratischen Staat vertreten, der ja auch erst beweisen muss, dass er wirklich demokratischer Staat ist. Also das war eine Frage der Glaubwürdigkeit und auch eine Frage des Verständnisses, worauf es ankam. Das war keine neue Außenpolitik, sondern das war eine neue, grundsätzlich neue Außenpolitik in einem neuen Staat und in einem anderen Europa. Also alles war neu. Und das braucht auch neue Gesichter. Und unbeschriebenes Blatt – so ganz war ich nicht unbeschriebenes Blatt, ich hatte mich mit Deutschland viel beschäftigt und glaube heute, dass ich verstand, was zu tun war, um dazu beizutragen, dass dieses Verhältnis besser wurde. Und dass das Verhältnis besser wurde, war wichtig für Polen, es war auch wichtig für Deutschland, denn diese ganze europäische Transformation hätte ohne einen Ausgleich zwischen Deutschland und Polen nicht so funktioniert. Stellen Sie sich vor, in der Mitte Europas sind zwei Staaten, die sich feindlich gegenüberstehen, wo wäre dann die EU-Erweiterung… wie wäre die gekommen, wie wäre die NATO-Erweiterung gekommen? Ohne einen freundschaftlichen Ausgleich zwischen Polen und Deutschland wäre diese Transformation Europas nicht möglich gewesen.

Der Weg zum deutsch-polnischen Grenzvertrag

Herzing: Im November 1990, wenige Monate, nachdem Sie Ihr Amt aufgenommen haben in Bonn, wurde dann ja der deutsch-polnische Grenzvertrag geschlossen. Wie steinig war der Weg dahin?
Reiter: Es war ein Thema, das sehr viele Emotionen weckte, weil auf der polnischen Seite die Erwartung herrschte: Jetzt, wo sich alles in Europa ändert, muss sich ja auch was bewegen in der Grenzfrage. Worauf kann man jetzt noch warten? Und woher sollen die Menschen in Polen die Gewissheit haben, dass, wenn alles zur Disposition gestellt wird, nicht auch die deutsch-polnische Grenze zur Disposition gestellt wird?
Herzing: Aber die Oder-Neiße-Linie war ja eigentlich im Zwei-plus-Vier-Vertrag schon im Grunde genommen festgeschrieben.
Reiter: Es bedurfte eines Vertrages zwischen Deutschland und Polen über die Bestätigung, Anerkennung oder Bestätigung dieser Grenze. Und das war eigentlich kein Streitthema, sondern es war den meisten… In der Politik gab es nur wenige, die das nicht verstanden, dass diese Grenze so bleiben musste, so bleiben würde. Es gab nur einen Konflikt zwischen diesem Ziel und einigen, sagen wir, innenpolitischen Zielen in Deutschland. Und deshalb war die Ungeduld in Polen, weil Polen und die damalige polnische Regierung nicht bereit war, zu warten, bis die innenpolitische Situation in Deutschland so klar war, dass man diesen Vertrag ohne jegliches Risiko unterschreiben konnte. Und das Ganze war aber auch nicht nur ein bilaterales Thema, sondern das Ganze war ja auch wichtig eben für diesen europäischen Prozess, deshalb waren da die amerikanische, die französische, die britische Regierung, die alle waren an dieser Diskussion beteiligt. Diese Diskussion ist heute unwichtig. Das ist eine Fußnote der Geschichte. Aber damals war sie wahrscheinlich emotional wichtig, denn der Grenzvertrag, in dem Augenblick, in dem er unterschrieben wurde, verlor seine Bedeutung im Grunde genommen. Es ging ja nicht um etwas Neues, sondern es ging nur um die formelle Bestätigung dessen, was da war.
Herzing: Aber das heißt, es gab in Polen diese Angst vor einem wiedervereinigten Deutschland und es gab dieses Interesse auch einer sozusagen Einhegung Deutschlands…
Reiter: Nicht ganz.
Herzing: … durch die NATO, durch die EU?
Reiter: Ja, selbstverständlich, aber das Interesse war ja auch in Deutschland, das war die deutsche Politik, das war die Politik von Helmut Kohl, keine Neutralisierung des vereinigten Deutschlands, sondern eine Vereinigung Deutschlands als Mitglied der NATO und der Europäischen Gemeinschaft – und das war auch das polnische Interesse. Und in den 80er-Jahren gab es in der polnischen Opposition, die dann 1989 an die Macht kam, eine ernsthafte Diskussion über die deutsche Vereinigung mit dem Ergebnis, die deutsche Einheit könnte im polnischen Interesse liegen, denn das polnische Interesse war, dass es in Europa Bewegung gibt und dass sich die Dinge ändern. Und wer sonst war daran interessiert, wer hatte ein Motiv sozusagen, Veränderungen einzuleiten? Das war Deutschland, wegen der deutschen Teilung. Also was in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg so ein Schreckgespenst war, Deutschland vereinigt sich, und – dann sozusagen weitergedacht – dann verlangt Deutschland auch die ehemaligen Ostgebiete… In den 80er-Jahren gab es genug Vertrauen, um auch zu sagen: Die Einheit Deutschlands könnte im polnischen Interesse liegen, wenn die Einheit sich vollzieht in den Grenzen der Bundesrepublik und der DDR, und wenn dieses vereinigte Deutschland eben ein westlicher Staat bleibt, also Mitglied der Europäischen Gemeinschaft und Mitglied der NATO. Und genau so ist es gekommen.
Herzing: Wie schwierig war es denn, diese innenpolitischen Hindernisse – von denen Sie vorhin gesprochen haben – in Deutschland aus dem Weg zu räumen? Ich nehme an, Sie meinen damit die Vertriebenenfrage und auch die Minderheitenfrage.
Reiter: Ja. Die Minderheitenfrage war im Grunde genommen nur eine psychologisch schwierige Frage. Aber da musste man einfach sagen: Das ist der polnische Staat sich selbst schuldig, denn die Achtung von Minderheitenrechten gehört zum Selbstverständnis eines demokratischen Staates. Das ist kein Zugeständnis an Deutschland, sondern das ist ein Ausdruck des neuen Selbstverständnisses dieses Staates. Und die Frage der Vertriebenen: Für mich war klar, dass dieses Problem, wenn sich die Beziehungen gut gestalten, an Bedeutung verlieren wird. Und ich hatte eben die Freiheit, Dialog zu führen mit den Vertriebenen, auf die zuzugehen. Ich habe mit Herrn Hupka (damals Präsident der Schlesischen Landsmannschaft, eines Vertriebenenverbands, d.Red.) viele Gespräche geführt. Dafür wäre ich möglicherweise 10 oder 15 Jahre früher im Gefängnis gelandet oder jedenfalls wäre ich öffentlich sozusagen hingerichtet worden. Aber damals ging es eben. Das war eben das Besondere. Und diese Vertriebenenfunktionäre waren auch zum Teil Menschen, die auch wirklich irgendwie überrascht waren, ach, die gehen auf uns zu anstatt aus Angst wegzulaufen! Das Problem hat sich gelöst. Aber es musste nicht so kommen, es hätte auch anders kommen können. Insofern: Das war nicht vorbestimmt.
Der polnische Diplomat Janusz Reiter sitzt in einer Talkshow, im Hintergrund ist das Publikum zu sehen.
Janusz Reiter 2015 in einer Talkshow (picture alliance / dpa / Eventpress)
Ein Teil Europas: Polen und die EU
Herzing: Herr Reiter, schon in Ihrer Amtszeit als Botschafter in Deutschland Anfang der 90er-Jahre war ja klar, dass Polen Teil der Europäischen Gemeinschaft und später dann eben der EU werden sollte. Warum wollte Polen unbedingt dabei sein? Ging es vor allem um wirtschaftlichen Aufschwung, oder waren es andere Gründe?
Reiter: Na, es ging um mehr. Polen war ein Land, das immer dazwischen lag, zwischen Russland und Deutschland, also nirgendwo. Und das wollte man ändern. Man wollte dazugehören. Und es gab etwas, wozu man gehören konnte, das war die Europäische Union oder Gemeinschaft damals, und das war die NATO. Also das Bedürfnis nach dem Dazugehören war überwältigend. Das war auch ein Ausdruck des Bedürfnisses nach Sicherheit, und zwar nicht nur NATO, sondern auch Europäische Union – also nicht irgendwo zwischen zwei großen Nachbarn leben, sondern mit einem der Nachbarn Teil einer Gemeinschaft, die auch Sicherheit bot. Sie bot Sicherheit, aber sie bot auch selbstverständlich Chancen auf Prosperität an, und sie war eine Erfolgsgeschichte, und an dieser Erfolgsgeschichte wollte man teilhaben. Und da gab es einen Konsens in dieser Frage damals.

Kulturschock nach dem EU-Beitritt

Herzing: Sie haben 2020 in einem Interview mit einem polnischen Medium gesagt, dass der EU-Beitritt Polens 2004 ein ganz feierlicher Moment gewesen sei, aber auch ein Kulturschock für Polen. Warum ein Kulturschock?
Reiter: Nun, nicht ganz Kulturschock, aber das war so ein bisschen die Situation… Es gibt ja einen Spruch, ich glaube von George Bernhard Shaw, dass es zwei Tragödien im menschlichen Leben gibt: Die eine ist, wenn man etwas nicht erreichen kann, und die andere ist, wenn man etwas erreicht hat, was man erreichen wollte. Und das muss man nicht wörtlich nehmen, aber das bedeutet: Plötzlich hat sich die Situation Polens völlig verändert – zum Positiven, aber eben auch mit psychologischen Folgen. Das Land wurde plötzlich Teil eines größeren Ganzen ohne Grenzen, ohne trennende, aber auch ohne schützende Grenzen, und das Land lebte plötzlich in einem offenen Raum mit dem großen Nachbarn Deutschland, dessen Freundschaft die meisten, die große Mehrheit wollte, aber vor dem man auch etwas Angst hatte, nicht Angst in dem früheren Sinne von Aggression oder so was, nein, sondern vor der Dominanz dieses Deutschlands. Und das ist ein Problem, mit dem Polen bis heute ringt. Die einen – und das ist die Mehrheit – sehen da in dieser Nachbarschaft eine Chance zu wachsen und von dieser Nachbarschaft zu profitieren, die anderen aber sehen darin vor allem ein Risiko, das Risiko, dass das Land dominiert wird von einem überwältigenden, größeren Nachbarn. In Frankreich wird ähnlich gedacht. Ein französischer Politiker, ein ehemaliger Ministerpräsident, sagte einmal: Ich habe keine Angst vor einem starken Deutschland, ich habe Angst vor einem schwachen Frankreich. Dieses Gefühl der eigenen Schwäche gegenüber Deutschland, das ist etwas, was in Polen immer wieder vorkommt und womit man sich immer wieder auseinandersetzen muss.
Herzing: Dieser Topos der Dominanz oder diese Angst vor Dominanz, die spielt ja auch eine große Rolle in der Argumentation der regierenden Partei PiS aktuell in Polen, wenn es um Fragen der EU und Fragen der Rechtsstaatlichkeit geht. Wie überzeugend finden Sie die Argumentation der Regierung in der Hinsicht?
Reiter: Na, ich finde sie überhaupt nicht überzeugend. Ich meine, man kann streiten über Werte, also man kann streiten über gesellschaftspolitische Themen, darüber kann man streiten. Solchen Streit gab es und gibt es bis heute in vielen Ländern. Dafür habe ich ein gewisses Verständnis. Aber wenn es um Rechtsstaat geht, dann habe ich kein Verständnis, denn Rechtsstaat ist so eine gemeinsame Geschäftsgrundlage und die muss man akzeptieren.

PiS wird nicht gewählt "wegen eben ihrer Einstellung zum Rechtsstaat"

Herzing: Für die PiS ist es ja eine innere Angelegenheit, der Umbau, sagen wir besser, die Demontage des Rechtsstaats.
Reiter: Ja, aber eins möchte ich sagen. Man sollte nicht glauben, dass diese Partei gewählt wird wegen eben ihrer Einstellung zum Rechtsstaat. Sie wird aus ganz anderen Gründen gewählt. Das Problem ist nur: Für diejenigen, die sie wählen, ist das Problem des Rechtsstaats offensichtlich nicht so offensichtlich oder so wichtig, dass sie diese Partei nicht wählen könnten. Sie wählen sie aus sozialpolitischen Gründen, sie wählen sie auch aus sozusagen identitätspolitischen Gründen, aber nicht wegen der Rechtsstaatspolitik oder wegen der EU-Politik.
Herzing: Der Weg der EU in diesem Konflikt war ja zuletzt eher ein Weg der Härte, also Vertragsverletzungsverfahren, die Urteile des Europäischen Gerichtshofs, dann finanzieller Druck durch das Zurückhalten von EU-Geldern, die eigentlich an Polen gehen sollten und jetzt vielleicht auch wieder gehen. Ist das der richtige Weg aus Ihrer Sicht?
Reiter: Ich kenne keinen anderen. Das Problem ist: In solchen Situationen braucht man guten Willen auf beiden Seiten und Kompromissbereitschaft auf beiden Seiten. Wenn es diese Kompromissbereitschaft nicht gibt, dann ist es selbstverständlich sehr schwer, dann gibt es keinen guten Ausweg. Wenn Sie mich fragen, ob es jetzt diese Kompromissbereitschaft auf der polnischen Seite gibt, dann würde ich sagen: Ich habe eine leichte Hoffnung, dass es mehr Kompromissbereitschaft gibt. Ich sage das vorsichtig, aber doch, eine leichte Hoffnung erkenne ich.

"Die mentale Transformation hat nicht so richtig stattgefunden"

Herzing: Der Blick auf Polen ist ja jetzt in den letzten Monaten und Wochen scheinbar wieder ein bisschen milder geworden oder der europäische Blick sagen wir besser, weil Polen einfach große Leistungen bringt, was die Aufnahme der ukrainischen Geflüchteten angeht. Überdeckt diese Hilfsbereitschaft und Solidarität aktuell aus Ihrer Sicht den Konflikt um die Rechtsstaatlichkeit und gibt es da möglicherweise eine Art Deal?
Reiter: Nein, das glaube ich nicht. Ich glaube, dass die Europäische Kommission nichts derartiges plant. Selbstverständlich ist das unvermeidlich, dass der Krieg jetzt dominiert. Der Krieg ist das dominierende, große Thema. Aber ich sehe nicht, überhaupt nicht, dass die Europäische Kommission jetzt sagen würde, ach, dann vergessen wir das und jetzt beschäftigen wir uns mit wichtigeren Dingen. Aber wieder: Das ist noch mal eine Situation, in der beide Seiten guten Willen zeigen müssen. Außerdem: Ich halte das, was in Polen jetzt… Diesen ganzen Konflikt um die Rechtsstaatlichkeit halte ich nur für einen Ausdruck einer inneren Krise der Gesellschaft. Während die wirtschaftliche Transformation erfolgreich geführt worden ist, hat die mentale Transformation nicht so richtig stattgefunden. Viele machen sich Sorgen. Das sind Sorgen der Menschen, die Angst haben, dass das, was ihnen immer wichtig war, nicht genug Anerkennung findet, und dass sie nicht in der Situation sind, Entscheidungen zu treffen, sondern dass sie Objekt von Entscheidungen sind. Diese Angst kann man verstehen und auch anerkennen und auf sie eingehen, aber man kann sie auch selbstverständlich instrumentalisieren. Und dann ist es etwas sehr Riskantes. Aber das findet statt. Trotzdem: Man muss diese Ängste verstehen. Wenn man sie nicht versteht, dann läuft man Gefahr, einen großen Teil der Bevölkerung zu verlieren. Und Polen kann nicht nur mit zwei Dritteln der Bevölkerung zur Europäischen Union oder zu Europa gehören und mit einem Drittel nicht.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.