Lothar de Maizière. Geboren am 2. März 1940 in Nordhausen. Studium an der Musikhochschule in Ostberlin. Studium der Jurisprudenz. 1976 Aufnahme in das Kollegium der Rechtsanwälte in Ostberlin. Eintritt in die Ost-CDU 1956 als 16-Jähriger. Zum Vorsitzenden gewählt am 10. November 1989, einen Tag nach Öffnung der Mauer.
Nach dem Wahlsieg der Allianz für Deutschland bei der ersten freien Volkskammerwahl am 18. März 1990 letzter Ministerpräsident der DDR. Wahl zum stellvertretenden Bundesvorsitzenden der CDU am 1. Oktober 1990. Nach Stasi-Vorwürfen und Zerwürfnissen mit der CDU-Führung Rückzug aus der Politik im September 1991. De Maizière, Vater von drei Töchtern, arbeitet als Rechtsanwalt in Berlin.
Nach dem Wahlsieg der Allianz für Deutschland bei der ersten freien Volkskammerwahl am 18. März 1990 letzter Ministerpräsident der DDR. Wahl zum stellvertretenden Bundesvorsitzenden der CDU am 1. Oktober 1990. Nach Stasi-Vorwürfen und Zerwürfnissen mit der CDU-Führung Rückzug aus der Politik im September 1991. De Maizière, Vater von drei Töchtern, arbeitet als Rechtsanwalt in Berlin.
Musik und Politik
Lothar de Maizière: "Merkwürdigerweise hält man in Deutschland einen Politiker, der musisch veranlagt ist, für besonders schwach oder ungeeignet. Das ist in anderen Ländern durchaus anders."
Günter Müchler: Welch tiefer Fall, quelle chute, soll der französische Ministerpräsident Georges Clemenceau in Versailles gesagt haben. Das war, als er erfuhr, dass sein damaliger polnischer Amtskollege Padarewski im Zivilberuf Pianist gewesen sei. Sie sind, Herr de Maizière, als Bratschist in die Politik hineingeworfen worden. Politik und Musik, wie kann das gut gehen?
Lothar de Maizière: Nun, ich sage manchmal aus Scherz, mein beruflicher Werdegang war ein einziger Abstieg, vom Musiker zum Rechtsanwalt und dann zum Politiker. Und ich hab mich inzwischen wieder hochgerappelt zum Anwalt, mache auch noch Musik. Ja, merkwürdigerweise hält man in Deutschland ja einen Politiker, der musisch veranlagt ist, für besonders schwach oder ungeeignet. Das ist in anderen Ländern durchaus anders. Dort hat man Hochachtung vor den Leuten, die musische Begabung haben und diese auch leben.
Aber ich glaube, so unmittelbar haben Musik und Politik nicht miteinander zu tun. Musik ist ja sehr stark von einem Formbewusstsein geprägt und von Harmonie geprägt und Auflösung von Disharmonien. Vielleicht kann man so was noch in der Politik suchen, aber ich finde häufig, dass die Politik zu wenig formales Bewusstsein hat, Formbewusstsein, Strukturen. Musik funktioniert nicht ohne Strukturen. Musik ist geronnene Mathematik, waren auch immer meine beiden liebsten Fächer, Mathe und Musik, in der Schule.
Müchler: Die Regierungszeit, 199 Tage, das war ja wie ein Sturzbach. Trotzdem haben Sie immer wieder Gelegenheit gefunden, zum Beispiel in Mittagspausen, eine Stunde zu üben. Das ist eigentlich ein sonderbarer Gedanke.
de Maizière: Anfang Januar 1990 lernte ich Justus Franz kennen. Und der sagte, er habe die Absicht, parallel zum Schleswig-Holstein-Musikfestival ein Mecklenburg-Vorpommern-Musikfestival ins Leben zu rufen. Ob ich mir vorstellen könnte, da das Eröffnungskonzert als Solist zu spielen. Da habe ich ihm leichtfertigerweise zugesagt. Und dann kam der 18. März, die ersten freien Wahlen, und ich wurde Ministerpräsident. Dann rief ich an und sagte: Lieber Franz, ich habe jetzt andere Dinge zu tun. Sagt er: Pacta sunt servanda, Verträge müssen eingehalten werden und eine bessere PR für dieses Festival können wir gar nicht finden.
Und dann habe ich tatsächlich mein Instrument mit in den Ministerrat genommen, habe jeden Mittag von eins bis zwei geübt. Und ich glaube, dass ich diese Zeit auch relativ unbeschadet überstanden habe, dank ich der Tatsache, dass ich mittags diese eine Stunde für mich hatte, in der ich eben nicht Akten schmelzte und was anderes tat, sondern mich auf mich und meine Kräfte und meine Seele konzentrieren konnte.
Müchler: Bei einem Empfang des damaligen Bundeskanzlers Helmut Kohl, ich glaube, das ist im Mai…
de Maizière: Sommerfest war es.
Müchler: Sommerfest bei Kohl, da haben Sie einen Händel-Stück gespielt. Kohl soll, wie es heißt, ziemlich genervt gewesen sein.
de Maizière: Ich war zum Kanzlerfest nach Bonn eingeladen. Es war der 24. Juni, weiß ich noch wie heute. Und da kam der Konzertmeister des Bonner Beethovenorchesters, die dort zu Beginn ein bisschen Händel "Wassermusik" oder "Feuerwerksmusik", ich weiß nicht mehr was, spielen sollten. Ob ich denn wohl bereit sei mitzuspielen. Da sage ich: Ich habe doch gar kein Instrument hier. Ja, das haben wir schon bedacht und unser stellvertretender Solobratscher würde sein Instrument Ihnen für diesen Satz zur Verfügung geben.
Und da habe ich mitgespielt, vom Blatt gespielt, das ist auch kein Problem bei Händel. Und dann kam Kohl und hielt eine kleine Ansprache und sagte, ihm wäre um Deutschland und Deutschlands Zukunft nicht bange, wenn Ministerpräsidenten Musik machten wie der Maizière oder so was. Und da habe ich das Instrument hingehalten: Tu es doch auch! Und das hat ihn doch etwas gekränkt. Jedenfalls hat das nicht zur Verbesserung des Klimas zwischen uns beiden beigetragen.
Blockflöten und Revolutionäre
de Maizière: "Ich glaube, dass ich mit der Biografie, mit dem Leben, das ich in der DDR gelebt habe, auch irgendwann mal vor meinem Herrgott bestehen kann."
Müchler: Ihre Karriere ist so erstaunlich wie kaum eine andere in der jüngeren deutschen Geschichte: Eine Karriere, wie sie eigentlich nur in Revolutionszeiten vorstellbar ist.
de Maizière: Wollte ich gerade sagen, von der Zeit und den Umständen, in denen das geschah.
Müchler: Dabei waren Sie aber kein Revolutionär. Der Name de Maizière fehlt in der Liste der DDR-Dissidenten.
de Maizière: In der Liste fehlt er sicherlich. Dafür hatte dann aber Maizière dauernd die Dissidenten verteidigen dürfen. Das war mindestens ebenso schwer, wie selber einer zu sein. Außerdem war ich eingebunden. Ich war ja seit Mitte der achtziger Jahre Vizepräses der Synode des Bundes der Evangelischen Kirchen. Und diese Kirchen oder gerade die Bundessynode versuchte, sich immer wieder der Themen anzunehmen, auch um die Themen öffentlich zu machen, die die Menschen bewegten wie Reisefreiheit, wie Meinungsfreiheit, wie Pressefreiheit, wie Wahlrecht und Ähnliches mehr. Aber richtig ist, dass ich nicht ein Mann der kirchlichen Gruppen war, sondern auf der anderen Seite des kirchlichen Establishments, wenn man so will, stand.
Und diese Mitglieder der Gruppen legten zwar immer Wert darauf, völlig autonom zu sein und nichts mit der Kirche zu tun haben. Aber wenn die Luft bleihaltig wurde, dann wollten sie doch gerne wieder unter den Schutz der Kirche zurückkehren und waren also auch bereit, sich von uns vertreten zu lassen. Ich glaube, dass ich mit der Biografie, mit dem Leben, das ich in der DDR gelebt habe, auch irgendwann mal vor meinem Herrgott bestehen kann.
Müchler: Sie waren eine Blockflöte. Sie sind mit 16 in die Ost-CDU eingetreten. War das auch ein wenig ein opportunistischer Akt? Sie hätten als bekennender Christ ja nicht studieren können?
de Maizière: Der unmittelbare Anlass war ein anderer. 1956 bin ich eingetreten. Damals war ein ziemlicher Kampf zwischen FDJ und Junger Gemeinde, und in der "Jungen Welt" stand, die Junge Gemeinde wäre die fünfte Kolonne der CIA. Und ein mir sehr wohlmeinender Lehrer in der Schule sagte: Pass mal auf, im Lehrerkongress ist beraten worden, dass du immer noch nicht in der FDJ bist. Wenn du nicht in die FDJ eintrittst, dann fliegst du hier raus.
Und dann bin ich nach Hause, hab meiner Mutter das gesagt. Und dann hat sie gesagt: Na, wenn du eintrittst, dann fliegst du hier raus. Und dann kam mein Vater auf die Idee: Dann tritt doch in die CDU ein, und dann wollen wir mal sehen, ob die es wagen, ein Mitglied der befreundeten Partei, wenn man so will, von der Schule zu schmeißen, zu relegieren. So geschah es. Und ich hab innerhalb der CDU nie ein Amt gehabt. Ich war nicht mal Ortsgruppenkassierer. Mein erstes Amt war Vorsitzender und das am 10. November 1989, also einen Tag, nachdem die Mauer gefallen war.
Müchler: Blockflöte, ist das ein Schimpfwort, eine ungerechte Bezeichnung?
de Maizière: Jein, würde ich sagen. Jemand, der in der DDR-Zeit in die CDU eintrat, machte zumindest deutlich: Ich bin kein SED-Mann. Und ich bin kein Marxist, ich bin ein Christ. Und ich finde mich notfalls auch mit einer Stellvertreterkarriere ab. In der CDU konnten Sie niemals erster Mann in irgendeinem Betrieb oder sonst so was werden. Und in den Ortsverbänden und wo man sich versuchte, in die kommunale Politik einzumischen, dort war durchaus vernünftiges, bürgerschaftliches Engagement zu finden. Da ging es darum, wie die Schule ist, wie der Kindergarten ist, oder ob man das und jenes machen kann. Aber die offizielle Linie der Partei, die im Hauptvorstand vertreten wurde, mit der konnte man sich wahrlich nicht identifizieren.
Das war auch der Grund, als man im Herbst 1989 nach einem Vorsitzenden suchte, kamen die Leute, die in der CDU da was ändern wollten, auf mich zu und sagten, ob ich wohl bereit wäre, der Vorsitzende zu werden. Da sage ich: Wie kommt ihr denn gerade auf mich? Ich muss doch verrückt sein, diese Partei zu übernehmen. Ja, sagten sie, wir haben alle folgende Überlegung angestellt. Erstens soll der neue Vorsitzende hinlänglich intelligent sein, zweitens erkennbar kirchennah, drittens ein gewisses organisatorisches Geschick, viertens mit der Politik der CDU, wie sie bisher betrieben wurde, nicht verhaftet und letztendlich die Fähigkeit haben, auf große Menschengruppen zuzugehen.
Da sagte ich: Kinder, genau das Letzte bin ich nicht. Für mich ist der Marktplatz ein Gräuel. Wahlkampf auf dem Marktplatz ist was ganz Furchtbares. Und dann kamen sie nach zwei Tagen wieder und sagten: Wir haben uns das überlegt. Dann müssen wir eben für die Publicity andere Wege finden, ob ich dabei bleibe. Dann habe ich mich beraten mit verschiedenen Leuten, unter anderem auch mit Bischof Dr. Forck, der mein Studentenpfarrer war, als ich jung war, und den ich immer in persönlich schwierigen Situationen um Rat gefragt habe.
Jedenfalls Gottfried Forck sagte zu mir, er stellte zwei typische Fragen für ihn. Er sagte: Erstens werden Sie dort mehr Geld verdienen als als Anwalt. Da sagte ich: Nein, wahrscheinlich weniger. Zweitens können Sie, wenn die Verkrustungen wieder zuwachsen, zurück in ihren Beruf. Und da sagte: Auch das ist geregelt. Und dann sagte er: Wenn Sie so überlegen, warum Sie es tun sollten. Und da sagte ich: Lieber Bruder Forck, wenn wir es schaffen würden, hier in diesem Land Verhältnisse zu schaffen, dass unsere Kinder in der Schule nicht mehr lügen müssen. Und dann sagte er: Wenn Sie das erhoffen, dann haben Sie gar keine andere Wahl, als es zu tun, mein lieber Bruder.
Warum man Verantwortung übernimmt
de Maizière: "Ich glaube, ich hätte es als eine Art von Fahnenflucht empfunden, in dieser Situation nicht in die Pflicht zu gehen."
Müchler: Sie sind Hugenottennachfahre. Von Hugenotten sagt man, sie seien die Superpreußen.
de Maizière: Das Wort Pflicht und in die Verantwortung gehen ist zentraler Bestandteil der Erziehung in unserer Familie gewesen. Man weicht der Verantwortung nicht aus. Punkt. Ich glaube, ich hätte es als eine Art von Fahnenflucht empfunden, in dieser Situation nicht in die Pflicht zu gehen. Abgesehen davon, dass ich auch damals und auch später das Gefühl hatte, wir werden komplizierte Zeiten bekommen, und wir müssen die Leute sehen, in Verantwortung zu bringen, die die Fähigkeit zur Moderation besitzen. Um es mal dramatisch auszudrücken, die dafür sorgen, dass unsere Revolution in der girondistischen Phase bleibt und nicht in eine jakobinische Phase abrutscht.
Das war auch während der ganzen Zeit, die ich zu vertreten habe, das zentrale Anliegen, das ich hatte. Wir wollen hier nicht Vorwände liefern, dass es noch blutig werden könnte.
Müchler: Pflicht ist ja ein Wort, das nicht selten in Äußerungen von Angela Merkel eine Rolle spielt. Ist das protestantisch?
de Maizière: Es ist sicherlich protestantisch. Und außerdem glaube ich, dass wir Ostdeutschen dadurch, dass wir ja abgeschirmt gelebt haben von den gesellschaftlichen Entwicklungen der Bundesrepublik der letzten 40 Jahre, sehr viel altmodischer geblieben sind. Altfränkisch, um es mal fast so zu sagen. Pflicht und Pünktlichkeit und Ordnung waren - die DDR war, auch die SED war im Grunde genommen preußischer, als das im Westen noch gelebt wurde. Ich empfinde es nicht als großen Mangel, dass an uns auch die 68er-Situation vorbeigegangen ist.
Müchler: Das sehen die 68er anders. Die 68er haben ja bestimmte Tugenden zu Sekundärtugenden herabgestuft.
de Maizière: Was allerdings dazu führte, als ein Lafontaine es auf dem Parteitag sagte, dass ein Helmut Schmidt umkehrt und wieder nach Hause fuhr. Und das fand ich eine richtige Entscheidung. Ich glaube nicht, dass man bei preußischen Tugenden von Primär- und Sekundärtugenden sprechen kann und muss, sondern die gehören zusammen. Und Preußens hervorstechendste Eigenschaft ist die Toleranz.
Die preußische Aufklärung war vor der französischen Aufklärung. Und dass meine Familie ihren Glauben über 300 Jahre leben konnte, verdanken wir Preußen. Und das war auch der Grund, warum mein Vater nicht gegangen ist. Meine Mutter sagte in den fünfziger Jahren immer: Clemens, lass uns gehen. Ich will nicht, dass die Kinder in einem gottlosen Land groß werden. Und mein Vater sagte regelmäßig: Dies Land hat uns vor fast 300 Jahren Asyl gewährt. Solange ich sonntags mit meinem Gesangsbruder am Arm in meinen französischen Dom am Gendarmenmarkt gehen kann, solange gehe ich nicht weg.
Müchler: Am Abend des Mauerfalls waren Sie bei einer Veranstaltung in der Französischen Friedrichstadtkirche.
de Maizière: Richtig.
Müchler: Da kam ein junger Mann rein und teilte mit, die Mauer ist gefallen. Sie sind sitzen geblieben. Das ist eine ganz eigenartige Geschichte.
de Maizière: Die Moderation hatte Superintendent Krätschell aus Pankow-Heinersdorf, Weißensee, der jetzt in letzter Zeit Militärseelsorger war. Und der sagte: Liebe Freunde, zwei Gruppen haben sich noch nicht vorstellen können, haben auch noch ihre Zukunftsvorstellungen für dieses Land noch nicht entwickeln können. Der Abend war nämlich von dem Konsistorium der evangelischen Kirche einberufen worden.
Müchler: Stolpe war auch da?
de Maizière: Stolpe war auch da. Wir saßen nebeneinander. Und es ging darum, welche Vorstellungen haben die Parteien und die neuen Gruppen in diesem Land. Wir wussten ja alle, so kann es nicht weitergehen. Und darum sagte Krätschell: Die haben sich noch nicht vorstellen können. Und darum blieben tatsächlich alle sitzen. Und die beiden Gruppen stellten sich noch vor. Und dann sind wir auseinandergegangen.
Und ich glaube, das ist eine ganz typische Geschichte von Herbst 1989. Wir haben eine Feierabendrevolution gemacht. Wir sind von sieben bis 17 Uhr arbeiten gegangen, und danach haben wir Revolution gemacht. Manche haben gesagt, das war so ein bisschen, wie Lenin die Deutschen mal karikiert hat.
Müchler: Mit der Bahnsteigkarte?
de Maizière: Mit der Bahnsteigkarte. Aber ich glaube, das war die Stärke unserer Situation im Herbst 1989, dass wir keinen Vorwand geliefert haben, staatlicherseits einzugreifen, Waffen zu ergreifen. Die waren auf alles Mögliche vorbereitet, nur nicht auf friedliche Menschen mit Kerzen.
Die 199 Tage der letzten DDR-Regierung
de Maizière: "Der Wunsch nach Wiedervereinigung, der war so verboten, dass wir den Wunsch sogar vor uns selbst verheimlicht haben. Aber als die Möglichkeit dazu da war, war der Wunsch sofort wieder da."
Müchler: Sie haben eben erzählt, wie es dazu kam, dass Sie CDU-Vorsitzender wurden. Ein paar Monate später waren Sie Ministerpräsident, erfolgreich hervorgegangen aus der ersten freien Volkskammerwahl. Die Volkskammerwahl wurde gewonnen, ganz überraschend gewonnen von der Allianz für Deutschland, in der neben der CDU, der Demokratische Aufbruch und die DSU waren, aber die CDU klarer Mehrheitspartner.
de Maizière: 40,8.
Müchler: Es war ja ein ganz unerwarteter Triumph für die Allianz. Noch ein paar Wochen vorher hatte man die Sozialdemokraten weit vorn gesehen, und dann kehrten sich die Verhältnisse um. Was ist rückblickend aus Ihrer Sicht der Grund für diese ganz unerwartete Entwicklung gewesen?
de Maizière: Zunächst muss ich zu der Meinungsumfrage, die noch Wochen vorher die Sozialdemokraten mit 52 Prozent wohl vorne sah, etwas sagen. Sie ist durchgeführt worden vom Institut für Jugendforschung in Leipzig. Das war das einzige Institut, das solche demoskopischen Untersuchungen machen konnte. Und es war eine Telefonumfrage.
Da muss man zunächst fragen: Wer hatte in der DDR denn ein Telefon? Das ist das eine. Und zweitens haben die meisten diese Umfrage nicht genau gelesen, denn die sagte, noch sind erst knapp 40 Prozent entschlossen, 60 Prozent sind noch unentschlossen. Und ich hab damals gesagt: Ruhe in der Kiste. Die Unentschlossenen, das ist das Potenzial, auf das wir zugehen müssen. Das war das flache Land. Das waren die Bauern. Das war zum Großteil auch die Arbeiterschaft in den sächsischen Industriegebieten und so weiter, während die Intellektuellen sich mehrheitlich schon entschieden hatten, so zu wählen, wie sie dann auch gewählt haben. Und die Sozialdemokratie hat nachher 22 Prozent oder so was, 23 bekommen. Sie hat genau die 50 Prozent von den 40 Prozent, die sich entschlossen hatten, den Anteil bekommen.
Nein, ich glaube, das Entscheidende war Folgendes: Die Volkskammerwahlen vom 18. März waren letztendlich ein Plebiszit einer Volksabstimmung, und zwar zu drei Themen: Erstens, Herstellung der Einheit Deutschlands, schnell und mit Sicherheit keinen dritten Weg mehr, zweitens föderale, grundgesetzkompatible Demokratie und drittens Rechtsstaat mit einer klaren Gewaltenteilung.
Müchler: Einen Punkt haben Sie vergessen. Das Angebot der D-Mark.
de Maizière: D-Mark, natürlich, ja.
Müchler: In seinem Standardwerk zur Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion schreibt Grosser, dass der wohl entscheidende Punkt für den Wahlausgang das Angebot der D-Mark, das kam ja, ich glaube, Ende Februar.
de Maizière: Im Februar kam es. Und es kam aber die Forderung; zum Beispiel Frau Matthäus-Meier war die Erste, die es gefordert hat. Und wir hatten im Wahlkampf zunächst gesagt, ich weiß es noch von mir selbst: Ich werde dafür sorgen, dass ihr zu Weihnachten eure Weihnachtsgeschenke mit der D-Mark bezahlt.
Und dann kam unsere Konkurrentin, die SPD, damit: Wir werden sorgen dafür, dass ihr mit der D-Mark im Sommer in Urlaub fahren könnt. Und das war natürlich ein dolles Gefühl für die DDR-Bürger, die ja immer mit einer nicht konvertiblen Währung ins Ausland fuhren und sich als zweitklassige Deutsche empfinden mussten. Dieses Thema D-Mark hat eine entscheidende Rolle gespielt, aber das war kein Alleinstellungsmerkmal der CDU. Da war sich zumindest auch die SPD völlig einig.
Müchler: Teile! Matthäus-Meier ja, Lafontaine dagegen.
de Maizière: Richtig. Bloß Lafontaines Haltung zu dem ganzen Prozess war ja ohnehin einer sehr merkwürdige. Und ich glaube, das hat der Sozialdemokratie massiv geschadet, nicht nur am 18. März, sondern insbesondere dann noch am 2. Dezember 1990, diese indifferente Haltung zur deutschen Einigung oder Wiedervereinigung. Das ist vielleicht aus seiner saarländischen Sicht heraus verständlich. Aber umso merkwürdiger finde ich, dass er sich jetzt der Rächer der Enterbten und kleinen Leute im Osten Deutschlands aufspielt.
Müchler: Sie sind gerade gependelt zwischen Einigung und Wiedervereinigung. Es ist ja doch merkwürdig, dass dieser historische Vorgang semantisch nicht festgelegt ist. Welches Wort bevorzugen Sie?
de Maizière: Wenn wir korrekt wären und logisch denken würden, ist es eigentlich eine Einigung gewesen. Wir haben nicht die beiden deutschen Heere zur Wehrmacht wieder vereinigt, sondern wir haben die Bundeswehr und die Nationale Volksarmee miteinander verbunden. Mehr als 60 Prozent der Deutschen kannte den Zustand der Deutschen Einheit nicht mehr.
In der Nacht zum 3. Oktober fragte Teltschik meine jüngste Tochter Henriette, ob sie denn nun froh wäre, nicht mehr in dem Staat DDR zu leben. Und da hat Henriette geantwortet: Ach, Herr Teltschik, ich hatte bisher kein anderes Land.
Müchler: Dieses Land, die DDR, war pleite zu dem Zeitpunkt der Wende. Es gab am 30. Oktober 1989 einen Bericht ans Politbüro, unter anderem von Schürer und Schalk-Golodkowski?
de Maizière: Schalk, Beil, der Auslandsminister. Polze, Außenhandelsbank, und Frau König, die Ministerin für Finanzen.
Müchler: Richtig. Jetzt zitiere ich mal einen Satz: "Allein das Stoppen der Verschuldung würde im Jahr 1990 eine Senkung des Lebensstandards um 25 bis 30 Prozent erfordern und die DDR unregierbar machen." Also sie war pleite?
de Maizière: Ja. Das Papier habe ich noch in der Modrow-Zeit kennengelernt. Und selbst bei den Verhandlungen zur Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion habe ich es nicht unmittelbar auf den Tisch gelegt, weil ich befürchten musste, dass dann die Reichshauptbedenkenträger noch mehr zunehmen, als sie ohnehin schon da waren.
Das Papier enthält furchtbar viel, wirklich effektive Feststellungen, allerdings hinten raus so merkwürdige Dinge: Dann könnte man Westberlin anbieten, sich im Jahr 2012 gemeinsam für Olympia zu bewerben oder sonst irgend so was. Ich habe später Herrn Beil gefragt, ich sagte: Wie kommt es, dass dieses Papier, ein paar Daten nicht stimmen, und dass es erst am Ende Oktober kam? Da sagte er: Das Papier ist vom Januar 1988. Bloß Honecker und Mittag haben sich geweigert, dieses Papier zuzulassen und auf die Sitzung zu nehmen. Und erst nachdem Krenz dran war, waren wir ja der Hoffnung, das Papier, neu datiert und überarbeitet, in das Regierungshandeln einzubringen.
Müchler: Das Reizvolle, es wäre noch eine Weile beim Fels der Wirtschaftspolitik zu bleiben, will ich doch zu einem anderen Aspekt kommen. Im Westen ist ja, das muss man ehrlicherweise sagen, die Wiedervereinigung mit eingeschränkter Begeisterung aufgenommen worden. Der Historiker Hans-Peter Schwarz hat das Wort geprägt, das sei mit gestopften Trompeten begleitet worden. Hat Sie das überrascht, oder würden Sie dieser Feststellung widersprechen?
de Maizière: Widersprechen vielleicht nicht ganz, ich würde aber sagen, dass es generationenweise unterschiedlich war. Wir haben ohnehin Glück gehabt, dass die Generation Politiker im Westen noch am Wirken war oder zumindest noch als Elder Statement Einfluss hatte, denen die deutsche Teilung doch Schmerz war. Für die nächste Generation, die sagen wir mal, ganz bewusste Generation Lafontaine.
Müchler: Schröder.
de Maizière: Schröder, war dies keine Herzenssache mehr. Die Bundesrepublik war in diesen 40 Jahren ein sich selbst genügender Staat geworden. Er brauchte den Osten nicht mehr, bis in die Infrastruktur. Gucken Sie sich mal die Landkarte an. Alle neuen Verkehrswege, die in der bundesrepublikanischen Zeit entstanden waren, waren alles Nord-Süd-Verbindungen. Es gab gar keine horizontalen mehr. Wenn Sie eine Landkarte von der Zeit vorm Zweiten Weltkrieg sehen, dann sehen Sie, dass Europa im Grunde genommen horizontal organisiert war.
Anders wieder: Der Ostdeutsche beging jeden Abend vorm Fernseher Republikflucht. Der brauchte den Westen noch, für sein Denken, für seine Information. Der Wunsch nach Wiedervereinigung, der war so verboten, dass wir den Wunsch sogar vor uns selbst verheimlicht haben. Aber als die Möglichkeit dazu da war, war der Wunsch sofort wieder da. Auch als die Sachsen anfingen, wir sind ein Volk, da war ja bei den westdeutschen Linken, um Gottes willen, was kommt da für eine braune Sauce hoch. Ich sagte immer, nein, nein, das war die Neukonstituierung der Nation. Der DDR ist nicht gelungen, dem Menschen ein Gefühl von Beheimatung zu geben.
Ich hab im Ministerrat eine Studie vorgefunden von Historikern der DDR aus dem Jahre 1987, in dem sie an Stoph schrieben, es sei der DDR offensichtlich nicht gelungen, den Menschen ein Gefühl der nationalen Beheimatung zu geben. Sie empföhlen dringend, die Länder in Ostdeutschland wieder einzuführen, um die Leute wieder an ihre kulturelle Identität zu binden. Und vielleicht könne man dann über diese Weise den Ausreiseprozess stoppen und Ähnliches mehr.
Müchler: Aber da war es zu spät?
de Maizière: Da war es zu spät. Ich meine, der DDR-Führung ist ja irgendwann bekannt geworden, dass dieses Negieren von Geschichte falsch ist. Denn sie hatten plötzlich vierteilige Filme "Sachsens Glanz und Preußens Gloria". Herr Engelbert durfte Bismarck schreiben. Der Friedrich II. durfte wieder unter den Linden reiten, nachdem er 40 Jahre lang im Park von Sanssouci sich hatte verstecken müssen oder, Gott sei Dank, versteckt worden ist, diese schöne Christian-Rauch-Plastik. Und ein Volk, das geschichtslos ist, wird gesichtslos. Und das ist zu spät erkannt worden.
Aber was heißt "zu spät erkannt worden"? Damit hätte man die DDR auch nicht gerettet, aber die Kinder in Ostdeutschland waren irgendwann - Frau Honecker, man sagte ja, die Zwangsadoption und so weiter - ich sage, das Entscheidende, was ich ihr vorwerfe, ist, dass sie zwei, fast drei Generationen von den klassischen Bildungsinhalten des Abendlandes abgetrennt und abgeschnitten hat. Die Entkirchlichung des Ostens ist ein ziemlich tiefgreifender und wahrscheinlich auch dauerhafter Prozess, der auf dies zurückzuführen ist.
Müchler: Die Regierung de Maizière war ein Transitorium, 199 Tage hat das für Sie…
de Maizière: Ich hab in meiner ersten Kabinettsitzung meinen Kollegen gesagt: Bitte, denken Sie immer daran, unsere Hauptaufgabe, die uns der Wähler gegeben hat, ist, uns selbst abzuschaffen.
Müchler: Und dennoch, in diesen 199 Tagen hat Ihre Regierung, ich glaube, 230 Gesetzentwürfe und Verordnungen auf den Weg gebracht. Ich stelle mir vor, dass das bis an den Rand der physischen Erschöpfung gegangen ist.
de Maizière: Wir haben es vor einer Weile noch mal zusammengestellt. In meinem Kabinett sind 759 Vorlagen bearbeitet worden, davon 143 Verordnungen und 96 Gesetze und drei große Staatsverträge. Das ist eine Menge Papier.
Ich bin morgens um halb sieben abgeholt worden und wurde in der Regel nachts um halb zwei, zwei wieder rausgekippt. Meine Sicherheitsleute haben in zwei Schichten gearbeitet. Ich habe immer gesagt, ich bin der Einzige, der nicht ausgetauscht wird, ausgewechselt wird. Ich hab, als die Politik begann, rund 65 Kilo gewogen. Am 3. Oktober oder 4. Oktober bin ich auf die Waage gestellt worden von einem Mediziner, da wog ich noch 52,5 Kilo. Und trotzdem habe ich das gut durchgestanden.
Müchler: Weil Sie mittags Bratsche geübt haben?
de Maizière: Das ist ein Grund sicherlich mit dafür, dass man seine Mitte behält. Das Zweite ist: Wir waren damals auf einem solchen Hochgefühl. Sie müssen Folgendes denken. Ich weiß noch, 1984 habe ich mit Freunden Quartett gespielt. Und danach saßen wir zusammen und fragten uns, was hält die Geschichte eigentlich für unsere Generation noch bereit. Und da sagte ich damals: Wir sind eine verlorene Generation. Wir können versuchen, ein bisschen zu dragieren, aber bewegen werden wir wohl nichts mehr können.
Und dann kam im März 1985 Gorbatschow und damit ein gewisser Hoffnungsschimmer. Wir haben ihn ja fast wie ein Messias begrüßt. Und nun kommt diese Wende, und plötzlich dürfen wir das Ganze noch mal packen. Wir dürfen noch mal ändern. Wir dürfen für unsere Kinder und Enkel nach vorne gucken. Das war ein so unglaubliches Gefühl. Das hat uns Kräfte und Flügel verliehen. Die ollen Griechen hatten so zwei Begriffe: Chronos, die ewige dahinfließende Zeit und andererseits Kairos, der Moment, den man ergreifen muss. Und wir haben ein richtiges Kairos-Erlebnis gehabt!
Müchler: In Ihrer ersten Regierungserklärung haben Sie gesagt: Die Teilung kann nur durch Teilen überwunden werden. Das ist dann sehr rasch zu einem geflügelten Wort geworden. Seither sind von Westdeutschen Transferleistungen in schier unvorstellbarer Höhe nach Ostdeutschland gegangen. Man kann den Westdeutschen, die heute immer noch brav ihren Soli entrichten, attestieren, sie haben sich an Ihr Wort gehalten, an das Wort von der Teilung? Würden Sie das so sehen?
de Maizière: Das würde ich durchaus so sehen wollen. Im Übrigen will ich sagen, als ich das Wort vom "Teilen kann nur durch Teilen überwunden werden", im Blick gehabt das Bild des Abendmahls. Man wendet sich einem anderen erst dann wirklich ganz zu, wenn man bereit ist, mit ihm zu teilen, und zwar nicht nur das Geld und das Essen, sondern auch mehr. Das Bild des Abendmahl-Teilens enthält ja wesentlich mehr des sich Mitteilens, des Miteinander-Schicksal-Teilen und so weiter.
Ich bin ja schon am Folgetag von Volker Rühe in der "Welt" sehr gerügt worden, das wäre natürlich dummes Zeug, und das würde überhaupt nicht teuer werden und so weiter und so fort. Ich war mir dessen schon bewusst, dass das eine teure Veranstaltung werden würde. Und ich stimme Ihnen voll zu, dass der Deutsche den Solidaritätsbeitrag, den wir natürlich auch bezahlen, das ist immer der Irrtum, wenn man sagt, dass der Westdeutsche ihn gezahlt hat, auch wir zahlen ihn, erst unsere 7,5 Prozent, später eben 5,5 Prozent auf die Steuersumme gezahlt wird. Und ich finde, dass es richtig bemerkenswert ist, er zahlt ihn ohne jedes Murren.
Wenn eine Steuer plausibel ist und als berechtigt angesehen wird, gibt dem Kaiser, was des Kaisers ist, dann tut es der Deutsche auch. Dass er aber auf seinen bereits versteuerten Lohn, den er spart fürs Alter, nun noch mal eine Kapitalertragssteuer zahlen würde, das ärgert ihn. Und deswegen haut er mit seinem Geld nach Luxemburg oder in die Schweiz ab oder Ähnliches mehr.
Müchler: Das kann man doch verstehen.
de Maizière: Ja, natürlich! Ich finde es ja auch nicht so sehr gerecht, weil ich sage, die einen verprassen es und lassen die Puppen tanzen und die anderen sind sparsam und zahlen die Kapitalertragssteuer. Nun kann man natürlich sagen, die Puppen tanzen lassen und Champagner trinken, da zahlen Sie sehr viel mehr als Sektsteuer und Branntweinsteuer und Weiß-ich-was-Steuern darauf. Aber es ist auch so dem bürgerlichen Lebensgefühl zuwider zu sagen, derjenige wird besser gestellt, der das Geld verprasst als derjenige, der es zurücklegt für schwere Zeiten.
Nein, aber was ich eigentlich sagen wollte, ist dieses: Ist eine Abgabe, eine Steuer plausibel, sinnvoll, findet sie im Bewusstsein der breiten Masse ein Widerlager, dann wird sie ohne Murren gezahlt.
Helmut Kohl und der Westen
de Maizière: "Ich glaube, ich habe in meinem Leben nie so sehr gefroren wie in dem Jahr in Bonn."
Müchler: Ihre Begegnungen mit der westdeutschen Politik, mit westdeutschen Politikern: Man hat den Eindruck, dass das für Sie teilweise ein Schock war, so eine Art Clash of Civilizations?
de Maizière: Es ist unterschiedlich. Es gab Politiker, mit denen ich mich von Anfang an gut verstanden habe, allen voran Wolfgang Schäuble, mit dem ich auch noch heute befreundet bin. Und wir betrachten es beide als einen wirklichen Schatz, dass wir in dieser Einigung uns gefunden haben und zu Freunden geworden sind.
Aber diese Geschäftsmäßigkeit, mit der Politik betrieben wurde, dieses Gefühl, auch bei manchen, dass ich das Gefühl hatte, Menschenskind, merken die gar nicht, was für einen patriotischen Moment wir haben, wo wir eigentlich zugreifen müssen und sagen müssen, jetzt oder nie. Und nun kommt dazu, dass ich ja kein Politiker war. Ich bin nicht groß geworden in dem Politikbetrieb. Ich habe keine Erfahrungen einer Jungen Union gesammelt. Ich habe keine Erfahrung gesammelt als wissenschaftlicher Mitarbeiter vom Landtagsabgeordneten X oder als Referent von Y, sondern ich bin aus dem Einzelkämpferberuf Anwalt am nächsten Tag in die Politik gekommen und war zunächst dann auch der Meinung, Politik macht man aus Überzeugung. Man muss sehr lernen, dass eben Politik im Wesentlichen aus Interessen geleitet wird.
Müchler: Sie haben Schäuble erwähnt. Schäuble, zu dem Sie sehr rasch Zutrauen und Freundschaft empfanden. Wie war es mit Helmut Kohl? Was hat Ihr Verhältnis zu Helmut Kohl zerrüttet?
de Maizière: Ich würde zunächst sagen, dass in der Zeit, wo es darauf ankam, wir beide respektvoll miteinander gearbeitet haben. Das ist erst mal wichtig festzustellen, und ich sage auch immer noch: Helmut Kohl hat bis zum 3. Oktober keinen nennenswerten Fehler gemacht.
Müchler: Er war der Kanzler der Einheit? Oder ist das eine Anmaßung?
de Maizière: Vor ein paar Jahren hat er ein Buch rausgegeben: "Ich wollte die Einheit". Und da sage ich, das ist die eigentliche Anmaßung zu sagen, die Einigung ist gekommen, weil er sie wollte, sondern sie ist gekommen, weil sie dran war und weil die Ostdeutschen sie wollten und weil die Ostdeutschen die Mauer eingedrückt haben.
Ich weiß zum Beispiel, der Journalist Bender hat mich mal angesprochen, da hat er gesagt: Ja, das ist ja so ungerecht, dass nicht Leute wie Egon Bahr und Willy Brandt, die diese Ostpolitik auf den Weg gebracht hätten, nun auch die Früchte hätten ernten können. Da habe ich zu ihm gesagt: Wissen Sie, Herr Bender, geerntet werden muss, wenn die Frucht reif ist. Und wir waren dran, als die Frucht reif war.
Müchler: Aber Kohl hat den Zeitpunkt erkannt. Er hat Kairos gehabt.
de Maizière: Der hat Kairos erkannt. Es gab ja nie den Brauch oder die Abstimmung, dass man sich in westeuropäischen Staaten abstimmte vor nennenswerten Entscheidungen. Ja, wenn er mit seinem Zehn-Punkte-Plan zu Frau Thatcher gegangen wäre, dann hätte es nie das Tageslicht erblickt. Insofern hat er diese Chance erkannt und hat sie ergriffen und hat sich auch über Bedenken im eigenen Lager weggesetzt. Er hat beispielsweise bei der Währungsunion den Umtauschkurs, über den Ökonomen noch lange diskutieren können, das war kein ökonomischer Kurs, das war ein politischer Kurs. Und der war richtig so. All dies hat er mit Bravour durchgestanden. Und wir sind uns dort auch in fairer Weise begegnet.
Dass er natürlich ein ganz anderes Gewicht hatte mit einem Staat, der gesund ist und finanzstark ist und 62 Millionen Bürger repräsentiert als ein vorm Konkurs stehender Ministerpräsident, steht auf einem ganz anderen Blatt. Ich bin am ersten Tag, als ich gewählt worden war, abends von zwei Journalisten, die immer so schlagartige Fragen stellten, was unterscheidet Sie von Helmut Kohl, habe ich gesagt, das Gewicht. Das war es denn auch.
Nein, ich glaube, dass ab einem bestimmten Zeitpunkt Helmut Kohl Politik so betrieben hat, wie er hofft, dass er sie mal im Geschichtsbuch über ihn steht und dann nicht mehr hingeguckt hat, auch was notwendig wäre. Ich habe ihm immer vorgeschlagen: Herr Bundeskanzler, Sie sollten jeden Monat eine Sitzung Ihres Kabinetts entweder in Dresden oder in Erfurt oder in Berlin oder in Schwerin oder in Magdeburg machen, den Menschen das Gefühl geben, dass Sie bei ihnen sind. Und auch die Bundestagsabgeordneten müssen die ostdeutschen Verhältnisse kennenlernen. Ich meine, vorm Umzug des Bundestages gab es Bundestagsabgeordnete, die noch nie im Osten gewesen waren. Und das war die Haltung auch.
Ich weiß zum Beispiel, 1994 fing Peter Hinze eine Kampagne an, die Rote-Socken-Kampagne. Und da habe ich gesagt, Kohl, ich traf ihn dann zufällig, ich sage: Das ist kontraproduktiv, das wird im Osten polarisiert und wird der PDS die Wähler eher zutreiben als sie wegnehmen, und das halte ich für einen großen Fehler. Und dann sagte er: Ja, bloß Sie vergessen, 80 Prozent des Wahlvolks wohnen im Westen und nur 20 Prozent im Osten. Und das sind Dinge, die mich geärgert haben, weil ich sage, wer so denkt, prolongiert im Grunde genommen Teilung und nicht Einigung.
Müchler: Man hat den Eindruck, Sie sind mit der Bonner Demokratie nicht richtig warm geworden. Sie haben über Polarisierung geklagt, haben gesagt, das Parteiensystem erstickt, die Demokratie. War das nicht etwas naiv? War das nicht die, ich will mal so nennen, die Romantik des Runden Tisches?
de Maizière: Sicherlich war es das. Allerdings müssen Sie davon ausgehen, am Runden Tisch haben wir Demokratie gelernt. Das war unsere, wenn auch kurze Lehrzeit. Und wir haben unsere Entscheidungen dort nach Sachgesichtspunkten gefällt. Auch in der Volkskammer haben wir mitunter Mehrheiten quer über die Parteien bekommen, wenn die Sache richtig war.
Wir haben den Versuch gemacht, die Menschen zu überzeugen, uns gegenseitig zu überzeugen. Auch den Prozess deutlich zu machen, der zu unserer Entscheidungsfindung geführt hat, glaube ich, dass wir für die Menschen verständlicher waren. Wenn wir es unter dem Gesichtsstichpunkt Politikverdrossenheit, was wir ja ständig hören, und Wahlbeteiligung, mal sehen, wie die jetzt so läuft, dann liegt das vielleicht gerade daran, dass es so ist, wie Sie eben beschreiben, diese Art von eingeübter Demokratie: Da kann es passieren, da sitzen von der Regierungskoalition nur zehne im Saal und 20 von den anderen, und es heißt bei der Abstimmung, mit den Stimmen der Koalition angenommen gegen die Stimmen der Opposition oder sonst irgendwas. Es muss vorher angedroht werden, persönliche Abstimmung oder sonst irgendwas.
Auch die Menschen in Ostdeutschland wollten Demokratie kennenlernen als neue Form des Sich-Beteiligens und nicht des Verwaltet-Werdens. Und diese Art hat oftmals das Gefühl, dass man verwaltet wird und nicht, dass dort um Entscheidungen gerungen wird.
Müchler: Über die Medien, so wie sie Sie kennengelernt haben, haben Sie mal gesagt: Die spielen sich ja auf wie die erste Macht im Staate. War das auch der Erfahrung geschuldet, die Sie zum Beispiel mit dem "Spiegel" gemacht haben? Wir kommen jetzt zu der Czerny-Affäre. Der "Spiegel" hat damals enthüllt, dass es eine Karteikarte gab, aus der hervorging, dass Sie Kontakt hatten mit der Stasi und dort tatsächlich oder angeblich unter dem Decknamen Czerny geführt wurden.
de Maizière: Ja.
Müchler: Sie haben die Rehabilitierung, wenn ich das einfach mal so sagen darf, nicht mit allerletzter Konsequenz betrieben. Und was herausgekommen ist, war so etwas wie ein Freispruch zweiter Klasse?
de Maizière: Wissen Sie, ich weiß gar nicht, ob es in diesem Fall einen Freispruch erster Klasse geben kann. Ich habe als Anwalt in der DDR ständig Kontakt mit der Staatssicherheit gehabt. Alle Leute, die ich im politischen Bereich verteidigt habe, waren zuvor in der Haftanstalt des Ministeriums für Staatssicherheit. Die waren das Untersuchungsorgan. Dort hat man natürlich auch mit denen von der Staatssicherheit versucht, irgendwelche Gentlemans Agreement oder Erleichterung zu verschaffen.
Es wäre völlig unsinnig gewesen, zu denen zu sagen: Hören Sie mal zu, ich halte Sie für einen Lumpen und für einen Verbrecher, aber trotzdem müssen wir jetzt mal miteinander über die Probleme meines Mandanten X reden. Der Bundestag hat nach der Wiedervereinigung ein Gesetz beschlossen zur Überprüfung von Anwalts- und Notarzulassungen. Und nach diesem Gesetz bin ich überprüft worden. Die Berliner Senatsjustizverwaltung hat das veranlasst. Da die Akten über mich vernichtet sind, hat man, wie ich finde höchst bedenklich, aus einer Kartei heraus alle Verfahren herausgezogen, bei dem Maizière als Verteidiger tätig war, und ist in die Stasiakten der Verteidigten ohne deren Zustimmung gegangen und hat nicht einen einzigen Fall von Parteienverrat oder Mandantenverrat oder sonstigen Dingen gefunden. Und nach anderthalb Jahren hat man mir mitgeteilt, es gebe keinen Grund zum Ergreifen von Maßnahmen nach diesem Gesetz.
Die hätten ja die Zulassung entziehen können oder sonst irgend so was. Haben sie nicht gemacht. Es gab keinen Grund dafür, Dreizeiler. Ich hab damals versucht, dieses Schreiben bei der Presse loszuwerden, weil ich dachte: Bitte schön, wenn ihr Spaß daran hattet, mich in den Dreck zu treten, müsstet ihr dann ja eigentlich auch... Ich hab nur taube Ohren gefunden. Nur die schlechte Nachricht ist eine Nachricht.
Müchler: Wissen Sie heute oder haben Sie eine Ahnung, wer damals dem "Spiegel" die Karteikarte zugespielt haben könnte?
de Maizière: Ob ich eine Ahnung habe? Ich habe eine Vermutung. Aber ich bin zu sehr Jurist, als dass ich mit Vermutungen in ein Massenmedium wie den Rundfunk gehen würde.
Müchler: Herr de Maizière, Sie haben in einem 1994 erschienenen Buch "Anwalt der Einheit" an einer Stelle gesagt: Heute bin ich ein kühler, zynischer Rationalist. Das ist ein ganz ungewöhnliches Selbstzeugnis.
de Maizière: Ich bin mein ganzes Leben lang immer viel rationaler als emotionaler gewesen. Vielleicht mit der Ausnahme des Musikmachens, da kann ich ganz der sein, der ich vom Gefühl her bin. Aber ich bin immer ein sehr rational denkender, ein sehr in Formen Denkender gewesen. Wir haben jetzt auch über Wirtschaft... Ich habe einfach sehr stark auch in der Wirtschaft in Zahlen gedacht und gelebt. Das war auch kein Schaden für mich in der entsprechenden Zeit.
Müchler: Aber zynisch?
de Maizière: Gut, ich weiß nicht, ob wenn ich das Buch heute noch mal redigieren würde, ob ich das stehen lassen würde.
Müchler: Es gibt auch zweites Zitat, das ich gerne nennen möchte. Da haben Sie gesagt, Sie verließen die Politik mit einer Mischung von Erleichterung, Wut und Trauer.
de Maizière: Erleichterung auf jeden Fall. Ich glaube, ich hab in meinem Leben nie so sehr gefroren wie in dem Jahr in Bonn. Das war eigentlich ein Klima, in dem ich nicht leben kann. Das war die Erleichterung. Wut auch, weil ich das Gefühl hatte, dass mir Unrecht getan worden ist. Und Trauer? Wissen Sie, wir waren ja 1989/90 alle der Meinung, wir sind ans Ende der Geschichte gelangt, und jetzt beginnt die Zeit des ewigen himmlischen Friedens. Ich entsinne mich an einen Satz zum Beispiel, den ich damals ganz toll fand. Heute weiß ich, dass er Unsinn ist. Ich hab damals gesagt: Wir sind aus der Phase der Friedenserhaltung in die Phase der Friedensgestaltung gekommen. Wir glaubten ja, mit dem Ende des Kalten Krieges wären auch alle Möglichkeiten von Kriegen zu Ende.
Aber diese Hoffnung nach so einem kleinen Gottesstaat, den hatten wir alle damals auch. Hans-Joachim Gauck hat das 1999 einmal sehr schön im Bundestag gesagt: Wir träumten das Paradies und wach geworden sind wir in Nordrhein-Westfalen. Um dann sofort zu sagen, er fände Nordrhein-Westfalen ein sehr schönes Land. Aber er wollte etwas sagen.
Wissen Sie, ich glaube, dass die Hoffnungen und die Gedanken, wie man sich die Zukunft vorstellt, so unglaublich überbordend sein müssen, bevor Menschen bereits sind, unter Einsatz ihrer Freiheit und ihrer Gesundheit, möglicherweise ihres Lebens auf die Straße zu gehen und an Veränderungen zu arbeiten. Wenn wir sagen, wir sind enttäuscht worden, sind wir ent-täuscht. Und wenn wir uns genau fragen, haben wir uns selber getäuscht.
Müchler: Noch ein Wort zu Angela Merkel. Sie war Sprecherin Ihrer Regierung. Heute ist sie Kanzlerin. Sie hat eine ganze Weile ihre Wohnung gehabt über Ihrem Büro hier in Berlin. Wie oft sind Sie Ihrer ehemaligen Angestellten begegnet?
de Maizière: Nicht so sehr häufig, weil wir einen ganz unterschiedlichen Tagesrhythmus hatten. Sie war schon weg, wenn ich in mein Büro kam und häufig auch noch nicht zu Hause, wenn ich das Büro wieder verlassen habe oder so was. Aber wir haben gelegentlich telefoniert. Auch jetzt ist das machbar. Es gab Zeiten, wo wir uns, sagen wir mal, ferner waren.
Ihre logischen und intellektuellen Fähigkeiten waren für mich immer ohne Zweifel, auch in der Zeit, wo sie für mich tätig war. Sie war auffallend scharf in der formalen Logik, in der Rationalität, in der Analyse und so weiter und so fort. Ich hab ihr das Durchsetzungsvermögen nicht zugetraut.
Müchler: Sie ist die Kanzlerin aus Ostdeutschland. Bedeutet das wirklich etwas? Haben vielleicht die Ostdeutschen durch sie, durch die Kanzlerschaft Merkel etwas stärker zu sich gefunden?
de Maizière: Ich hoffe, dass es so ist, obwohl manche sie nicht mehr als Ostdeutsche wahrnehmen. Und das ist auch, meine ich, wenn sie die Kanzlerin aller Deutschen sein will, dann kann sie nicht verleugnen, wo sie herkommt, aber sie muss natürlich auch bereit sein, gleichermaßen den arbeitslosen Ruhrkumpel zu vertreten wie den arbeitslosen Maschinenbauer aus Sachsen.
Aber es hat natürlich den Ostdeutschen auch ein Stück Gefühl davon gegeben. Es war doch eine Zeit lang mal so die Meinung in Deutschland, dass die Demarkationslinien am 8. Mai 1945 nach dem Intelligenzquotienten gezogen worden wäre. Und nun ist bewiesen, dass es offensichtlich andere Gründe gab für die Grenzziehung, jedenfalls nicht der Intelligenzquotient.
Was für die Geschichte bleibt
de Maizière: "Ich wollte der Anwalt der Ostdeutschen sein in diesem Prozess."
Müchler: Herr de Maizière, jeder Politiker denkt an sein Bild in der Geschichte, das Bild, das er mal haben möchte. Wie möchten Sie dereinst gesehen werden?
de Maizière: Ich glaube, der Titel des Buches, was Sie schon erwähnt haben, "Anwalt der Einheit". Ich hab mich in dem Prozess als Anwalt der Ostdeutschen begriffen. Ich hab immer gesagt, vor der Politik hatte ich im Jahr etwa 160 Mandanten, dann hatte ich mal ein Jahr lang 16 Millionen Mandanten. Und dann habe ich wieder die übliche Zahl von Mandanten.
Ich bin auch mal gefragt worden, ob ich denn bei bestimmten Regelungen nicht die Probleme der Westdeutschen mitbedacht hätte. Da hab ich immer gesagt: Ihr hattet eine sehr viel stärkere Lobby als wir Ostdeutschen. Ich wollte der Anwalt der Ostdeutschen sein in diesem Prozess. Und wenn ich sagen sollte, wie mir das gelungen ist, sage ich manchmal: Eigentlich haben wir das ganz redlich gemacht. Note zwei bis drei könnte man uns schon geben.