Heute erinnert nichts mehr an den Schrecken von damals. Das alte Schulgebäude ist wieder eine Schule, es gibt kein Denkmal, keine Gedenkplakette. Es ist, als ob es das Lager Trnopolje bei Prijedor, in dem vor 30 Jahren Tausende muslimische Frauen, Kinder und Alte interniert waren, nie gegeben hätte. Und genau deshalb sind Zeitzeugenberichte so wichtig, wie der von Mirsada Simchen-Kahrimanović.
„Sie kamen nachts in den Raum, es war dunkel, weibliche und männliche Körper waren nicht zu unterscheiden; sie bückten sich, torkelnd, betrunken, und suchten einen weiblichen Körper. Dann zogen sie ihn heraus, an Händen, Füßen, Haaren, unter Geschrei. Wir hörten die Mädchen stundenlang schreien. Die Männer lachten, tobten sich aus, wechselten sich ab. Ihren abgrundtiefen Hass und ihre Erniedrigungen unterstrichen die Soldaten mit Worten: ‘Wir löschen euch aus. Generation für Generation, eines Tages werden nur Serben übrigbleiben.‘ Am Ende oft ein Schuss.“
Das Kapitel über die Erlebnisse der Autorin als 13-jähriges Mädchen im Lager Trnopolje gehört sicherlich zu den erschütterndsten. „Must it go on?“, hatte im August 1992 das Time-Magazine gefragt: Auf dem Titelbild waren ausgemergelte Körper hinter Stacheldraht zu sehen. Die Weltöffentlichkeit war schockiert, und nach massiven internationalen Protesten wurde das Lager geschlossen - und der damals 13-jährigen Simchen-Kahrimanović gelang mit ihrer Mutter und Schwester die Flucht nach Deutschland.
Der Alltag der Flüchtlinge
Doch in Bosnien-Herzegowina gingen der Krieg und das Morden weiter. Davon erzählt Hasan Hasanović, in seinem Buch „Srebrenica überleben“. Wie viele andere Muslime war er mit seiner Familie nach Ausbruch des Krieges nach Srebrenica geflohen. Eindrücklich beschreibt Hasanović den Alltag der Tausenden Flüchtlinge in der belagerten Stadt: den Hunger und die Entbehrungen, die ständige Angst vor Granaten und den Scharfschützen der Armee von Ratko Mladic - gleichzeitig die Versuche der Menschen durch Bildung, Sport und Kultur so etwas wie Normalität aufrechtzuerhalten.
Die Hoffnung zu überleben wuchs, als Srebrenica 1993 zur UN-Schutzzone erklärt wurde. Aber schon früh, so berichtet Hasanović, gab es Zweifel an der Entschlossenheit der Blauhelmsoldaten:
„Sie sahen aus wie männliche Fotomodelle mit ihren modernen Haarschnitten und ihren eleganten Sonnenbrillen, sie rochen nach Parfum, und fast hatte man den Eindruck, sie machten Urlaub. Einmal ging ich mit meinem Freund Dževad in der Nähe der niederländischen Basis spazieren, als er mir davon erzählte, was ihm sein Vater von Ruanda berichtet hatte: dass die UN-Truppen die Menschen nicht beschützt hätten. Nun hatte er Angst, dass uns Ähnliches auch in Srebrenica drohte.“
Das Ende ist bekannt: Im Juli 1995 wurde die UN-Schutzzone von den Truppen Ratko Mladićs eingenommen, und innerhalb von nur vier Tagen wurden rund 8.000 bosnische Muslime auf bestialische Weise umgebracht. Hasan Hasanović hat das Massaker überlebt, weil er sich zuvor mit Tausenden anderen zur Flucht durch die Wälder entschieden hatte.
Die Last der Überlebenden
Doch mit dem Glück des Überlebthabens ist die Geschichte nicht zu Ende: Sowohl Simchen-Kahrimanović als auch Hasanović berichten für die Zeit nach dem Krieg von langanhaltenden Phasen der Halt- und Orientierungslosigkeit, von innerer Unruhe, Angstzuständen bis hin zu Panikattacken.
Simchen-Kahrimanović: „Ich dachte, die Rettung aus dem Lager sei die Erlösung und dass ich Glück gehabt hatte, überlebt zu haben. Ungeachtet der Schmerzen, die mir der Anblick all dieser Qualen, Vergewaltigungen und Tötungen bereitet hat, war ich dankbar, dass ich nicht ermordet worden war. Doch später hörte ich mich wohl Hunderte Male sagen, es wäre besser gewesen, wenn auch ich damals mein Leben verloren hätte.”
Und Hasanović schreibt: „Ich lebte in ständiger Angst, dass mir etwas Schlimmes zustoßen könnte. So verlor ich viele Jahre im Kampf mit meinen Ängsten, Albträumen und dem Leben selbst. Es fühlte sich an, als wäre ich ein Gefangener meines eigenen Verstands. Ich verlor die Freude am Leben und wurde ein kranker Mensch. Zu dieser Zeit konnte ich mit niemandem darüber reden, da sowas in unserer Kultur als Schande angesehen wird.“
Beide finden schließlich ihre eigenen Strategien des Weiterlebens. Hasan Hasanović arbeitet heute für die Gedenkstätte von Srebrenica. Jeden Tag erzählt er dort Besuchergruppen von seinen Erlebnissen. Und Mirsada Simchen-Kahrimanović läuft, jeden Morgen zehn Kilometer - und sie hat, auf der Basis ihrer Tagebücher, ihr Erinnerungsbuch geschrieben. Am Ende fährt sie zurück nach Bosnien und steht am Grab ihres Vaters.
Verbrechen werden geleugnet oder relativiert
Für beide Autoren zusätzlich schmerzhaft: Sowohl Srebrenica als auch das ehemalige Lager Trnopolje bei Prijedor liegen heute im serbisch kontrollierten Landesteil, der Republika Srpska. Dort werden die von Serben begangenen Kriegsverbrechen immer noch geleugnet und relativiert.
„Sie leugnen, dass es in Prijedor Lager gegeben hat. Sie leugnen die Massaker in Prijedor. Sie leugnen meine Erfahrung. Ich wünschte, sie hätten Recht, ich wünschte, es hätte die Lager nie gegeben.“
Beide Bücher sind auch geschrieben worden, um allen solchen Versuchen der Leugnung, des Wegschauens und der Relativierung entgegenzuwirken. Trotz der komplizierten Kriegsgeschichte sind sie voraussetzungslos zu lesen. Es sind beeindruckende Lebensgeschichten, die den fast schon vergessenen Krieg auf dem Balkan wieder in das öffentliche Bewusstsein rücken.
Hasan Hasanović: "Srebrenica überleben"
übersetzt von Filip Radunović.
Wallstein Verlag. 104 Seiten, 16 Euro.
übersetzt von Filip Radunović.
Wallstein Verlag. 104 Seiten, 16 Euro.
Mirsada Simchen-Kahrimanović: "Lauf, Mädchen, lauf!
- Mein Dorf in Bosnien, der Krieg und mein neues Leben "
wbg Theiss. 144 Seiten, 22 Euro.
- Mein Dorf in Bosnien, der Krieg und mein neues Leben "
wbg Theiss. 144 Seiten, 22 Euro.