Briefs: Es gibt in Kairo oder in Algier jährliche Buchmessen, aber keinen Buchhandel, wie wir ihn etwa in Deutschland kennen. Wie kommt man dort außerhalb dieser reinen Verkaufsveranstaltungen eigentlich zu einem Buch, Herr Burgmer?
Burgmer: Man kann in Ägypten nicht einfach bei Amazon ein Buch bestellen übers Internet. Geht nicht. Oder es geht nur teilweise, es funktioniert nicht, es funktioniert nicht mit allen Autoren, und so weiter. Und die Auflagen sind teilweise sehr klein, Sachbücher sind unheimlich schwer zu bekommen, sind sehr schnell zensiert, wenn sie politische Geschichten beinhalten.
Briefs: Besonders nach dem Militärputsch im Sommer 2013 und unter der Präsidentschaft von Ex-Armeechef Abdel-Fattah al-Sisi, der sich ja jetzt wieder zur Wahl stellt, hat die Kontrolle der Medien noch mehr zugenommen. Inwiefern ist das Schreiben in Ägypten ein heikles Geschäft?
Burgmer: Das politische Schreiben ist natürlich immer so ein Geschäft, wenn es sich bewegt zwischen Literatur und politischer Aktion oder politischer Zensur, die in Ägypten inzwischen ein Ausmaß erreicht hat, bei dem man eigentlich gar nicht mehr über die Literatur an sich reden muss, weil das Ausmaß greift bis in die kleinsten Poren jeglicher Meinungsäußerung ein, und der Literat ist nur ein Teil dieser öffentlichen Meinung und natürlich entsprechend betroffen.
"Wieso kommen Menschen in einer Revolution zusammen?"
Briefs: In Ihrem eigenen Roman-Debüt "Tausend Tage Hoffnung" über die ägyptische Revolution und ihr Scheitern – was ja in etwa 1.000 Tage in Anspruch genommen hat – schließt sich die fiktive Figur des Schriftstellers Sonallah am Ende der Armee an. Was für ein Mensch ist das, den Sie da charakterisieren?
Burgmer: Ich glaube, dass ein literarischer Zugang ermöglicht, dass man nachvollziehen kann, warum, wie, welche Motivationen bei Menschen herrschen und dass diese Motivationen auch nicht unbedingt immer eindeutig und einfach sind. Dieser Roman handelt eigentlich letztlich nur von drei Personen. Diese drei Personen charakterisieren in gewisser Weise drei Generationen. Das ist das Experimentierfeld gewesen.
Briefs: Unter welchen Einflüssen stehen der Großstadtmensch und Schriftsteller Sonallah und seine frühere Geliebte, die aus der Provinz stammende Amina, als sie sich zufällig während der Revolutionswirren auf dem Kairoer Tahrir-Platz wieder begegnen?
Burgmer: Die Frage ist, wieso kommen diese Menschen eigentlich in einer Revolution zusammen? Die Dynamik, die in der arabischen Welt am Werk ist, wälzt auf radikale, unmenschliche und mörderische Weise alles um. Die Gesellschaften werden in einer Art und Weise durchpflügt von Gewalt, Rohheit und Ignoranz, dass man sich nur wundern kann, dass es überhaupt noch Menschen gibt, die in irgendeiner Form irgendeinen sozialen Halt in diesen Gesellschaften haben.
Briefs: Warum besteht eine solch ungebrochene Begeisterung für Menschen- und Freiheitsrechte in einem Land, in dem es das nie gegeben hat?
Burgmer: Ich bleibe bei dem Begriff Revolution diesbezüglich, weil es die Ägypter selber tun. Es ist eine gescheiterte Revolution, aber Revolutionen sind immer ein großer Stoff, Revolutionen erlauben auch einen möglichen Blick in Gesellschaften hinein, einen tieferen Blick in das Verhalten von Menschen in Extremsituationen. Wie kommt es dazu, dass sich von einem Tag auf den anderen nicht mehr 500 Menschen auf einem Platz versammeln, um gegen ein System zu demonstrieren, sondern plötzlich 100.000? Was ist eigentlich der Grund dafür? Warum ist das aufgebrochen? Das erlaubt den Blick in eine mehr als nur arabisch-typische, menschliche oder sozialpolitische Verhaltensweise.
Interesse europäischer Leser an arabischer Welt schwindet
Briefs: Lässt sich eine Gesellschaft wie die ägyptische, die in den letzten 40 Jahren von rund 60 Millionen auf etwa 100 Millionen Menschen angewachsen ist und mit enormen infrastrukturellen und sozialen Problemen zu kämpfen hat, durch einen Roman besser verstehen als durch die journalistische Vermittlung?
Burgmer: Es kommt aus der arabischen Welt in den letzten Jahren relativ wenig an Literatur, die übersetzt wird von arabischen Autoren in unsere. Was auch damit zu tun hat, dass viele arabische Autoren einfach jetzt in Arabisch schreiben, junge Autoren große Schwierigkeiten haben, überhaupt verlegt zu werden, wahrgenommen zu werden aufgrund der politischen Situation, der objektiven Militärdiktatur, die in Ägypten herrscht und der damit einhergehenden intensiven Zensur, die dort ausgeübt wird. Aber auch weil es schwierig ist, einen Leserkreis sich zu erschließen in Europa, der sich auch verändert hat, und der nicht mehr ein kulturelles Interesse oder ein soziales Interesse an der arabischen Welt hat, sondern einfach in diesen extrem radikal-rechts dominierten öffentlichen Diskurs hineingezogen wurde.
Briefs: Oppositionelle Künstler und Journalisten versuchen doch, Antworten auf die aktuelle Gewalt des ägyptischen Machtapparates zu finden. Wird Emigration da zu einer letzten Möglichkeit?
Burgmer: Migration und Flucht ist einfach nur die Möglichkeit, das Leben zu retten, nicht mehr. Deshalb bleibt der Mensch immer entfremdet. Und die Gewalt, mit der das auch willentlich und bewusst in Kauf genommen wird, dass sich am Rande Europas die Gesellschaften zerfleischen, das ist einfach völlig schockierend. In Ägypten warten Tausende und Zehntausende darauf, diesen Schritt machen zu können, weil sich jeder Mensch ein anderes und besseres Leben verspricht. Dass er das tun kann, dass er überhaupt die Idee dazu hat, dass er überhaupt die Möglichkeiten sieht, das hat auch letztlich mit diesen arabischen Freiheitsbewegungen zu tun.
"Die Äußerungen ägyptischer Politiker würden bei uns noch nicht einmal als Witz im Kabarett gelten"
Briefs: Also hat sich im Realen in der ägyptischen Gesellschaft etwas verändert?
Burgmer: Es hat sich was verändert und es verändert sich immer noch stark, aber darüber liegt eine Struktur, die ist so dermaßen alt und so dermaßen schlecht, das kann man sich nicht vorstellen. Sämtliche Äußerungen ägyptischer Politiker, die würden bei uns noch nicht einmal als Witz im Kabarett gelten, weil man denken würde, das ist einfach zu blöd. Und das sind dort die Politiker, die das Sagen haben. Und wir fangen an, mit einem System, was nichts anderes ist, als eine Militärdiktatur, in der eine bestimmte Kaste von Leuten hunderttausend andere Leute anstellen, um 90 Millionen zu bewachen. In der eine Militärkaste dieses Land regiert, die gleichzeitig 60 Prozent aller Industriekomplexe sein Eigen nennt, und wir tun nichts anderes, als mit diesen Leuten Geschäfte zu machen.
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