Ein autokratisch, korrupt anmutender türkischer Präsident, im heftigen Streit mit dem US-Staatsoberhaupt. Alles Fiktion eigentlich, doch mit vielen Anspielungen auf die aktuelle Weltpolitik - zu sehen in einer Folge der Netflix-Serie "Designated Survivor". Der türkischen Rundfunkbehörde passte die Folge ganz und gar nicht: Sie verbot im April, dass sie in der Türkei zu sehen ist. Netflix parierte. Und Erdogan wetterte gegen den Konzern und andere soziale Medien:
"Verstehen Sie jetzt, warum wir gegen YouTube, Twitter, Netflix und andere soziale Medien sind? Es ist unbedingt erforderlich, dass diese Kanäle, in denen Lügen, Verleumdungen, Angriffe auf Persönlichkeitsrechte und Rufmorde stattfinden, endlich reguliert werden."
Die Behörde hat ihr Ziel erreicht
Das Thema Zensur ging für Netflix in die nächste Runde. Ab Mitte Juli wollte der Konzern in der Türkei eine neue Serie mit dem Titel "If Only" drehen. Doch das Kulturministerium erteilte keine Drehgenehmigung. Offiziell will sich Netflix dazu nicht äußern. Doch eine Quelle aus dem Netflix-Umfeld erklärt gegenüber Corso: Im Drehbuch habe es eine homosexuelle Nebenfigur gegeben. Das Ministerium forderte, dass die gestrichen wird. Netflix weigerte sich und sagte dafür die Serie komplett ab. Verständlich, aber tragisch, findet die Istanbuler Medienwissenschaftlerin Seda Kandemir:
"Die Haltung von Netflix ist diesmal begrüßenswert, es hat keine Zensur zugelassen. Aber schlussendlich wurde die Serie nicht ausgestrahlt. Das heißt, die Behörde hat ihr Ziel erreicht."
Im türkischen Fernsehen ist Zensur schon lange gang und gäbe. Die Rundfunkbehörde RTÜK kürzt rigoros Szenen, die sie als unmoralisch, obszön oder Angriff auf die nationale Integrität begreift. Was sie darunter versteht, ändert sich je nach politischem Klima. In den letzten Monaten etwa attackierte Erdogans Regierung vermehrt LGBT-Menschen. Dabei war Homosexualität in der Türkei noch nie verboten, stärkte Erdogan einst sogar die LGBT-Rechte. Der transsexuelle Megastar Bülent Ersoy war noch 2016 zum Abendessen im Präsidentenpalast. Doch je mehr die türkische LGBT-Community an Selbstbewusstsein gewinnt, umso mehr steht sie unter Beschuss, erklärt Regisseur Fehmi Öztürk:
"Früher was es nicht so problematisch, einen Film mit einer LGBT-Figur zu drehen, aber die Filmemacher taten es kaum. Jetzt ist es wie ein Verbot. Natürlich gibt es Filmemacher, die es trotzdem tun, so wie ich."
Selbstzensur gehört zum Filmalltag
In Öztürks neuem Kurzfilm "Free Fun" betritt ein junger Mann als queerer Charakter – also zugleich Mann und Frau – eine virtuelle Spielwelt. Die Szenerie strotzt vor sexuellen Anspielungen, hier hängt ein gigantischer Dildo, dort wälzen sich die Mitspieler halbnackt auf dem Sofa. Für die Türkei skandalös, weiß Öztürk:
"Mein Kurzfilm wurde auf vier Kontinenten gezeigt, hat auch viele Preise gewonnen, aber in der Türkei wurde er nur auf dem Istanbul Film Festival gezeigt. Die Festivals hier haben mittlerweile Angst, solche Filme auszuwählen. Man kann seine Geschichte erzählen, aber man kann sie nicht dem türkischen Publikum präsentieren. Und man hat große Schwierigkeiten, Förderung zu finden. Ich habe diesen Film mit meinem eigenen Geld produziert."
Gleichzeitig arbeitet Fehmi Öztürk auch als Regisseur der erfolgreichen türkischen TV-Familienserie "Unsere Geschichte". Selbstzensur gehört für ihn da zum Arbeitsalltag, gibt der Regisseur zu:
"Wir sagen uns schon im Vorhinein: Diese oder jene Szene könnte für Kritik sorgen, es wäre besser wenn wir auf die verzichten. Sexualität etwa besitzt keinen normaler Charakter in einer türkischen Serie. Die sind alle asexuell, nur ineinander verliebt. Wenn die Charaktere sich zu nahe kommen, wird gleich geschnitten. Nur ein bisschen küssen, dann wird ausgeblendet. Diese Vorgabe machen in der Regel die Fernsehkanäle."
Kurdenfrage und Putsche: Viele Geschichten bleiben unerzählt
Zugleich wenden sich junge Türken immer mehr vom Fernsehen ab, schauen lieber über Netflix, Youtube oder Amazon Videos und Filme in voller Länge. Ebenso organisieren sich regierungskritische Türken über Twitter und Instagram. Am Mittwoch verabschiedete Ankara nun ein Gesetz, das die Kontrolle über soziale Medien verschärft. Portale mit mehr als einer Million Nutzern müssen ab Oktober innerhalb von vier Stunden auf Beschwerden reagieren. Ein endloser Kreislauf, meint Medienwissenschaftlerin Kandemir:
"Die sozialen Medien bieten eine große Hoffnung, weil sie marginalisierten Gruppen eine großartige Plattform bieten. Genau deswegen werden jetzt neue Beschränkungen der sozialen Medien eingeführt. Wir kommen immer wieder an den gleichen Punkt. Kontrolle, Kontrolle, Kontrolle. Immer wenn die Regierung irgendwo die Kontrolle verliert, schreitet sie ein."
Dabei gibt es noch so viele Geschichten, die es wert wären, in türkischen Filmen und Serien erzählt zu werden. Die Kurdenfrage etwa, Massaker an Minderheiten, Putsche, der Freiheitskampf der Frauen. Wenn man es nur zulassen würde.