Der Ring ist längst offen: Während Vladimir Putin bei manchem westlichen Historiker unter Verdacht steht, in einer Parallelrealität wie in George Orwells Roman "1984" zu leben, beteuerte der russische Präsident unlängst, dass die Krim für Russland die gleiche Bedeutung habe wie der Tempelberg in Jerusalem für Moslems und Juden. Jede Grenze historischer Vergleiche ist längst gefallen, und ebenso sehr scheinen seit Beginn der Maidan-Proteste vor einem Jahr auch innerhalb der Ukraine die Fronten zwischen West und Ost verhärtet zu sein. Für den Berliner Slawisten und Historiker Matthias Schwartz behindern der Kampf um Bilder und nationale Narrative sowie die folkloristische Heroisierung der Kämpfer auf beiden Seiten, die Sicht auf die Ursachen des Konflikts:
"Beim Maidan ließ sich das natürlich sehr gut beobachten. Es gab von Anfang an die Webcams, die das beobachtet haben, und die ganze Welt hat zugeguckt. Genauso wie Politiker aus der westlichen Welt, während die Ereignisse noch stattfanden, immer wieder hingereist sind und sich den Maidan angeguckt haben, haben das natürlich auch viele Revolutionstouristen gemacht. Der Kampf ist noch nicht abgeschlossen, und gleichzeitig kann ich schon hingehen und die Souvenirs vom Kampf kaufen, wo dann die Revolution auch sehr stark zu einem Massenspektakel wird."
Der Maidan, so Schwartz, sei heute eine von Kitsch beladene Projektionsfläche für die verschiedenen Versionen der Vorgänge im Land.
Der ukrainische Historiker Andrij Portnov beschäftigte sich in Berlin mit dem drohenden Zerfall des ukrainischen Staatsgebiets als postsowjetische Spätfolge. Die Ukraine stehe anders als kulturell, religiös und im historischen Selbstverständnis gefestigte Länder Osteuropas wie Polen seit der Unabhängigkeit vor großen nationalen Herausforderungen,
"In der Ukraine ist das völlig anders. Es gibt mindestens zwei Sprachen, sehr viele Kirchen, also drei orthodoxe Kirchen, viele verschiedene Erinnerungen. Für mich persönlich ist diese Vielfalt eine große Chance für das Land. Für viele Autoren ist das eine Gefahr. Aber ich denke, diese Vielfalt muss man nur klug und attraktiv benutzen, um ein neues, europäisches, demokratisches Land zu bauen."
Ukrainische Schriftsteller und Intellektuelle haben zum Einigungsprozess nur wenig beigetragen. Auch in Westeuropa gelesene Autoren wie Jurij Andruchowytsch und Mykola Rjabtschuk haben laut Portnov mit ihren humoristischen Romanen über den modernen Westen und den hoffnungslos sowjetisierten Osten des Landes die kulturelle Teilung sogar vorangetrieben.
Auch die Züricher Slawistin Tatjana Hofmann untersuchte die ambivalente Rolle ukrainischer Autoren und deren Rezeption im Westen. Viele proeuropäischen Kulturschaffenden in der Ukraine definierten oft genug ihre eigene kulturelle Identität allein über die Ablehnung des Ostens ihres Landes.
"Es ist sicherlich ein Indikator, auch irgendwo ein trauriger Indikator, weil man jetzt, aus der heutigen Reaktion heraus, nicht mehr ohne Krieg lesen kann, was in den letzten 20 Jahren geschrieben wurde, und was auch in Deutschland rezipiert und übersetzt wurde. Es ist ja auch die Frage, was wurde übersetzt, welche Autoren sind das? Wenn man sich diese Texte anschaut, sieht man einen deutlichen Diskurs der Polarisierung, gar des Dualismus, der die Ukraine nicht als solche in ihrer Vielfalt wahrnimmt, sondern die Ost-Ukraine abwertet."
Als leider einzige Wissenschaftlerin untersuchte die Berliner Slawistin Nina Weller, wie russische Schriftsteller das postsowjetische Trauma Russlands und den Verlust seiner Weltmachtstellung verarbeiten. Nach 1990 habe Russland einen Boom literarischer Zukunftsszenarien erlebt. So habe der ehemalige Duma-Sprecher Michhail Jurjev in seinem bereits 2007 erschienen Erfolgsroman "Das Dritte Reich" von einer russischen Weltmacht fantasiert, die sich im Kampf um die Ukraine einen Atomkrieg mit den USA liefert.
Für Weller sind derartige Fiktionen, die verstörend genau politische Entwicklungen andeuten, zugleich eine Aufarbeitung postsowjetischer Traumata. Die Tagung in Berlin zeigte, dass literarische und intellektuelle Diskurse zwar keine Wirklichkeiten schaffen, aber dennoch als narrative Vorlagen einer kriegerischen Realität dienen können.