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Zentrum für politische Schönheit
Manifest eines aggressiven Humanisten

Mit spektakulären Aktionen hat das Berliner "Zentrum für politische Schönheit" in jüngster Zeit Aufmerksamkeit erregt: Das Kollektiv aus Aktionskünstlern hat Mittelmeertote mitten in Berlin beerdigt. Treibende Kraft hinter diesen Aktionen ist Philipp Ruch. Welche Ideen ihn antreiben, lässt sich jetzt nachlesen in seinem neuen Buch "Wenn nicht wir, wer dann?".

Von Tamara Tischendorf |
    Mit beschmiertem Gesicht posiert Philipp Ruch vom "Zentrum für Politische Schönheit" am 08.08.2012 vor dem Reichstag in Berlin für den Fotografen.
    Mit beschmiertem Gesicht posiert Philipp Ruch vom "Zentrum für Politische Schönheit" vor dem Reichstag in Berlin. (picture alliance / dpa / Kay Nietfeld)
    Haben Sie heute schon etwas Bedeutendes getan? Haben Sie sich schon gefragt:
    "Was will ich erreichen? Wofür will ich stehen? Welches ist die größte Tat, mit der mein Name einst verbunden werden soll?"
    Fragen wie Ausrufezeichen. Menschen in Philipp Ruchs engster Umgebung müssen sie aushalten und jetzt auch Leser seines Manifests:
    "Wir müssen nur eines tun: Aufhören, nichts zu tun. Es ist unsere Aufgabe als Menschen, Geschichte zu schreiben."
    Eine neue Richtung will der Aktivist der Politik vorgeben - mitten im rasenden Stillstand der vermeintlich sedierten Bundesrepublik. Statt auf dem Sofa vor dem Fernseher zu sitzen, während in Syrien Menschen umgebracht werden, gelte es, sich für mehr Mitmenschlichkeit einzusetzen.
    "Wir müssen alle lernen, Politik privat zu nehmen, persönlich verletzt und getroffen zu sein von dem, was wir nicht tun. Wir brauchen Menschen, die einen Akt der Solidarität leisten. Und wenn sie damit nur feststellen: Wir sehen euch. Wir schauen nicht weg. Wir sind auch entsetzt."
    Alarmistische Ton schrillt unentwegt im Ohr
    Dieser alarmistische Ton schrillt unentwegt im Ohr der Leser, das ganze Vorwort und den Prolog hindurch, auch noch später im Text. Anfangs mag das noch fesseln, bald wirkt es aber ermüdend. Mit aller Macht will das Manifest für einen "aggressiven Humanismus" seine potenziellen Verfechter aus der unterstellten Lethargie reißen. Und aus dem Irrglauben befreien, nichts bewirken zu können:
    "Eigentlich richtet es sich an Menschen, die in ihrem Alltag glauben, dass es auf sie nicht so ankäme und dass sie denken, es ist eh begrenzt, was sie tun können. Und an diese Menschen möchte ich mich eigentlich richten und unter anderem ein bisschen die Frage klären, dass es auf sie doch ankommt, und zwar in entscheidender Weise, dass es auf jeden einzelnen ankommt in unserer Gesellschaft."
    Wie es sich in einem anständigen Manifest gehört, widmet sich Philipp Ruch im ersten von insgesamt drei Kapiteln der Kritik an bestehenden Verhältnissen. In seiner Bestandsaufnahme ergründet er zunächst, woher die kollektive Handlungsunfähigkeit angesichts der vielen Verbrechen gegen die Menschlichkeit rührt. Die Diagnose lautet: Schon beim Denken kann man Fehler machen. Toxische Ideen seien es, die das rechte Selbstbild der Zeitgenossen zerfressen. Die Naturwissenschaften – Biologie, Neurowissenschaften und Psychologie - seien Schuld an der weit verbreiteten Mutlosigkeit:
    "Das einhellige Charakteristikum der Lehrgebilde, die auf uns einprasseln, ist die Entlarvung des Menschen als hässliche Bestie. Was macht es aus einem, wenn man auf die Straße tritt und Menschen als Bündel von Chemie, Fleischmasse und Trieben sieht? Man verliert, was bei den meisten Menschen Aufmerksamkeit weckt: seine Achtung. Die Entzauberung des Menschen, der vermeintlich nüchterne Blick, ist in Wahrheit ein Blick ohne Schönheit."
    Antimodernistische Reflexe
    Insbesondere Sigmund Freud wirft Philipp Ruch vor, "aus dem Menschen etwas Hässliches, Trauriges und Verletztes" gemacht zu haben. Bei ihm fände sich "kein Wort über die Selbstheilungskräfte der Seele" oder über "Größe, Schönheit und Mut." Frappierend ist, dass der Ideengeschichtler Ruch Freud dabei offenbar ohne jegliche historische Distanz liest. Generell überrascht Philipp Ruch mit seinen antimodernistischen Reflexen. Sie wollen so gar nicht zu den politischen Performances auf der Höhe der Zeit passen, mit denen sein Zentrum für politische Schönheit bekannt geworden ist. Im Text geht der Autor denn auch kaum auf dessen Aktionen ein. In den folgenden beiden Kapiteln von "Wenn nicht wir, wer dann?" durchforstet Philipp Ruch eklektizistisch die Ideengeschichte. Er sucht nach Ermutigung für die Gegenwart. Denn das 21. Jahrhundert könnte, wie er befürchtet, "das genozidalste der Weltgeschichte" werden:
    "Angesichts der dramatischen Umstände ist die Zeit gekommen für Visionen und für Menschen, die eher unkonventionell Denken und die gewohnt sind, auch mal ihrer Fantasie freien Lauf zu lassen und neue Lösungen zu finden, Kreativität in der Politik anzuwenden. Die alte Meinung ist leider immer noch viel zu verbreitet, dass Größe oder auch Ideen, Visionen in der Politik nichts zu suchen haben. Ich halte das für zynisch."
    Seine Gewährsmänner für ein neues Selbstverständnis findet er in der Vergangenheit. Aristoteles, Nietzsche, Kirkegaard – es ist eine versunkene Männerwelt, die sich da auftut. Mit viel Pathos feiert Ruch Fantasien der Selbstermächtigung, seien sie bei ihm auch demokratisch geläutert. Von heiligen Pflichten, geleisteten Schwüren und moralischen Glutkernen ist da völlig ironiefrei die Rede. Die Faszination am Martialischen, Existenziellen überstrahlt dabei die nachmoderne Welt, die ohne Heldentum auskommt und es eher mit professioneller Arbeitsteilung hält – auch auf dem Gebiet der humanitären Hilfe.
    "Große Menschen haben sich nie an dem orientiert, was ist, insbesondere dann nicht, wenn die Realität ihnen nicht genügte. Im Gegenteil, Genies setzten immer schon in die Welt, was sie darin vermissten."
    Neudeck und Schwarz-Schilling als Vorbilder
    Zeitgenossen wie Rupert Neudeck oder Christian Schwarz-Schilling taugen Phillipp Ruch aktuell als Vorbilder. Der eine, weil er einst die Hilfsorganisation Komitee Cap Anamur gründete und schon vor über zehn Jahren Flüchtlinge aus dem Mittelmeer fischte. Der andere, weil er als Minister für Post- und Telekommunikation Anfang der 1990er-Jahre zurücktrat: Aus Scham darüber, dass seine eigene Regierung gegen den Völkermord an Muslimen in Bosnien-Herzegowina nichts unternommen hatte. Für Philipp Ruch alles Akte politischer Schönheit. In Ausnahmezuständen gedeihen sie besser als im unspektakulären Alltag, gibt der Autor zu:
    "Selbst heute schon etwas Bedeutendes getan? Heute Morgen, Mittag, Nachmittag .... nö. Das kann man, glaube ich, auch nicht jeden Tag schaffen, da muss man auch ein bisschen mit den Kräften haushalten, man muss sich das so über die Woche legen."
    Philipp Ruchs Leidenschaft für einen neuen Humanismus vermittelt sich durchaus in seinem Manifest. Allerdings: Der bisweilen geradezu reaktionäre ideologische Unterbau und das unverhohlene Schielen auf den persönlichen Nachruhm übertönen als Störgeräusche beinahe alles. Wer sich ein Beiheft zu den sehr viel zeitgemäßeren Interventionen des Zentrums für politische Schönheit erhofft hatte, wird enttäuscht.
    Buchinfos:
    Philipp Ruch: "Wenn nicht wir, wer dann? Ein politisches Manifest",
    Ludwig Verlag München, 2015, 207 Seiten, Preis: 12,99 Euro, ISBN: 978-3-453-28071-7