Was wären Hölderlin und Nietzsche ohne ihre Lebenstragödien, Gottfried Benn und Pablo Neruda ohne ihre politischen Verwicklungen und ihre Frauen. Dichter, Schriftsteller sind ja nicht primär Produzenten ästhetisch zu deutender Werke – wir brauchen ihre Geschichte, um auch die unsere zu verstehen.
Gewiss hatte der Ost-Berliner Erzähler Klaus Schlesinger, der 2001 an Leukämie starb, nicht die illustre Aura der hier genannten. Aber seine Lebensspur ist untrennbar verbunden mit der großen Katastrophe der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts. Geboren 1937, also unter der Hitlerdiktatur, hineingewachsen in die DDR, die nach Schlesingers Pointierung, "kein Rechtsstaat", sondern ein "Linksstaat" war, "beherrscht vom autoritärsten, machtbesessensten Teil der Linken"; darum zog er schließlich 1980 nach manchen Querelen und Schikanen nach Westberlin, blieb aber mit einem DDR-Pass Bürger der DDR. Er übersiedelte nur, schlug die Tür zur DDR nicht zu. Daraus ist Klaus Schlesingers "Lebenstragödie" geworden.
Wo war sein Kopf? Wo sein Herz? Im Westen? Im Osten? So haben damals viele Freunde gefragt. Den Spuren dieses rastlosen, sich nie anpassenden Autors, dessen Leben und Schreiben schließlich vor allem in seiner transitiven Existenz aufzugehen schien, folgt die Biografin Astrid Köhler:
"Es ist die Geschichte eines Menschen, der Kosmopolit war und lebenslang an einen Ort gebunden blieb; der einst bedauert hatte, noch zu klein für die Hitlerjugend zu sein, und sich nachher den Ruf des Anarchisten erwarb; der die DDR verlassen und doch nie von ihr gelassen hat; der sich nicht festlegen lassen wollte und doch ein Mann von Prinzipien war: mit eigenem Kopf und doch auf Austausch angewiesen, herzlich und widerspenstig, umtriebig und verlässlich, als Erzähler ausschweifend und präzis. Und da dieses Leben und diese Umstände schließlich der Stoff für seine Arbeit waren, soll er hier auch immer wieder selbst zu Wort kommen: mit Erinnerungen, essayistischen Reflexionen und literarischen Kommentaren zu seiner -unserer - Geschichte."
Schlesingers Biografin Astrid Köhler beleuchtet gleich als Auftakt in nuce die intellektuelle, streitbare und zugleich sanfte Persönlichkeit des Schriftstellers und verweist auf die Struktur ihres Buches: Die Quellen sollen sprechen, Schlesingers Werk, der intensive Tagebuchschreiber, die Schilderungen befragter Zeitzeugen und die Dokumente, die Einblick in den staatlich gelenkten Literaturbetrieb liefern. Astrid Köhler tat gut daran, sich ob der vielen recherchierten authentischen Quellen mit eigenen Meinungen zurückzuhalten. Doch die Linien ihrer Darstellung bleiben klar.
Ihre Rekonstruktion von Schlesingers Lebenswelt nimmt in dem Maße an Dynamik und Farbigkeit zu, in dem mehr und mehr der politische Intellektuelle Schlesinger in Erscheinung tritt: zum Beispiel in den heute grotesk anmutenden Kämpfen um die Freiräume künstlerischer Subjektivität. Der Konflikt um die Ausbürgerung des Liedermachers Wolf Biermann 1976 ist in diesem Zusammenhang besonders zu nennen. Besonders lebendig ist die Darstellung von Schlesingers Ankunft in Westberlin. Er sucht den Kontakt zur Hausbesetzerszene. Dich auch hier, in Westberlin, fühlt er sich wie im Osten der Stadt als ein Zerrissener. Es erscheint nicht als verwunderlich, wenn Schlesinger in seinem 1990 erschienenen Buch "Fliegender Wechsel" von sich sagt:
"Ich bin alles halb. Halb Ost, halb West, halb Mieter, halb Besetzer, halb Schriftsteller, halb politischer Akteur, halb Familienvater, halb Alleinlebender."
Welch ein Lebensstoff für einen Roman und für eine Biografie! Wer aber war nun dieser Rebell? Er entstammte ursprünglich einer Berliner Arbeiterfamilie vom Prenzlauer Berg, die ihre "Klasse" verlassen hatte. Der Vater wurde Lagerexpedient bei Ullstein, die Mutter, ursprünglich Hausfrau, wurde in späteren Jahren Arbeiterin.
Früh zeigte sich der junge Schlesinger als renitenter Kopf: Wegen politischer Provokation musste er die Oberschule verlassen und während seiner ersten Ausbildungszeit in einem Chemielabor eckte er mit den Lehrern öfters an. Darum verweigerte man ihm auch die Zulassung zu einem Fachschulstudium. Eine praktische Berufsausbildung war ja für die meisten DDR-Schriftsteller in der Regel selbstverständlich. Prägend aber für Schlesinger, den künftigen Schriftsteller, werden seine Erfahrungen als Chemielaborant an der Charité und ein Kurs für literarische Reportage, der von dem Schweizer Journalisten Marcel Brun geleitet wird. Astrid Köhler berichtet von einer für den jungen Wilden damals typischen Reaktion:
"Der einzige bewusst oder unbewusst Aufmüpfige unter den Schülern war Klaus Schlesinger. Der einzige, der sich gelegentlich mit Brun stritt. Nicht über Handwerkliches oder das strenge Arbeitspensum, darin war er gefügiger Eleve wie alle. Sondern um Politisches. Ein Lied von Biermann, das wegen seiner Mauerschützenkritik von Brun verurteilt wurde, gab Schlesinger folgenden Anlass: Er sprang im Eifer des Wortgefechts auf den Tisch, schrie, spielte einen wild um sich schießenden Soldaten, hielt inne und sagte zu Brun: 'Und nun sag bloß, ich bin kein Schwein!'"
Schlesingers politische Haltung nimmt in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre literarische Gestalt an. Unvergesslich die an Kleist geschulten Geschichten in dem Erzählband "Berliner Traum", in dem der Berliner Traum als Albtraum geträumt wird, da ein treuer Staatsdiener der DDR unversehens, eben im Traum, in den Westteil der Stadt gelangt. Von diesem Buch an bleibt Berlin bis über das Jahr 1989 hinaus eine politisch zwar vereinigte, im Lebensalltag der Menschen aber weiterhin eine nicht geeinte Stadt. Schlesingers "persönliche Chronik" mit dem Titel "Fliegender Wechsel" bietet eine ergreifende Beschreibung seiner Zerrissenheit zwischen West und Ost.
Auch der folgende Sammelband "Von der Schwierigkeit, Westler zu werden", der ein enormes polemisches Echo wegen seiner Zuspitzungen auslöste. Schlesinger kritisierte vorschnelle Abrisse von markanten DDR-Bauten, plädierte aber im gleichen Atemzug dafür, alte Parteigrößen huldigenden Straßennamen zum Verschwinden zu bringen.
"Gegenüber dem Palast der Republik herrscht Totenstille. Wir warten auf den Abriss, der zwar auch von westlicher Seite her umstritten ist, aber ich wette, er steht für die Politiker so fest wie die nächste Fahrpreiserhöhung. Und die lauern nur auf einen günstigen Moment, den Bau rückstandslos zu entsorgen. Wie habe ich ihn einst ignoriert, und wie sehr bin ich heute an seinem Erhalt interessiert. Nostalgie? Mag ja sein, aber ich hänge auch an den schattigen Seiten meiner Geschichte, und ich würde es weniger tun, wüsste ich nicht, sie holte uns wieder ein, könnten wir uns nicht ständig vergewissern."
Es ist dieses Vergewissern der Geschichte, die Schlesinger in seinen beiden späten Büchern so eindringlich ins Spiel bringt: "Die Sache mit Randow", ein Roman über die jugendliche Verbrecherbande, die sogenannte Gladow-Bande, die Berlin in den vierziger und fünfziger Jahren in Angst und Schrecken versetzte, ein Buch, in dem er auch vier Jahrzehnte deutsches Leben Revue passieren lässt; und schließlich sein letzter Roman "Trug". Hier inspiriert ihn die geteilte Stadt zu einer brillanten, sich abenteuerlich verzweigenden Doppelgängergeschichte, weit über das romantische Motiv hinaus. "Ostalgie" ist dabei durchaus mit ihm Spiel.
Astrid Köhler nennt Schlesinger einen "Gruppenmenschen". In der Nachkriegsnot blühte der Schwarzhandel. Der zehnjährige Junge setzte sich in seiner Clique gerne haarsträubenden Abenteuern aus. Als junger Autor, gefördert vom Hinstorff Verlag in Rostock, durch Kurt Batt, dem genialen Cheflektor, und Konrad Reich, dem umsichtigen Verlagsleiter, schloss Schlesinger bald Freundschaft mit Autoren wie Ulrich Plenzdorf, Martin Stade und Franz Fühmann. Letzterer wurde für Schlesinger eine Art geistige Vaterfigur.
Nach Honeckers Aufstieg zum Generalsekretär 1969 ließ der weichere Kurs der Partei den Künsten nur wenige Jahre freieren Spielraum. Aber da war schon zuviel innerer Aufbruch bei den Autoren zu spüren.
Auf Schlesingers Initiative hin wurde als Gegenreaktion 1974 die kollektive Herausgabe einer Anthologie mit vielen Autoren im Selbstverlag, Thema "Berlin", geplant. Natürlich stieß das Projekt nicht bei allen Autoren auf Gegenliebe. Und bei der Staatssicherheit wurde daraus ein "Operativer Vorgang Selbstverlag". Erst zwei Jahrzehnte später, 1995, erschien die Sammlung mit 18 Beiträgen im Suhrkamp Verlag.
Die nächste Gefahr drohte für Schlesinger, Ulrich Plenzdorf, Martin Stade, Günter Kunert und etliche andere, als sie sich 1976 gegen die Ausbürgerung Wolf Biermanns aus der DDR stellten. Astrid Köhler bringt hierzu das zentrale Zitat aus einem Gespräch Schlesingers mit dem Funktionär der Bezirksleitung. Dieser teilte Schlesinger zur Beruhigung mit, es gehe nur um Biermann:
"'Klaus ich kann dir versichern, es richtet sich nur gegen einen.' Also gegen Biermann. Wir wechselten nur einige Worte, er hat versucht, mich zu beruhigen, und meinte, es ändere sich nichts, alles bleibe so, nur Biermann sei weg. Als ich das meinen Freunden erzählte, ist uns ein Bild, das unsere Situation mit einem Schlag charakterisierte, eingefallen. Wir zeichneten mehrere Kreise um einen Punkt in der Mitte, dort war die Macht, das Zentrum. Dann kam der erste Kreis, dann der zweite, der dritte, der vierte, so wie ein Atommodell. Im innersten Kreis war Hermann Kant, am nächsten zur Macht, und ganz außen, im letzten Kreis Biermann. Dahinter aber schon wir."
Doch die größere Konfrontation mit der Macht geschieht nicht aus einer bewussten oppositionellen Position heraus. Schlesinger lehnt diesen Begriff für seine Haltung sogar als zu eng ab. Er und sieben weitere Autoren schreiben 1979 einen Brief an Honecker, weil die DDR-Staatsanwaltschaft den Philosophen Robert Havemann und die Autoren Wolfgang Hilbig und Stefan Heym zu hohen Geldstrafen verurteilt hatte. Der Grund: Devisenvergehen. Sie hatten ihre Bücher ohne Genehmigung des Büros für Urheberrecht im Westen veröffentlicht.
"Ich weiß noch, wie für einen kurzen Moment ein Ziehen durch meinen Körper ging, als Kurt Bartsch und Klaus Poche in der Leipziger standen, den Brief an Honecker in der Hand. Und als klar wurde, er sollte fünf Tage nach dem Absenden öffentlich gemacht werden via Westfernsehen – vorausgesetzt, es käme keine Antwort. Ich zögerte nicht, zu unterschreiben. Aber dieses Gefühl, dieses Ziehen im Leib. Es könnte ja schief gehen."
Es ging auch schief. Denn die erhoffte Reaktion blieb aus. Stattdessen bekamen Schlesinger und die anderen Unterzeichner des Briefes wegen der Veröffentlichung in den Westmedien Repressalien in einem Ausmaß zu spüren, dass nicht nur er ans Weggehen dachte: Die Staatsmacht ahndete ihr Vorgehen mit dem Ausschluss aus dem Schriftstellerverband, mit Auftrittsverboten für Lesungen und Publikationsverboten. Das konnte zu Existenzvernichtung führen. Auf die Biermann-Affäre folgte nun die zweite Welle der Abwanderung nach Westen. Astrid Köhler deutet die bis dahin für unwahrscheinlich gehaltene parteiamtliche Gewährung von Pässen zur Ausreise so:
"Mit dem Exodus von DDR-Künstlern nach 1976 und der entsprechend hohen Anzahl von Ausbürgerungen war die Regierung in Zugzwang geraten und versuchte nun offensichtlich, einen etwas 'weicheren' Kurs zu fahren."
Im März 1980 hält sich Schlesinger, ausgestattet mit einem dreijährigen Reisevisum, zunächst allein mit seinem ältesten Sohn David in Westberlin auf.
Tatsächlich hatte er die Pässe für seine Frau, die Sängerin Bettina Wegner und die drei Söhne nach etlichen Hürdenläufen durch die Bürokratie zu seinen Bedingungen erhalten: Verbleib in der DDR-Staatsbürgerschaft, kein Ausreiseantrag.
Dazu war aber ein Brief Schlesingers an Honecker nötig geworden, da sich die Bewilligungen der Pässe zäh über Monate hinzog. Schlesinger berichtet:
"Und als wir alles in Sack und Tüten hatten, kam wieder eine Schwierigkeit. Da habe ich Honecker geschrieben, fünf Tage danach bekam ich einen Anruf: Kommen Sie her, Pässe sind da, alle fünf."
Man kann bis hierher Astrid Köhlers Darstellung von Schlesingers Leben in der DDR als den vergeblichen Versuch interpretieren, als Intellektueller zwar innerhalb der Gesellschaft unmittelbar wirken zu wollen, sich aber gleichzeitig für die ferne historische Utopie eines 'anderen' Sozialismus einzusetzen. Diese paradoxe, aber literarisch produktive Haltung führte immer mehr zu einem Hinausfallen aus der realen DDR-Gesellschaft. Für Schlesinger und seine Kollegen war Staatsnähe indiskutabel, sie wollten einen demokratischen Sozialismus, den zwar auch die Generation von Christa Wolf wollte, die aber zeitweise glaubte, es ginge nur mit Zugeständnissen an die Macht.
Klaus Schlesingers Grenzübertritt im März 1980 hieß also nicht, dass er seine Welt, Berlin-Ost, die DDR, innerlich verlassen wollte. Astrid Köhler hält im Zusammenhang mit einer Tagebuchstelle, in der ihm befreundete Autoren Vorhaltungen machen, folgende charakteristische Einstellung fest:
"Sehr schnell kristallisiert sich Schlesingers eigenartige Zwischenstellung heraus, hervorgerufen durch die Weigerung, dem Osten – auch politisch – den Rücken zu kehren. Immer wieder notierte er in seinem Tagebuch Dialoge folgender Art: 'Peter Schneider: Einmal wirst du dich sowieso entscheiden müssen. Ich: Aber diesen Moment zögere ich so lange hinaus, wie ich kann. Jochen Schädlich: Du tanzt zu lange auf der Mauer herum. Du bist in Gefahr abzustürzen!' Wo immer medienwirksame Treffen von ehemaligen DDR-Schriftstellern im Westen veranstaltet wurden, sagte er ab, schon 'aus Unlust heraus, einem Emigrantenzirkel anzugehören.'"
Dieser rastlose Schlesinger war nie nur der Schriftsteller, für den sein Tagewerk im Schreiben verankert war. Sein Leben verzehrt sich jetzt im Westen erst recht im politischen Engagement, in der Familie, in Freundschaften, in Liebesbeziehungen. Er lernt die Schriftstellerin Helga M. Novak kennen, später die taz-Redakteurin Christa Schmidt, beide Verbindungen führen auch zu literarischer Zusammenarbeit. Alles, was Schlesinger unternimmt, wird mit der gleichen Intensität und Leidenschaft betrieben, egal, ob als Demonstrant, Hausbesetzer oder in der Liebe. Der zwischen Ost- und West-Berlin sich Zerreißende, der Unbehauste sucht nach einem "anderen Ort", einem Utopia, das es nicht gibt, – und scheint seinen Platz zunächst in einer sich anarchisch gebärdenden Szene zu finden:
"Zunehmend enger wurde der Kontakt zur Westberliner Hausbesetzerszene, die Schlesinger lange, bevor er 'richtig' dazugehören sollte, als Sympathisant, regulärer Gast und Teilnehmer an Demonstrationen begleitet hat. Die Besetzer suchten namhafte Paten für ihre Häuser, Vertreter des politischen und kulturellen Lebens, um ihre Aktionen nach außen zu legitimieren. Schlesinger war, zusammen mit dem Schweizer Autor Reto Hänny, Pate eines solchen Hauses."
Bis es zu einer Übereinkunft mit dem Senat kommt, der anfänglich mit Räumung drohte, finden Straßendemos und Aktionen statt. Schlesinger ist immer dabei und notiert:
"Laufen. Rennen. Laufen. Die halbe Stadt auf den Beinen. Bis spät in die Nacht hinein. Brennende Barrikaden, beißender Qualm, Tränengasschwaden. Steine, Sprechchöre, Sirenengeheul. So habe ich die Stadt nur einmal erlebt, am 17. Juni vor fast dreißig Jahren."
Zwischen 1982 und 1992 verzehrt sich Schlesinger in der Hausbesetzerszene - zum Kummer seiner literarischen Freunde, denen er zwar von seinen Stoffen erzählte, das Schreiben indes überließ er anderen: Peter Schneider mit seinem Roman "Mauerspringer" und Thomas Brasch mit seinem Film "Engel aus Eisen". Beide Autoren wurden durch die mündlichen Erzählungen Klaus Schlesingers inspiriert.
Unter den eine Generation jüngeren Hausbesetzern - sie sind fast alle erst Mitte 20 - wird sein Rat geschätzt. Schlesinger wiederum fragt sich ein ums andere Mal: "Soll ich Politik machen oder Geschichten erzählen?" "Warum renne ich auf jede Demo?" Um gleich zu antworten, "Politik könne er nicht. Geschichten, ja."
Immer mehr kommt ihm die DDR–Wirklichkeit abhanden. Und als die Mauer schließlich fällt, nimmt er zwar an einigen Demonstrationen teil, aber nur mit halbem Herzen. Er habe das Gefühl - hält seine Biografin fest - durch seinen Weggang aus der einstigen DDR das Wichtigste verpasst zu haben:
"Darauf habe ich 30, 40 Jahre gewartet. Und nun muss ich mir es im Fernsehen angucken. So kann einer sein Leben verpassen."
Man hält den Atem vor Spannung an, wie Astrid Köhler Schlesingers Gang zur großen Kundgebung auf dem Alexanderplatz am 4. November 1989 rekonstruiert. Der Tag, an dem Christa Wolf noch einmal zum Bleiben in der DDR und zur Erneuerung des Sozialismus aufruft. "Im Herzen ein Entschluss, im Kopf eine Rede", notiert Schlesinger. Doch er steigt dann doch nicht auf die Bühne. Eine schmerzhafte Selbsterkenntnis:
"Dort, zwanzig Schritte von der Rednerbühne entfernt, muss ich wohl begriffen haben, dass mir das Land, dessen Pass ich in der Tasche trug, in den zehn Jahren meiner Abwesenheit eine Fremde geworden war, vertraut, aber fern."
Nicht die Dramatik der Ereignisse hat ein Drehbuch vorgegeben, sondern die Geschichte selbst, in der Schlesinger als Schriftsteller der DDR so sehr mit Kopf und Fuß Teil der Ereignisse war; besonders durch die absurde Überschätzung der Schriftsteller durch die Staatsmacht, weil sie die Literatur für subversiv hielt.
Als die Gauck–Behörde die Akten der Stasi öffnete und die ersten IM's unter Schriftstellern bekannt wurden, erreichte nun etliche DDR-Autoren eine seltsame und im Fall Schlesingers eine gefährliche, exemplarische West-Aufmerksamkeit. Durch ein Gerücht, ausgelöst durch den Racheakt einer verlassenen Geliebten, musste sich Schlesinger plötzlich als mutmaßlicher IM verteidigen, - ohne sofort an seine Akte zu gelangen.
Nach für ihn zermürbenden Wochen in einer Atmosphäre der Hexenjagd, Wochen, in denen sogar Freunde ihm misstrauten, konnte Schlesinger schließlich mit Gelassenheit reagieren. Er verzieh sogar seinen in den Stasi-Akten vorgefundenen Informanten.
Man könnte Adornos Diktum "Es gibt kein richtiges Leben im falschen" durchaus als Motto über Klaus Schlesingers Biografie stellen. Kaum ein anderer Autor aus der ehemaligen DDR hat die Zerrissenheit zwischen Ost und West so schmerzhaft am eigenen Leibe erfahren wie Klaus Schlesinger. Seine von der deutsch-deutschen Geschichte geprägte und gespaltene Existenz hat Astrid Köhler in ihrer Biografie ungemein spannend erzählt und auch für diejenigen, die zu Schlesingers Zeiten nicht am Puls der Zeit lebten, sehr überzeugend geschildert. Und es ist auch äußerst verdienstvoll, dass Astrid Köhler mit ihrem Buch die literarischen Werke des Autors Klaus Schlesinger am Leben hält.
Buchinfos:
Astrid Köhler: Klaus Schlesinger. Die Biografie: Aufbau Verlag Berlin. 2011, 394 Seiten, Preis: 26,99 Euro
Gewiss hatte der Ost-Berliner Erzähler Klaus Schlesinger, der 2001 an Leukämie starb, nicht die illustre Aura der hier genannten. Aber seine Lebensspur ist untrennbar verbunden mit der großen Katastrophe der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts. Geboren 1937, also unter der Hitlerdiktatur, hineingewachsen in die DDR, die nach Schlesingers Pointierung, "kein Rechtsstaat", sondern ein "Linksstaat" war, "beherrscht vom autoritärsten, machtbesessensten Teil der Linken"; darum zog er schließlich 1980 nach manchen Querelen und Schikanen nach Westberlin, blieb aber mit einem DDR-Pass Bürger der DDR. Er übersiedelte nur, schlug die Tür zur DDR nicht zu. Daraus ist Klaus Schlesingers "Lebenstragödie" geworden.
Wo war sein Kopf? Wo sein Herz? Im Westen? Im Osten? So haben damals viele Freunde gefragt. Den Spuren dieses rastlosen, sich nie anpassenden Autors, dessen Leben und Schreiben schließlich vor allem in seiner transitiven Existenz aufzugehen schien, folgt die Biografin Astrid Köhler:
"Es ist die Geschichte eines Menschen, der Kosmopolit war und lebenslang an einen Ort gebunden blieb; der einst bedauert hatte, noch zu klein für die Hitlerjugend zu sein, und sich nachher den Ruf des Anarchisten erwarb; der die DDR verlassen und doch nie von ihr gelassen hat; der sich nicht festlegen lassen wollte und doch ein Mann von Prinzipien war: mit eigenem Kopf und doch auf Austausch angewiesen, herzlich und widerspenstig, umtriebig und verlässlich, als Erzähler ausschweifend und präzis. Und da dieses Leben und diese Umstände schließlich der Stoff für seine Arbeit waren, soll er hier auch immer wieder selbst zu Wort kommen: mit Erinnerungen, essayistischen Reflexionen und literarischen Kommentaren zu seiner -unserer - Geschichte."
Schlesingers Biografin Astrid Köhler beleuchtet gleich als Auftakt in nuce die intellektuelle, streitbare und zugleich sanfte Persönlichkeit des Schriftstellers und verweist auf die Struktur ihres Buches: Die Quellen sollen sprechen, Schlesingers Werk, der intensive Tagebuchschreiber, die Schilderungen befragter Zeitzeugen und die Dokumente, die Einblick in den staatlich gelenkten Literaturbetrieb liefern. Astrid Köhler tat gut daran, sich ob der vielen recherchierten authentischen Quellen mit eigenen Meinungen zurückzuhalten. Doch die Linien ihrer Darstellung bleiben klar.
Ihre Rekonstruktion von Schlesingers Lebenswelt nimmt in dem Maße an Dynamik und Farbigkeit zu, in dem mehr und mehr der politische Intellektuelle Schlesinger in Erscheinung tritt: zum Beispiel in den heute grotesk anmutenden Kämpfen um die Freiräume künstlerischer Subjektivität. Der Konflikt um die Ausbürgerung des Liedermachers Wolf Biermann 1976 ist in diesem Zusammenhang besonders zu nennen. Besonders lebendig ist die Darstellung von Schlesingers Ankunft in Westberlin. Er sucht den Kontakt zur Hausbesetzerszene. Dich auch hier, in Westberlin, fühlt er sich wie im Osten der Stadt als ein Zerrissener. Es erscheint nicht als verwunderlich, wenn Schlesinger in seinem 1990 erschienenen Buch "Fliegender Wechsel" von sich sagt:
"Ich bin alles halb. Halb Ost, halb West, halb Mieter, halb Besetzer, halb Schriftsteller, halb politischer Akteur, halb Familienvater, halb Alleinlebender."
Welch ein Lebensstoff für einen Roman und für eine Biografie! Wer aber war nun dieser Rebell? Er entstammte ursprünglich einer Berliner Arbeiterfamilie vom Prenzlauer Berg, die ihre "Klasse" verlassen hatte. Der Vater wurde Lagerexpedient bei Ullstein, die Mutter, ursprünglich Hausfrau, wurde in späteren Jahren Arbeiterin.
Früh zeigte sich der junge Schlesinger als renitenter Kopf: Wegen politischer Provokation musste er die Oberschule verlassen und während seiner ersten Ausbildungszeit in einem Chemielabor eckte er mit den Lehrern öfters an. Darum verweigerte man ihm auch die Zulassung zu einem Fachschulstudium. Eine praktische Berufsausbildung war ja für die meisten DDR-Schriftsteller in der Regel selbstverständlich. Prägend aber für Schlesinger, den künftigen Schriftsteller, werden seine Erfahrungen als Chemielaborant an der Charité und ein Kurs für literarische Reportage, der von dem Schweizer Journalisten Marcel Brun geleitet wird. Astrid Köhler berichtet von einer für den jungen Wilden damals typischen Reaktion:
"Der einzige bewusst oder unbewusst Aufmüpfige unter den Schülern war Klaus Schlesinger. Der einzige, der sich gelegentlich mit Brun stritt. Nicht über Handwerkliches oder das strenge Arbeitspensum, darin war er gefügiger Eleve wie alle. Sondern um Politisches. Ein Lied von Biermann, das wegen seiner Mauerschützenkritik von Brun verurteilt wurde, gab Schlesinger folgenden Anlass: Er sprang im Eifer des Wortgefechts auf den Tisch, schrie, spielte einen wild um sich schießenden Soldaten, hielt inne und sagte zu Brun: 'Und nun sag bloß, ich bin kein Schwein!'"
Schlesingers politische Haltung nimmt in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre literarische Gestalt an. Unvergesslich die an Kleist geschulten Geschichten in dem Erzählband "Berliner Traum", in dem der Berliner Traum als Albtraum geträumt wird, da ein treuer Staatsdiener der DDR unversehens, eben im Traum, in den Westteil der Stadt gelangt. Von diesem Buch an bleibt Berlin bis über das Jahr 1989 hinaus eine politisch zwar vereinigte, im Lebensalltag der Menschen aber weiterhin eine nicht geeinte Stadt. Schlesingers "persönliche Chronik" mit dem Titel "Fliegender Wechsel" bietet eine ergreifende Beschreibung seiner Zerrissenheit zwischen West und Ost.
Auch der folgende Sammelband "Von der Schwierigkeit, Westler zu werden", der ein enormes polemisches Echo wegen seiner Zuspitzungen auslöste. Schlesinger kritisierte vorschnelle Abrisse von markanten DDR-Bauten, plädierte aber im gleichen Atemzug dafür, alte Parteigrößen huldigenden Straßennamen zum Verschwinden zu bringen.
"Gegenüber dem Palast der Republik herrscht Totenstille. Wir warten auf den Abriss, der zwar auch von westlicher Seite her umstritten ist, aber ich wette, er steht für die Politiker so fest wie die nächste Fahrpreiserhöhung. Und die lauern nur auf einen günstigen Moment, den Bau rückstandslos zu entsorgen. Wie habe ich ihn einst ignoriert, und wie sehr bin ich heute an seinem Erhalt interessiert. Nostalgie? Mag ja sein, aber ich hänge auch an den schattigen Seiten meiner Geschichte, und ich würde es weniger tun, wüsste ich nicht, sie holte uns wieder ein, könnten wir uns nicht ständig vergewissern."
Es ist dieses Vergewissern der Geschichte, die Schlesinger in seinen beiden späten Büchern so eindringlich ins Spiel bringt: "Die Sache mit Randow", ein Roman über die jugendliche Verbrecherbande, die sogenannte Gladow-Bande, die Berlin in den vierziger und fünfziger Jahren in Angst und Schrecken versetzte, ein Buch, in dem er auch vier Jahrzehnte deutsches Leben Revue passieren lässt; und schließlich sein letzter Roman "Trug". Hier inspiriert ihn die geteilte Stadt zu einer brillanten, sich abenteuerlich verzweigenden Doppelgängergeschichte, weit über das romantische Motiv hinaus. "Ostalgie" ist dabei durchaus mit ihm Spiel.
Astrid Köhler nennt Schlesinger einen "Gruppenmenschen". In der Nachkriegsnot blühte der Schwarzhandel. Der zehnjährige Junge setzte sich in seiner Clique gerne haarsträubenden Abenteuern aus. Als junger Autor, gefördert vom Hinstorff Verlag in Rostock, durch Kurt Batt, dem genialen Cheflektor, und Konrad Reich, dem umsichtigen Verlagsleiter, schloss Schlesinger bald Freundschaft mit Autoren wie Ulrich Plenzdorf, Martin Stade und Franz Fühmann. Letzterer wurde für Schlesinger eine Art geistige Vaterfigur.
Nach Honeckers Aufstieg zum Generalsekretär 1969 ließ der weichere Kurs der Partei den Künsten nur wenige Jahre freieren Spielraum. Aber da war schon zuviel innerer Aufbruch bei den Autoren zu spüren.
Auf Schlesingers Initiative hin wurde als Gegenreaktion 1974 die kollektive Herausgabe einer Anthologie mit vielen Autoren im Selbstverlag, Thema "Berlin", geplant. Natürlich stieß das Projekt nicht bei allen Autoren auf Gegenliebe. Und bei der Staatssicherheit wurde daraus ein "Operativer Vorgang Selbstverlag". Erst zwei Jahrzehnte später, 1995, erschien die Sammlung mit 18 Beiträgen im Suhrkamp Verlag.
Die nächste Gefahr drohte für Schlesinger, Ulrich Plenzdorf, Martin Stade, Günter Kunert und etliche andere, als sie sich 1976 gegen die Ausbürgerung Wolf Biermanns aus der DDR stellten. Astrid Köhler bringt hierzu das zentrale Zitat aus einem Gespräch Schlesingers mit dem Funktionär der Bezirksleitung. Dieser teilte Schlesinger zur Beruhigung mit, es gehe nur um Biermann:
"'Klaus ich kann dir versichern, es richtet sich nur gegen einen.' Also gegen Biermann. Wir wechselten nur einige Worte, er hat versucht, mich zu beruhigen, und meinte, es ändere sich nichts, alles bleibe so, nur Biermann sei weg. Als ich das meinen Freunden erzählte, ist uns ein Bild, das unsere Situation mit einem Schlag charakterisierte, eingefallen. Wir zeichneten mehrere Kreise um einen Punkt in der Mitte, dort war die Macht, das Zentrum. Dann kam der erste Kreis, dann der zweite, der dritte, der vierte, so wie ein Atommodell. Im innersten Kreis war Hermann Kant, am nächsten zur Macht, und ganz außen, im letzten Kreis Biermann. Dahinter aber schon wir."
Doch die größere Konfrontation mit der Macht geschieht nicht aus einer bewussten oppositionellen Position heraus. Schlesinger lehnt diesen Begriff für seine Haltung sogar als zu eng ab. Er und sieben weitere Autoren schreiben 1979 einen Brief an Honecker, weil die DDR-Staatsanwaltschaft den Philosophen Robert Havemann und die Autoren Wolfgang Hilbig und Stefan Heym zu hohen Geldstrafen verurteilt hatte. Der Grund: Devisenvergehen. Sie hatten ihre Bücher ohne Genehmigung des Büros für Urheberrecht im Westen veröffentlicht.
"Ich weiß noch, wie für einen kurzen Moment ein Ziehen durch meinen Körper ging, als Kurt Bartsch und Klaus Poche in der Leipziger standen, den Brief an Honecker in der Hand. Und als klar wurde, er sollte fünf Tage nach dem Absenden öffentlich gemacht werden via Westfernsehen – vorausgesetzt, es käme keine Antwort. Ich zögerte nicht, zu unterschreiben. Aber dieses Gefühl, dieses Ziehen im Leib. Es könnte ja schief gehen."
Es ging auch schief. Denn die erhoffte Reaktion blieb aus. Stattdessen bekamen Schlesinger und die anderen Unterzeichner des Briefes wegen der Veröffentlichung in den Westmedien Repressalien in einem Ausmaß zu spüren, dass nicht nur er ans Weggehen dachte: Die Staatsmacht ahndete ihr Vorgehen mit dem Ausschluss aus dem Schriftstellerverband, mit Auftrittsverboten für Lesungen und Publikationsverboten. Das konnte zu Existenzvernichtung führen. Auf die Biermann-Affäre folgte nun die zweite Welle der Abwanderung nach Westen. Astrid Köhler deutet die bis dahin für unwahrscheinlich gehaltene parteiamtliche Gewährung von Pässen zur Ausreise so:
"Mit dem Exodus von DDR-Künstlern nach 1976 und der entsprechend hohen Anzahl von Ausbürgerungen war die Regierung in Zugzwang geraten und versuchte nun offensichtlich, einen etwas 'weicheren' Kurs zu fahren."
Im März 1980 hält sich Schlesinger, ausgestattet mit einem dreijährigen Reisevisum, zunächst allein mit seinem ältesten Sohn David in Westberlin auf.
Tatsächlich hatte er die Pässe für seine Frau, die Sängerin Bettina Wegner und die drei Söhne nach etlichen Hürdenläufen durch die Bürokratie zu seinen Bedingungen erhalten: Verbleib in der DDR-Staatsbürgerschaft, kein Ausreiseantrag.
Dazu war aber ein Brief Schlesingers an Honecker nötig geworden, da sich die Bewilligungen der Pässe zäh über Monate hinzog. Schlesinger berichtet:
"Und als wir alles in Sack und Tüten hatten, kam wieder eine Schwierigkeit. Da habe ich Honecker geschrieben, fünf Tage danach bekam ich einen Anruf: Kommen Sie her, Pässe sind da, alle fünf."
Man kann bis hierher Astrid Köhlers Darstellung von Schlesingers Leben in der DDR als den vergeblichen Versuch interpretieren, als Intellektueller zwar innerhalb der Gesellschaft unmittelbar wirken zu wollen, sich aber gleichzeitig für die ferne historische Utopie eines 'anderen' Sozialismus einzusetzen. Diese paradoxe, aber literarisch produktive Haltung führte immer mehr zu einem Hinausfallen aus der realen DDR-Gesellschaft. Für Schlesinger und seine Kollegen war Staatsnähe indiskutabel, sie wollten einen demokratischen Sozialismus, den zwar auch die Generation von Christa Wolf wollte, die aber zeitweise glaubte, es ginge nur mit Zugeständnissen an die Macht.
Klaus Schlesingers Grenzübertritt im März 1980 hieß also nicht, dass er seine Welt, Berlin-Ost, die DDR, innerlich verlassen wollte. Astrid Köhler hält im Zusammenhang mit einer Tagebuchstelle, in der ihm befreundete Autoren Vorhaltungen machen, folgende charakteristische Einstellung fest:
"Sehr schnell kristallisiert sich Schlesingers eigenartige Zwischenstellung heraus, hervorgerufen durch die Weigerung, dem Osten – auch politisch – den Rücken zu kehren. Immer wieder notierte er in seinem Tagebuch Dialoge folgender Art: 'Peter Schneider: Einmal wirst du dich sowieso entscheiden müssen. Ich: Aber diesen Moment zögere ich so lange hinaus, wie ich kann. Jochen Schädlich: Du tanzt zu lange auf der Mauer herum. Du bist in Gefahr abzustürzen!' Wo immer medienwirksame Treffen von ehemaligen DDR-Schriftstellern im Westen veranstaltet wurden, sagte er ab, schon 'aus Unlust heraus, einem Emigrantenzirkel anzugehören.'"
Dieser rastlose Schlesinger war nie nur der Schriftsteller, für den sein Tagewerk im Schreiben verankert war. Sein Leben verzehrt sich jetzt im Westen erst recht im politischen Engagement, in der Familie, in Freundschaften, in Liebesbeziehungen. Er lernt die Schriftstellerin Helga M. Novak kennen, später die taz-Redakteurin Christa Schmidt, beide Verbindungen führen auch zu literarischer Zusammenarbeit. Alles, was Schlesinger unternimmt, wird mit der gleichen Intensität und Leidenschaft betrieben, egal, ob als Demonstrant, Hausbesetzer oder in der Liebe. Der zwischen Ost- und West-Berlin sich Zerreißende, der Unbehauste sucht nach einem "anderen Ort", einem Utopia, das es nicht gibt, – und scheint seinen Platz zunächst in einer sich anarchisch gebärdenden Szene zu finden:
"Zunehmend enger wurde der Kontakt zur Westberliner Hausbesetzerszene, die Schlesinger lange, bevor er 'richtig' dazugehören sollte, als Sympathisant, regulärer Gast und Teilnehmer an Demonstrationen begleitet hat. Die Besetzer suchten namhafte Paten für ihre Häuser, Vertreter des politischen und kulturellen Lebens, um ihre Aktionen nach außen zu legitimieren. Schlesinger war, zusammen mit dem Schweizer Autor Reto Hänny, Pate eines solchen Hauses."
Bis es zu einer Übereinkunft mit dem Senat kommt, der anfänglich mit Räumung drohte, finden Straßendemos und Aktionen statt. Schlesinger ist immer dabei und notiert:
"Laufen. Rennen. Laufen. Die halbe Stadt auf den Beinen. Bis spät in die Nacht hinein. Brennende Barrikaden, beißender Qualm, Tränengasschwaden. Steine, Sprechchöre, Sirenengeheul. So habe ich die Stadt nur einmal erlebt, am 17. Juni vor fast dreißig Jahren."
Zwischen 1982 und 1992 verzehrt sich Schlesinger in der Hausbesetzerszene - zum Kummer seiner literarischen Freunde, denen er zwar von seinen Stoffen erzählte, das Schreiben indes überließ er anderen: Peter Schneider mit seinem Roman "Mauerspringer" und Thomas Brasch mit seinem Film "Engel aus Eisen". Beide Autoren wurden durch die mündlichen Erzählungen Klaus Schlesingers inspiriert.
Unter den eine Generation jüngeren Hausbesetzern - sie sind fast alle erst Mitte 20 - wird sein Rat geschätzt. Schlesinger wiederum fragt sich ein ums andere Mal: "Soll ich Politik machen oder Geschichten erzählen?" "Warum renne ich auf jede Demo?" Um gleich zu antworten, "Politik könne er nicht. Geschichten, ja."
Immer mehr kommt ihm die DDR–Wirklichkeit abhanden. Und als die Mauer schließlich fällt, nimmt er zwar an einigen Demonstrationen teil, aber nur mit halbem Herzen. Er habe das Gefühl - hält seine Biografin fest - durch seinen Weggang aus der einstigen DDR das Wichtigste verpasst zu haben:
"Darauf habe ich 30, 40 Jahre gewartet. Und nun muss ich mir es im Fernsehen angucken. So kann einer sein Leben verpassen."
Man hält den Atem vor Spannung an, wie Astrid Köhler Schlesingers Gang zur großen Kundgebung auf dem Alexanderplatz am 4. November 1989 rekonstruiert. Der Tag, an dem Christa Wolf noch einmal zum Bleiben in der DDR und zur Erneuerung des Sozialismus aufruft. "Im Herzen ein Entschluss, im Kopf eine Rede", notiert Schlesinger. Doch er steigt dann doch nicht auf die Bühne. Eine schmerzhafte Selbsterkenntnis:
"Dort, zwanzig Schritte von der Rednerbühne entfernt, muss ich wohl begriffen haben, dass mir das Land, dessen Pass ich in der Tasche trug, in den zehn Jahren meiner Abwesenheit eine Fremde geworden war, vertraut, aber fern."
Nicht die Dramatik der Ereignisse hat ein Drehbuch vorgegeben, sondern die Geschichte selbst, in der Schlesinger als Schriftsteller der DDR so sehr mit Kopf und Fuß Teil der Ereignisse war; besonders durch die absurde Überschätzung der Schriftsteller durch die Staatsmacht, weil sie die Literatur für subversiv hielt.
Als die Gauck–Behörde die Akten der Stasi öffnete und die ersten IM's unter Schriftstellern bekannt wurden, erreichte nun etliche DDR-Autoren eine seltsame und im Fall Schlesingers eine gefährliche, exemplarische West-Aufmerksamkeit. Durch ein Gerücht, ausgelöst durch den Racheakt einer verlassenen Geliebten, musste sich Schlesinger plötzlich als mutmaßlicher IM verteidigen, - ohne sofort an seine Akte zu gelangen.
Nach für ihn zermürbenden Wochen in einer Atmosphäre der Hexenjagd, Wochen, in denen sogar Freunde ihm misstrauten, konnte Schlesinger schließlich mit Gelassenheit reagieren. Er verzieh sogar seinen in den Stasi-Akten vorgefundenen Informanten.
Man könnte Adornos Diktum "Es gibt kein richtiges Leben im falschen" durchaus als Motto über Klaus Schlesingers Biografie stellen. Kaum ein anderer Autor aus der ehemaligen DDR hat die Zerrissenheit zwischen Ost und West so schmerzhaft am eigenen Leibe erfahren wie Klaus Schlesinger. Seine von der deutsch-deutschen Geschichte geprägte und gespaltene Existenz hat Astrid Köhler in ihrer Biografie ungemein spannend erzählt und auch für diejenigen, die zu Schlesingers Zeiten nicht am Puls der Zeit lebten, sehr überzeugend geschildert. Und es ist auch äußerst verdienstvoll, dass Astrid Köhler mit ihrem Buch die literarischen Werke des Autors Klaus Schlesinger am Leben hält.
Buchinfos:
Astrid Köhler: Klaus Schlesinger. Die Biografie: Aufbau Verlag Berlin. 2011, 394 Seiten, Preis: 26,99 Euro