Jürgen Liminski: Die Terrormiliz Islamischer Staat tötet nicht nur zahllos Menschen; sie ist jetzt dazu übergegangen, auch Kultur auszulöschen. Nach der Zerstörung von Jahrtausende alten Statuen im Museum von Mossul zerstören sie jetzt historische Grabstätten in der Nähe von Mossul und machen mit Bulldozern die mehr als 3000 Jahre alte Königsstadt Nimrud dem Erdboden gleich. Fassungslosigkeit fast mehr noch als Entsetzen kennzeichnet die Reaktionen auf diese barbarische Aktion der Islamisten im Irak. Nichts Fremdes scheint ihnen heilig zu sein. Ist das eine Frage des Islam? Was wird da überhaupt zerstört, und ist der Schaden reparabel? Zu diesen und weiteren Fragen begrüße ich den Archäologen Michael Müller-Karpe vom Römisch-Germanischen Zentralmuseum in Mainz. Er hat auch im Ausland, zum Beispiel in Mossul geforscht und selber Ausgrabungen im Irak vorgenommen. Guten Abend, Herr Müller-Karpe.
Michael Müller-Karpe: Guten Abend.
Liminski: Herr Müller-Karpe, der Wert von Kultur ist nicht messbar. Wie schätzen Sie die Zerstörung von Nimrud und neulich auch im Museum von Mossul ein?
Müller-Karpe: Im Grunde ist das ein Super-GAU, der einen sprachlos macht. Das sind Werte, die ja nicht zu beziffern sind. Das sind Kulturgüter, die fast 3.000 Jahre weitgehend unbeschadet überdauert haben und die jetzt in unserer Generation zerstört werden. Man weiß nicht, was man sagen soll.
"Wiege der Zivilisation zerstört"
Liminski: Kann man den Schaden nicht doch irgendwie beziffern? Mit den mobilen Altertümern werden ja offenbar Millionen auf dem Schwarzmarkt gemacht.
Müller-Karpe: Ja, auf der einen Seite. Auf der anderen Seite muss man sagen, dass der Wert eines archäologischen Objektes ja nicht in Euro zu bemessen ist. Der Wert, das sind die Informationen, die diese Objekte transportieren, Informationen über Menschen, von denen wir durch die Zeit getrennt sind, auf deren Schultern wir gewissermaßen stehen. Wir sprechen ja hier von Mesopotamien. Mesopotamien, Wiege der Zivilisation, da ist die Schrift erfunden worden, die gelagerte Achse, Astronomie, Mathematik, im Grunde das Fundament unserer heutigen Zivilisation und alles, was wir jemals über diese Menschen in Erfahrung bringen konnten, war im Fundkontext, im Boden, in den archäologischen Stätten erhalten und das wird jetzt unwiederbringlich zerstört.
Liminski: Die Welt ist fassungslos. Können Sie sich an etwas Vergleichbares erinnern, oder ist das ohne Beispiel?
Müller-Karpe: Es fällt einem zunächst einmal Bamiyan ein, die Sprengung der Buddhas 2001 durch die Taliban. Aber es gibt noch ein drastischeres Beispiel: 1258 wurde Bagdad von Mongolen gestürmt, und die Horden, die Kultur verachtenden Horden, haben damals Bibliotheken geplündert, und man sprach dann davon, dass der Tigris sich blau gefärbt hat von der Tinte der Bücher, die im Fluss geschwommen haben. So etwas hat es gegeben, und das, was wir jetzt beobachten, erreicht die Dimensionen, die wir von damals kennen. Die Plünderung des Museums oder die Zerstörung der Statuen oder jetzt, was in Nimrud passiert, ist ja nur die Spitze eines entsetzlichen Eisberges. Die eigentliche Zerstörung findet insgesamt im Irak in den archäologischen Stätten statt. Die werden systematisch geplündert zur Versorgung eines internationalen Antikenmarktes mit Hehlerware, und da ist der Islamische Staat, diese Terroristen, nur ein Teil des Problems. Kriegsparteien seit Jahrzehnten bedienen sich aus dem archäologischen Erbe und finanzieren damit ihre Waffen.
"Nur die Spitze eines Eisberges"
Liminski: Nimrud sei die Wiege westlicher Kultur, heißt es, sagen Sie auch. Ist das die einzige Wiege? Gibt es nicht im Libanon auch Zeugnisse des ersten Alphabets oder Tafeln mit Keilschrift bei den Sumerern?
Müller-Karpe: Man sagt, dass Mesopotamien die Wiege der Zivilisation ist. Da ist Nimrud ein bedeutender Ort. Das ist das alte Kalhu, das im 9. Jahrhundert vor Christus die Hauptstadt des assyrischen Reiches, des assyrischen Weltreiches war. Die Schrift ist im Südirak erfunden worden. Was Sie jetzt erwähnen in Syrien: In Ugarid ist tatsächlich das Alphabet erfunden worden. In Mesopotamien haben wir eine Silbenschrift, zunächst eine Bilderschrift, dann eine Silbenschrift, die aber sehr viele Zeichen hatte, über 550 verschiedene Zeichen, ein sehr kompliziertes System, und in Syrien, in Ugarid hat man ein Alphabet mit ganz wenigen Buchstaben entwickelt.
Liminski: Ist der jetzt angerichtete Schaden nicht doch irgendwie reparabel? Man hat Fotos von diesem Teil des Weltkulturerbes und könnte die Figuren und Skulpturen ja wieder aufbauen. Auch das Wissen ist in Büchern festgehalten.
Müller-Karpe: Man wird sicherlich das eine oder andere wieder zusammensetzen können. Aber wie gesagt: Wir haben hier nur die Spitze eines Eisberges, und die Problematik, die Gesamtproblematik sprengt im Grunde jede Vorstellungskraft. Sie haben vielleicht Fotos gesehen, Luftaufnahmen von archäologischen Stätten im Irak, aber auch in Syrien, Apameia, die in Mondlandschaften verwandelt wurden. Ein Raubgrabungsloch neben dem anderen, zehn Meter tief, horizontale Stollen in die archäologischen Schichten hinein, das ist vollständige Vernichtung, und jetzt hören wir von Bulldozern, die durch archäologische Stätten fahren. Wenn wir eines Tages als Archäologen dort wieder hin zurückkehren können, werden wir eine entsetzliche Verwüstung vorfinden.
Liminski: Ich höre, Ihr Herz blutet.
Müller-Karpe: Ja.
"Wir finanzieren diese Wahnsinnigen"
Liminski: Der Schwarzmarkt mit Altertumskunst blüht. Wie kann man denn echte Figuren von Imitaten unterscheiden?
Müller-Karpe: Das ist relativ einfach. Da gibt es einmal die Erfahrung des Archäologen. Wenn man viele Originale in der Hand hatte, merkt man das. Man erkennt die Handschrift quasi der alten Handwerker und das ist doch schwer zu imitieren. Gute Fälschung ist schwieriger. Was Sie ansprechen: Ein großer Teil der im Markt befindlichen Antiken ist tatsächlich gefälscht. Aber das ist ja eine durchaus gute Nachricht, denn jeder Käufer, der einer Fälschung aufsitzt, macht sich nicht schuldig, dass er Raubgrabungen sponsert, sondern er ernährt damit einen Fälscher.
Liminski: Was können wir überhaupt in Europa tun, um diesen Wahnsinn zu stoppen? Sind wir hilflos?
Müller-Karpe: Nein, wir sind nicht hilflos. Wir stehen da in der Verantwortung. Und einfach nur sich dort untätig hinzustellen und jammern ist der falsche Weg. Das Problem ist: Wir finanzieren diese Wahnsinnigen, indem wir nämlich zulassen, dass in Deutschland zum Beispiel, im Westen ein Handel existiert mit archäologischen Funden ungeklärter Herkunft. Sie können in Deutschland völlig ungeniert archäologische Funde kaufen, ohne irgendeinen Nachweis, dass die auch tatsächlich aus legaler Quelle stammen. Insofern nimmt jemand, der solche Dinge kauft, billigend in Kauf, dass er damit nicht nur Kulturzerstörung finanziert, denn das Geld, was man für so was ausgibt, fließt ja unmittelbar wieder in die Finanzierung neuer Raubgrabungen, neuer Zerstörungen. Und jetzt kommt noch hinzu, dass man damit rechnen muss, dass man solche Terroristen finanziert. Im Grunde: Wer archäologische Funde unbekannter Herkunft kauft, muss damit rechnen, dass er das Messer finanziert, mit dem nachher die Köpfe westlicher Geiseln abgeschnitten werden.
Liminski: Die zivilisierte Welt ist fassungslos, aber nicht ganz hilflos, angesichts der Kulturzerstörung im Irak - das war Michael Müller-Karpe vom Römisch-Germanischen Zentralmuseum in Mainz. Besten Dank für das Gespräch, Herr Müller-Karpe.
Müller-Karpe: Ich danke auch.
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