Die Freiheit ist nur ein eitles Hirngespinst, wenn eine Klasse die andere ungestraft aushungern kann. Die Gleichheit ist nur ein eitles Hirngespinst, wenn der Reiche mithilfe seines Monopols über Leben und Tod seiner Mitmenschen entscheidet.
Nein, nicht Jean Ziegler, sondern der französische Priester Jacques Roux hat das gesagt. Am 25. Juni 1793 vor dem Pariser Konvent forderte er eine wirtschaftliche und soziale Revolution gegen die Handelsfreiheit und das Privateigentum. Heute polarisiert die Globalisierung die Weltgesellschaft. Und heute ...
Heute wird erneut überall auf der Welt der Ruf nach Revolution laut. Eine neuartige Zivilgesellschaft ist im Entstehen begriffen. Gegen die Herrscher der Welt sucht sie den Widerstand zu organisieren. Im Namen der Bedrängten sucht sie nach einem Weg, verkörpert sie Hoffnung.
Längst hat sich der Schweizer Publizist und derzeitige Sonderberichterstatter der UN-Menschenrechtskommission für das Recht auf Nahrung, Jean Ziegler, als jemand, der unerwünschte Wahrheiten ausspricht und erwünschte als Lügen, als Manipulation und Propaganda enttarnt, einen Namen gemacht. Mit seinem jüngsten Bericht aus dem Inneren der neuen Weltordnung will er nun die Argumente und Perspektiven für eine Auseinandersetzung liefern, die schon seit längerem virulent ist und die zunehmend an Brisanz gewinnt. Thema und Titel seines Buches: "Die neuen Herrscher der Welt und ihre globalen Widersacher".
In weniger als einem Jahrzehnt hat sich das Weltsozialprodukt verdoppelt und das Welthandelsvolumen verdreifacht.
Tatsache ist: die Welt ist also reicher geworden - nicht ärmer. Tatsache ist aber auch, dass zeitgleich mit dem Reichtum die "Leichenberge" wachsen. So verhungert alle zehn Sekunden auf der Erde ein Kind unter zehn Jahren. "Wer auch immer an Hunger stirbt", schreibt Jean Ziegler, "ist Opfer eines Mordes" - Opfer einer von Menschen gemachten mörderischen Weltordnung. Hunger, Durst, Epidemien und Krieg...
... zerstören jedes Jahr mehr Männer, Frauen und Kinder, als es das Gemetzel des Zweiten Weltkriegs in sechs Jahren getan hat. Tag für Tag sterben auf unserem Planeten ungefähr 100 000 Menschen an Hunger oder an den unmittelbaren Folgen des Hungers. 826 Millionen Menschen sind gegenwärtig chronisch und schwer unterernährt.
Die Verschmelzung nationaler Volkswirtschaften zu einem einheitlichen kapitalistischen Weltmarkt bewirkt eine gewaltige Steigerung der Produktivkräfte. Alle paar Sekunden werden ungeheure Reichtümer geschaffen - und zeitgleich Millionen Menschen in den Ruin gestürzt. Beispiel: Argentinien.
In den USA ist das Vermögen von Bill Gates genauso groß wie das der 106 Millionen ärmsten Amerikaner zusammen. Es gibt inzwischen Einzelpersonen, die reicher sind als ganze Staaten: Der Besitz der fünfzehn vermögendsten Menschen der Welt übertrifft das Bruttoinlandsprodukt aller Länder des subsaharischen Afrika außer Südafrika.
Auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos, im Februar 1996, richtete Hans Tietmeyer, Präsident der Deutschen Bundesbank, eine abschließende Mahnung - deutlicher formuliert: Drohung - an die versammelten Staatschefs. Er sagte: "Von nun an stehen Sie unter der Kontrolle der Finanzmärkte." - Und die Reaktion?
Lang anhaltender Beifall. Die Staatschefs, Ministerpräsidenten und Minister, unter ihnen viele Sozialisten, akzeptieren wie selbstverständlich die Fremdbestimmung der Volkssouveränität durch die spekulative Warenrationalität des globalisierten Finanzkapitals.
Wie aber lässt sich die entfesselte, weltumspannende Tyrannei des Finanzkapitals beherrschen bzw. "ausschalten"? fragt Jean Ziegler? Wie könnte die Rückkehr zum Politischen am Beginn des 21. Jahrhunderts aussehen? Seine Hoffnung, seine Vision und konkrete Utopie ist die Realisierung einer "neuen planetarischen Zivilgesellschaft".
Sie ist der Ort, an dem neue soziale Bewegungen sich formieren, nie gekannte Funktionen und Strukturen sich ausbilden, neuartige Beziehungen zwischen den Menschen und den Nationen aufkommen und über die Welt und die Gesellschaft ganz neu nachgedacht wird - fernab der erstarrten Lehrsätze des herrschenden Dogmas oder seiner rituellen Ablehnung.
Etwas ist zu Ende. Beinahe ein Jahrzehnt lang galt radikale Kritik an der scheinbar so erfolgreichen neoliberalen Globalisierung als angeblich historisch überlebt. Die sozialdarwinistischen Regeln des Marktes schienen unangreifbar, eine fundamentale kritische Auseinandersetzung mit den veränderten ökonomischen und sozialen Verhältnissen wurde allenfalls noch als gestriges Denken belächelt. Das ist vorbei. - Spätestens seit dem 20. Juli 2001, als sich anlässlich des G8-Gipfels Genua in eine Festung verwandelte und 200 000 Menschen durch die Straßen der Stadt zogen, um gegen die Machtanmaßung der sieben reichsten Nationen der Welt und ihrem russischen Partner zu protestieren. Dem vorausgegangen - und vom politischen Mainstream weitgehend unbeachtet - war die Gründung der globalisierungskritischen Bürgerbewegung "Attac" am 3.Juni 1998 in Paris.
Heute agieren auf allen fünf Kontinenten miteinander kooperierende soziale Volksbewegungen gegen eine rigorose "Privatisierung der Welt", gegen eine menschenverachtende Marktwirtschaft und den Zynismus ihrer Strategen, die Tag für Tag darüber entscheiden "wer leben darf und wer sterben soll". Mit den Worten des französischen Attac-Präsidenten Bernard Gassen geht es "um nichts weniger, als unsere Zukunft wieder selbst in die Hand zu nehmen." Voraussetzung und Bedingung dazu aber sei: "die Hegemonie über die politischen Gedanken" zurückzugewinnen.
"Zu vereinen, ohne zu vereinheitlichen", darin erkannte der im Januar 2001 verstorbene französische Soziologe Pierre Bourdieu die besondere Qualität dieser im Entstehen begriffenen neuen Zivilgesellschaft, die mit keiner sozialen Formation vergleichbar ist, die ihr vorausging.
Diese Koordination müsste die Form eines Netzwerks annehmen, das Individuen und Gruppen so miteinander verbindet, dass niemand den anderen dominieren oder reduzieren kann und alle Ressourcen gewahrt bleiben, die aus der Verschiedenartigkeit der Erfahrungen, Gesichtspunkte und Programme erwachsen. Man darf wohl hoffen, dass die demokratische Konfrontation einer Gemeinschaft von Individuen und Gruppen, welche gemeinsame Voraussetzungen anerkennen, eine kohärente und sinnvolle Antwort auf die grundlegenden Fragen hervorbringen kann, für die weder Gewerkschaften noch Parteien eine globale Lösung wissen.
Nein, in der heutigen Form ist die Globalisierung als imperiale Weltwirtschaftsordnung alles andere als eine Erfolgsgeschichte - allenfalls eine des Finanzkapitals und der transnationalen Konzerne. Und nach der Lektüre dieses Buches stellt sich mit aller gebotenen Dringlichkeit die Frage: wer schützt uns eigentlich vor den Fehlentscheidungen des sogenannten "freien Marktes" und einer Gesellschaft, die uns glauben machen will, dass Produktion und Konsum der einzige Sinn menschlichen Miteinanders sei - wenn wir es nicht endlich selber tun?
Soweit der Beitrag von Cornelia Beuel über das neue Buch von Jean Ziegler: Die neuen Herrscher der Welt und ihre globalen Widersacher. Die 320 Seiten sind im Bertelsmann-Verlag erschienen und kosten 23 Euro und 60 Cent.