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Zionismus
"Übers Jahr in Jerusalem"

Der Wiener Journalist Theodor Herzl lud vor 120 Jahren zum ersten Zionistenkongress nach Basel. Er hat den jüdische Staat und die jüdische Nation zwar nicht erfunden, aber er sorgte für die Verbreitung dieser Idee. Sein Vision war auch eine Reaktion auf den Nationalismus und Antisemitismus in Europa. .

Von Carsten Dippel |
    Der Begründer des politischen Zionismus ("Der Judenstaat", 1896), Dr. Theodor Herzl (undatiert).
    Theodor Herzl hat in Basel die Grundlagen für den Staat Israel geschaffen (picture alliance / dpa)
    Sie kamen im Frack und weißer Halsbinde, darum hatte der Gastgeber ausdrücklich gebeten. Ort des illustren Treffens, zu dem der Wiener Journalist Theodor Herzl die Mitstreiter lud, war nicht irgendein Haus in Basel, sondern das vornehme Casino.
    "Die Juden haben die ganze Nacht ihrer Geschichte hindurch nicht aufgehört, diesen königlichen Traum zu träumen: 'Übers Jahr in Jerusalem!' ist unser altes Wort. Nun handelt es sich darum zu zeigen, dass aus dem Traum ein tagheller Gedanke werden kann." (Theodor Herzl, Der Judenstaat)
    "Er hat eine politische Bewegung geschaffen"
    "Theodor Herzl wollte eine Versammlung einberufen, die dem Zionismus Respekt verschafft. Das war eine Bewegung, die gerade erst geboren wurde und noch sehr klein war und die von vielen nicht ernst genommen wurde", sagt Michael Brenner, Professor für Jüdische Geschichte und Kultur an der Ludwig-Maximilians-Universität in München.
    Doch gut 200 Vertreter der noch jungen zionistischen Bewegung kamen in den letzten Augusttagen 1897 im schweizerischen Idyll zusammen: Ärzte, Journalisten, Schriftsteller, Rabbiner aus aller Welt, darunter Dutzende Delegierte aus Russland. Diskutiert werden sollte dort eine nach Utopie klingende Idee: die Schaffung eines "Judenstaates", wie ihn Theodor Herzl zwei Jahre zuvor in seiner gleichnamigen Schrift entworfen hatte. Der Kongress in Basel war für ihn ein erster Schritt auf dem Weg zur Umsetzung seiner phantastischen Idee.
    Michael Brenner bilanziert: "Es gelang ihm tatsächlich, dieses Ziel zu erreichen. Er hat Delegierte aus sehr vielen Ländern, vor allem aus Osteuropa versammeln können. Er hat selbst einige, wenn auch nicht viele, religiöse Juden versammeln können. Und er hat es geschafft, jedes Jahr anfänglich, dann später alle zwei Jahre, diesen Zionistenkongress zu etablieren und eine tatsächliche politische Bewegung zu schaffen."
    Herzl sah seine Assimiliation als gescheitert an
    Ursprünglich wollte Herzl den ersten Zionistenkongress nach München einberufen. Doch sowohl die jüdische Gemeinde, als auch der deutsche Rabbinerverband lehnten dies ab. Die zionistischen Bestrebungen, die Idee einer eigenen Nation, erschien ihnen absurd. Man verstand sich als deutsche Staatsbürger jüdischen Glaubens und nicht als Teil eines "jüdischen Volkes". Herzl jedoch, tief enttäuscht von den Vorgängen in Europa, sah die Assimilation als gescheitert an.
    Michael Brenner sagt: "Herzl selbst ist ein gutes Beispiel dafür, wie sich das entwickelt hat. Herzl war ein, würde man jetzt sagen, durch und durch assimilierter österreichischer Jude, geboren in Budapest, in Wien studiert, in Wien gewirkt. Er wollte nichts mehr sein als ein deutschsprachiger Schriftsteller und Journalist. Bis er merkte: Das geht eigentlich nicht. Man lässt es nicht zu, der Antisemitismus ist doch zu groß und er wird nie einfach als Österreicher akzeptiert."
    Tatsächlich war die Lage der europäischen Juden von tiefer Unsicherheit gekennzeichnet. Während ganz Europa in eine Zeit des nationalen Überschwangs verfiel, reifte auch bei vielen Juden der Wunsch nach einer eigenen Nation. Denn vor allem in Osteuropa schlug ihnen vielerorts blanker Hass entgegen, der sich wiederholt in Pogromen entlud. Als Minderheit mit prekärem politischen Status diskriminiert, suchten viele ihr Heil in der Auswanderung nach Amerika. Aber auch im Westen ruhten die Erfolge der Emanzipationsbemühungen auf dünnem Eis. Wie brüchig dieses Eis war, zeigte sich in der Dreyfus-Affäre. Selbst im aufgeklärten Frankreich trat dabei Antisemitismus offen zu Tage.
    "Wenn es den Juden unmöglich gemacht wird, sich innerhalb anderer Nationen zu verwirklichen, so müssen sie die Errichtung eines eigenen Nationalstaates anstreben, um gleich unter Gleichen zu sein." (Theodor Herzl, Der Judenstaat)
    Ein Porträt von Alfred Dreyfus (Bild: imago stock&people)
    Alfred Dreyfus war ein französischer Offizier, der 1884 zu Unrecht wegen Hochverrats verurteilt wurde. Vor allem seine jüdische Herkunft wurde ihm zum Verhängnis. (imago stock&people)
    Theodor Herzl, der aus Budapest stammende Publizist und Journalist, hat den Zionismus nicht begründet, ihm mit seinem Wirken aber ungeheure politische Kraft verliehen. Er wurde von vielen als Visionär beschrieben, von manchen als Fantast belächelt.
    "Wie Theodor Herzl sich einen Judenstaat vorstellt, ist das im Grunde der Versuch, das jüdische Wien, deutschsprachig, eher säkular, sehr europäisch kulturell ausgerichtet, einfach in den Nahen Osten zu verpflanzen. Und die Vorstellung, es gebe dort nicht nur ein Opernhaus, wo man mit weißen Handschuhen hingeht, sondern auch ein Parlament, war selbstverständlich", sagt Johannes Becke, der an der Hochschule für Jüdische Studien in Heidelberg Politologie lehrt. Für ihn gehört die politische Idee des Zionismus denn auch zur Geschichte der Nationalbewegungen des 19. Jahrhunderts.
    Der Historiker Michael Brenner dazu: "Man sieht das daran, dass Theodor Herzl viele Ideen des aufgeklärten und liberalen Nationalismus aufgriff. Schon vorher hatte eine dann in Vergessenheit geratene Schrift in den 1860er Jahren versucht, diese Idee in die Welt hinaus zu tragen, nämlich von Moses Hess "Rom und Jerusalem", eine Schrift, die auf dem italienischen Risorgimento aufbauend sagte: Was die Italiener können nach 2000 Jahren, das können die Juden auch, also ein vereintes Reich schaffen. Die Idee des politischen Zionismus ist eine Idee des 19. Jahrhunderts, wenngleich der religiöse Gedanke einer Rückkehr der Juden nach Zion viel älter ist."
    Und sie bleibt unter orthodoxen Juden bis heute umstritten.
    "Über Jahrhunderte haben Juden immer wieder in ihren Gebeten, dreimal täglich, den Wunsch geäußert, in das wiederaufgebaute Jerusalem zurückzukehren", sagt Brenner. "Für die meisten bedeutete dies einen Wunsch, der in weite Ferne gerückt war, der abstrakt war und der erst in Erfüllung gehen konnte, wenn der Messias kommen würde. Also wenn das messianisches Zeitalter eingetreten wäre. In der Orthodoxie gibt es weiterhin große Probleme mit dem Konzept eines säkular definierten jüdischen Staates."
    So lehnten Teile der Orthodoxie den Zionismus als säkulare Bewegung ab. Es gab jedoch durchaus auch orthodoxe Juden, die positiv zum Zionismus standen. Wie auch jene, die ihn nationalreligiös oder säkular und sozialistisch interpretierten. Was die unterschiedlichen Strömungen einte, war eine Wiederentdeckung des Judentums, so Michael Brenner. Ein Judentum als Nation, weniger als Religion, wozu auch eine Bindung an das Land der Vorväter zählte.
    Herzl wollte eine "Society of Jews"
    In einer grundsätzlichen Frage hatte Herzl einen prominenten Widersacher in der zionistischen Bewegung. Der aus Odessa stammende Ascher Ginsberg, besser bekannt unter seinem Pseudonym Achad Ha'am, sah die Aufgabe eines künftigen jüdischen Staates in der Neubelebung hebräischer Kultur. Herzl hingegen sah die Erneuerung des Judentums in einem nahöstlichen Staat nach europäischem Vorbild, in dem Juden Zuflucht fanden. Über die arabischen Bewohner machte er sich dabei allerdings kaum Gedanken. Wie genau ein solcher Staat aussehen sollte, darüber herrschte in der zionistischen Bewegung noch lange keine Klarheit. Michael Brenner sagt:
    "Damals war die vorherrschende Meinung eher nicht, dass es ein völlig unabhängiger Staat sein sollte. Es gab eine ganze Reihe von Autonomievorstellungen. Selbst Herzl, obwohl seine Schrift 'Der Judenstaat' hieß, macht klar, dass das kein Staat im modernen Sinn ist, sondern eine 'Society of Jews', die eben gewisse Autonomierechte - zu seiner Zeit im osmanischen Reich, später aber auch im britischen Weltreich - haben sollte. Man muss vorsichtig sein. Dieses Konzept der völligen staatlichen Unabhängigkeit hat sich erst in den 30er und dann vor allem 40er Jahren entwickelt."
    Nach der Unterzeichnung der Proklamationsurkunde am 14. Mai 1948 im Stadtmuseum von Tel Aviv hält eine nicht identifizierte Person das Schriftstück mit den Unterschriften in die Höhe, links David Ben Gurion, der erste Ministerpräsident Israels.
    Am 14. Mai 1948 wurde Theodor Herzls Traum vom Judenstaat mit der Staatsgründung Israels Wirklichkeit (picture alliance / dpa)
    "In Basel habe ich den Judenstaat gegründet"
    Theodor Herzl hat der zionistischen Bewegung einen deutlichen Schub beschert, das Ereignis mit Frack und Halsbinde im Casino wurde tatsächlich historisch bedeutsam. Allerdings mit Verzögerung: Die Früchte seiner Bemühungen hat der große Visionär selbst nicht mehr erlebt. Er starb bereits 1904. Seinem Tagebuch vertraute er nach dem Kongress in Basel einen in der Rückschau prophetisch klingenden Gedanken an:
    "Fasse ich den Baseler Congress in ein Wort zusammen – das ich mich hüten werde öffentlich auszusprechen – so ist es dieses: In Basel habe ich den Judenstaat gegründet. Wenn ich das heute laut sagte, würde mir ein universelles Gelächter antworten. Vielleicht in fünf Jahren, jedenfalls in 50, wird es jeder einsehen."
    Am 14. Mai 1948, gut 50 Jahre nach dem ersten Zionistenkongress und wenige Jahre nach der Shoa, wurde der Staat Israel gegründet.