Ihr gewaltsamer Tod hat ganz Deutschland erschüttert und er hat eine Debatte ausgelöst über Zivilcourage. Genau fünf Jahre ist es her, dass die Studentin Tuğçe Albayrak gewaltsam zu Tode gekommen ist, nachdem sie einem Mädchen beigestanden hat auf einem Parkplatz in Offenbach damals. Ihren Mut musste diese junge Frau mit dem Leben bezahlen – ein besonders tragischer Fall natürlich. Nicht immer sind es so gefährliche Situationen, in denen Menschen anderen Menschen zur Seite stehen, öffentlich Haltung zeigen. Wie das gelingen kann - im Netz und auf der Straße - das ist Thema beim Bundeskongress Zivilcourage. Der startet zum fünften Mal, zum ersten Mal in Sachsen. Da diskutieren Wissenschaftler, Verbände und Vereine.
Yvonne Bonfert organisiert das Ganze mit. Sie ist Bildungsreferentin beim Verein "Aktion Zivilcourage e.V." und dort vor allem zuständig für Jugendliche.
Analoge Zivilcourage im digitalen Raum
Sarah Zerback: Lassen Sie uns doch mal ein Bild zeichnen. Wie steht es denn um die Zivilcourage 2019? Wie mutig ist die deutsche Gesellschaft?
Yvonne Bonfert: Wie mutig ist die deutsche Gesellschaft? Das ist natürlich eine schwierige Frage. Auf jeden Fall glaube ich, dass im digitalen Raum wir durchaus noch ein bisschen Verbesserungsbedarf haben - zu wissen, wie man dort Zivilcourage zeigen kann. Ich glaube, da sind wir alle noch ein bisschen am Ausprobieren und verschiedene Techniken zu finden. Denn das, was in der analogen Zivilcourage funktioniert, muss nicht unbedingt auch im digitalen Raum funktionieren.
Zerback: Neuland Internet, auch noch 2019. – Was ist denn anders im Netz im Vergleich zu einem mutigen Einschreiten auf der Straße etwa?
Bonfert: Wenn ich auf der Straße bin, dann ist es immer hilfreich, sich mit mehreren Menschen zusammenzuschließen und zu sagen: "Sehen Sie nicht auch, dass da vorne irgendwas komisch ist, dass da jemand bedroht wird, wollen wir nicht zusammen mal in die Situation eingreifen?". Das ist meistens eine ganz gute Sache, sich zusammenzuschließen.
Wenn wir das Ganze jetzt auf den digitalen Raum übertragen und sagen, wir haben zum Beispiel einen Hasskommentar und ganz viele Leute reagieren darauf, dann hat das auch den Effekt, dass dieser Hasskommentar noch viel mehr ins Bewusstsein der Menschen kommt, weil wir natürlich auch Algorithmen haben, die das Ganze steuern, und dann die Aufmerksamkeit auch auf die Hassäußerung dadurch stärker werden kann.
"Mit einem Kommentar auf eine Hassnachricht reagieren"
Zerback: Und im Positiven wiederum funktioniert das nicht?
Bonfert: Das ist ein Abwägen. Was ist jetzt das richtige Verhalten? Wenn man sieht, dass es ganz viele positive Kommentare sieht, die versuchen, die anderen Personen zum Schweigen zu bringen, kann das natürlich eine gute Vorbildfunktion haben. Auf der anderen Seite haben wir auch die Sache, dass wir ganz viel Aufmerksamkeit auf Nachrichten haben, die Hass und Gewalt irgendwie verbreiten. Das ist ein bisschen zweischneidig.
Zerback: Das klingt jetzt schon relativ negativ. Würden Sie sagen, dass soziale Medien, das Netz im Allgemeinen eher negativ auf die Meinungsbildung in der Gesellschaft wirken und auf die Art, wie wir miteinander umgehen?
Bonfert: Nein, das würde ich nicht sagen, dass man das so pauschal auf die Medien äußern kann, dass es nur negativ wirkt. Ich glaube nur, dass wir uns dessen bewusst sein müssen und auch überlegen müssen: Wie funktionieren soziale Medien? Und da gute Möglichkeiten finden. Auch wir sagen, es ist natürlich hilfreich, vielleicht auch mal mit einem Meme oder mit einem Kommentar auf eine Hassnachricht zu reagieren, um dem Ganzen was Positives entgegenzusetzen und auch eine andere Meinung zu verbreiten.
Zerback: Wie oft passiert das denn im Vergleich zu den ganzen Hate Speeches, dem Hass im Netz, den Sie gerade beschrieben haben? Wie viele Leute trauen sich das wirklich und fassen sich da digital ein Herz?
Bonfert: Da erwischen Sie mich auf dem kalten Fuß. Da habe ich leider keine Statistiken zu, wie weit das verbreitet ist.
Nicht selbst zum Opfer werden
Zerback: Das müssen wir ja nicht immer mit Zahlen belegen. Aber Sie sind ja auch eine Frau aus der Praxis. Das ist das Gute. Sie waren unter anderem auch gestern noch in Freital unterwegs an einer Schule, haben da einen Workshop geleitet mit Jugendlichen. Was erzählen die denn so, beziehungsweise was erzählen Sie denen auch? Welche Strategien bringen Sie denen bei für die digitale Courage?
Bonfert: Für die digitale Courage ist es so, dass Jugendliche häufig mit dem Begriff Hate Speech oder Hass im Netz noch gar nicht so viel anfangen können, sondern wir da immer gucken: Was ist denn bei euch im Klassen-Chat erst mal los? Weil das denen einfach viel näher ist. Die grenzen sich zum Teil eigentlich auch ganz gut von Hasskommentaren unter irgendwelchen YouTube-Channels ab und sagen: "Okay, es macht mehr Sinn, ich halte mich da lieber raus, damit ich nicht zum Opfer werde." Die haben eigene Strategien, die wir dann natürlich auch reflektieren. Aber wir gucken vor allen Dingen auf deren Nahraum, was ist im Klassen-Chat und was für Regeln können wir denn da einführen, um ein gutes Miteinander in der eigenen Gruppe herzustellen – mit der Hoffnung natürlich, dass sich das dann auch trägt.
Zerback: Ist schon aber auch die Angst, das höre ich da heraus, dass man selber, wie Sie gerade sagen, zum Opfer wird, dass sich das verkehrt. Das hält viele Menschen davon ab, einzustehen. Da ist wahrscheinlich der Fall Tuğçe ein ganz extremer. Aber dann doch noch mal die Frage: Kann man das denn lernen, Zivilcourage? Oder ist das etwas, was dann auch den Charakter doch ganz maßgeblich prägt?
"Zivilcourage ist ein Verhalten, was man lernen kann"
Bonfert: Natürlich gibt es Charaktereigenschaften, die einen vielleicht ein bisschen mutiger machen, in einer Situation einzugreifen, dass man manchmal schon ein bisschen was mitbringt. Aber das ist nicht alleine ausschlaggebend. Zivilcourage ist ein Verhalten, was man lernen kann, indem man sich im Vorfeld schon mal mit Situationen einfach auseinandersetzt, in denen Hilfe benötigt wird. Das führt dann dazu, dass ich so etwas wie ein Konzept im Kopf habe, was sind denn meine Handlungsalternativen.
Es gibt den Begriff, der heißt Bystander-Effekt. Das heißt: Wenn ich sehe, dass irgendwo jemand bedroht wird, jemandem Gewalt angetan wird, und viele Menschen das beobachten, dass sich dann niemand so richtig verantwortlich fühlt in der Situation. Da kommen dann Gedanken auf wie, ich bin ja eh zu schwach und da vorne steht jemand, der ist viel stärker, der müsste doch eigentlich eingreifen. Oder auch der Gedanke, vielleicht ist das nur eine private Auseinandersetzung und ich möchte mich da jetzt lieber nicht einmischen, die anderen machen ja auch nichts. Das verselbständigt sich dann ein bisschen.
Zerback: Ist ja vielleicht auch gar nicht immer einfach, Situationen zu erkennen, in denen dann eingeschritten werden sollte, dass wirklich Hilfe gebraucht wird.
Bonfert: Genau! Das ist immer die Krux, tatsächlich zu merken: Sind das jetzt Freunde, die sich irgendwie einfach nur streiten, oder ist das jetzt wirklich eine Bedrohungssituation. Was aber auf jeden Fall hilft in so einer Situation ist, andere Menschen ansprechen und auch die eigene Unsicherheit darüber kommunizieren, zu sagen, ich glaube, da vorne passiert irgendwie was, was nicht in Ordnung ist, wie sehen Sie das. Häufig geht es ja vielen so, die das bemerken, dass sie schon ein bisschen ein mulmiges Gefühl zumindest haben.
"Es braucht eine Haltung, für gute Sachen einzustehen"
Zerback: Wie verfolgen Sie denn die aktuelle Debatte über Verrohung, Morddrohungen gegen Politiker, aber auch gegen Menschen, die anderer Meinung sind? Nehmen Sie das wahr, dass es aktuell mehr Anlässe gibt, um Haltung und Zivilcourage zu zeigen?
Bonfert: Es gibt auf jeden Fall Anlässe, ja. Und auch wenn jetzt diese Morddrohungen kommen und auch diese Hassnachrichten, sind wir auch ganz schnell wieder in einem Medienbereich, wo wir sagen, viele Plattformen oder Organisationen haben ja auch dann über die Kommunikation in den sozialen Medien das Gefühl, dass viel mehr Dinge diskutiert werden und dass man sich viel schneller angreifbar macht. Ich glaube schon, dass es Kommunikationsstrategien in vielen Dingen vielleicht braucht, aber auch eine Haltung, einzustehen für gute Sachen, und da auch irgendwie eine aktive Zivilgesellschaft, die diese Werte transportiert und da vielleicht auch Schranken wieder setzt.
Zerback: Zum Beispiel auch die Meinungsfreiheit. Die hängt ja auch von den Menschen ab, die den Mut aufbringen, sie zu verteidigen.
Bonfert: Ja, auf jeden Fall! – Ganz genau.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.