"Wir sind ein Volk, das immer auf Reisen ist, nicht, um irgendwo anzukommen, sondern um unterwegs zu sein. Rastlosigkeit ist das Kennzeichen unserer Kultur. Ebenso wie unsere Regeln, von denen einige so geheim sind, dass ich sie nicht einmal aufschreiben darf. Diese Gesetze schützen uns auf der großen Reise."
Dieses Zitat aus dem ersten Kapitel sagt viel über Zoni Weisz aus. Sein Buch ist zwar in erster Linie die Geschichte seines Lebens, aber darüber hinaus immer wieder auch die der Sinti.
Dieses Zitat aus dem ersten Kapitel sagt viel über Zoni Weisz aus. Sein Buch ist zwar in erster Linie die Geschichte seines Lebens, aber darüber hinaus immer wieder auch die der Sinti.
"Jetzt lebe ich wie jeder normale Bürger, aber als Kind bin ich aufgewachsen als Sinto. Mein Vater war Musiker, der spielte im Familienorchester und ich bin in Holland vielleicht die letzte Generation, die noch richtig nomadisch gelebt haben."
Musik und Lagerfeuer
Geboren 1937 hat Zoni Weisz die ersten Jahre seines Lebens im Wohnwagen verbracht – und draußen, wo sich das Leben der Gemeinschaft abspielte. Am Lagerfeuer abends wurde nicht nur gekocht sondern auch geredet: "Das ist so wichtig, unsere orale Geschichte. Sinti schreiben nicht, das ist verschieden mit Roma, die ihre Geschichte schreiben, auch ihre Sprache, aber Sinti nicht."
Zoni Weisz beschreibt seine Kindheit sehr liebevoll. Die Skizze des Wohnwagens, die Pferde, die ihn zogen, das ständige Draußen sein der Kinder, die Bedeutung der Musik, all das ergibt ein Bild, das nicht nur dem Klischee des "lustigen Zigeunerlebens" sehr nahe kommt, sondern auch an die Sehnsüchte gestresster Großstädter anknüpft. Doch er weiß um die Gefahr einer Idealisierung.
Er schreibt: "Vielleicht ist das Bild, das ich von meiner Jugend habe, doch zu romantisch. Malen wir nicht alle unsere Kindheit ständig in rosigen Farben? Zum Leben als Sinto gehört schließlich auch eine starke soziale Kontrolle, die manchmal ziemlich unangenehm sein kann. Daran darf ich gar nicht denken."
Eltern und Geschwister werden deportiert
Die Loyalität zur eigenen Gruppe aber steht für Zoni Weisz nicht zur Disposition, dafür ist der Schmerz über die Ermordung seiner Eltern und Geschwister zu groß. Im Mai 1944 werden sie bei einer landesweiten Razzia gegen niederländische Sinti und Roma verhaftet, ins Lager Westerbork gebracht und von dort nach Auschwitz deportiert. Der siebenjährige Zoni hat Glück: Er kann mit Hilfe eines niederländischen Polizisten fliehen und überlebt - gemeinsam mit seinen Großeltern.
Für kurze Zeit abtauchen in der Sinti-Welt
Nach dem Krieg erlebt Zoni Weisz eine rasante Karriere. Er fährt Blumen aus, doch seine Chefs erkennen seine Begabung und so arbeitet er bald als Blumenbinder für einen der bekanntesten Floristen in Amsterdam. An den Wochenenden besucht er manchmal die Verwandtschaft und genießt es, für einige Stunden in die Sinti-Welt einzutauchen.
"Dennoch spüre ich auch eine gewisse Entfremdung. Mir wird während dieser kurzen Besuche bewusst, dass ich irgendwann in den vergangenen Jahren eine Schwelle überschritten habe. Fast unbemerkt habe ich zwischen mir und der Kultur, aus der ich hervorgegangen bin, eine Distanz geschaffen."
Besuche in Westerbork und Auschwitz
Anfang der 60er-Jahre heiratet er eine Nicht-Sintezza, zehn Jahre später beginnt er – inzwischen mit einem eigenen Blumenladen -, in den Niederlanden Floriaden auszurichten, die holländischen Bundesgartenschauen. Er arbeitet viel und ist gesellschaftlich anerkannt – doch nicht glücklich. Die Vergangenheit lässt ihn nicht los. Er fährt nach Westerbork und Auschwitz, um sich dem zu stellen, was er den "vergessenen Holocaust" nennt: die Ermordung von rund 500.000 Sinti und Roma.
Unermüdlich ruft er in Erinnerung, dass "Zigeuner" und Juden im "Dritten Reich" das gleiche Schicksal erlitten – eine Überzeugung, die er 2011, in seiner Berliner Rede am Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus noch einmal unterstreicht. Bis heute kämpft er gegen die Diskriminierung der Sinti und Roma in Europa.
Grundüberzeugung von Weisz: "Unbekannt macht unbeliebt"
So bewegend viele seiner Schilderungen auch sind, am spannendsten ist das Buch dort, wo klar wird, dass Sinti nicht nur Opfer sind. "Unbekannt macht unbeliebt", lautet eine Grundüberzeugung von Zoni Weisz, und eine zweite: "Wir müssen uns öffnen" - auch wenn das Gefahren birgt.
"Sehr viele Eltern, früher auch, haben gesagt, wir haben das so vor tausend Jahren gemacht und wir machen es so, deswegen sind wir noch hier, deswegen bestehen wir noch. Und das ist immer das Problem: wie integriert oder assimiliert man in eine Gesellschaft und behält noch seine eigene Identität und seine eigene Kultur. Das ist ein Riesenproblem."
Leben nach eigenen Gesetzen
Die Bewahrung der eigenen Gruppen-Identität ist so wichtig, dass sie mit vielen Tabus geschützt wird, die vor allem Speise- und Reinheitsgebote betreffen. Welche das sind, darüber erfährt man im Buch wenig. Doch auf der CD, die vor zwei Jahren beim Berliner Verbrecher-Verlag erschienen ist, gibt es ein Beispiel: Er berichtet davon, dass eines Tages sein Sohn zu ihm gekommen sei und ihm gesagt habe, dass er Medizin studieren wolle.
"Dann habe ich gesagt: Du weißt, was passiert, das ist ein Tabu bei Sinti. Soll er Arzt sein, dann darf er nicht mehr mit mir essen, zum Beispiel. Das ist das einzige Tabu, worüber ich rede. Normalerweise mache ich das nicht, aber ich finde das wichtig, dass Leute wissen, dass wir unsere eigenen Gesetze haben und dass wir auch danach leben. Das ist das einzige, was unsere Kultur zusammenhält."
Aber sind die Regeln der Gruppe auch heute noch wichtiger als die Wünsche des Einzelnen? Muss sich nicht jedes Gesetz hinterfragen lassen, ob es noch zeitgemäß ist? Wenn man Zoni Weisz das fragt, spürt man, wie er mit sich ringt – und sich dann entscheidet: "Ja, das ist eine von diesen Sachen, ich darf hier nicht darüber sprechen. Wenn ich das mache, dann ist alles für mich vorbei, dann bin ich kein Sinto mehr."
Zonie Weisz: "Der vergessene Holocaust. Mein Leben als Sinto, Unternehmer und Überlebender"
dtv Sachbuch, München 2018. 320 Seiten, 26 Euro.
dtv Sachbuch, München 2018. 320 Seiten, 26 Euro.