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Zu Gast beim verruchten Marquis

Im Vaucluse in Südrankreich liegt die geheimnisumwitterte Burgruine von Lacoste, in der der berühmte Marquis de Sade von 1771 bis 1787 seinen erotischen Obsessionen nachging. Dort findet derzeit ein Festival statt, das dem Geist des libertären Literaten nachspürt.

Von Frieder Reininghaus | 20.07.2005
    Reist man von Avignon auf dem kürzesten Weg Richtung Italien, so gelangt man südlich des seit jeher heiligen Mont Ventoux zu den Ausläufern der Carrières d'Ocre mit ihrem bizarren bunten Gestein. Zur rechten Hand, etwas abseits der Route am Fuß des Höhenzugs Lubéron, liegt Bonnieux.

    Kurz vor diesem Bergstädtchen mag einst der Marquis de Sade dem Ritter Morlanne in der Dämmerung aufgelauert haben. Durch die Terrassenlandschaft führen die Serpentinen hinauf nach Lacoste, dem Herrensitz. Der Chevalier aus Pau musste sich, zusammen mit dem Reisebegleiter, der ihm zugleich als Pferd diente, zum künstlerischen Abendmahl beim verruchten Marquis bequemen:

    Mit dieser Szene beginnt das Kammerspiel von Pierre Bourgeade, angesiedelt 1814, im Todesjahr des libertinären Literaten und berühmten Staatsfeindes de Sade, der von drei verschiedenen Regimes insgesamt fast 27 Jahre lang im Gefängnis oder der Irrenanstalt verwahrt wurde. Marius Constant, ein Freund des Modezaren Pierre Cardin, komponierte den Text – die Kammeroper reüssierte auch in Deutschland.

    Lange döste der mehrfach ruinierte Ort Lacoste vor sich hin. Trostlos erschien in den 80er Jahren die Bar de France, die einzige Oase weit und breit. Am Torso gebliebenen Glockenturm vorbei stieg man zum hohen hohlen Felszahn, durch dessen Fensteröffnungen der Abendwind heulte. Die verwunsch'ne Festung am äußersten Rand des Hochplateaus, bei einem Aufstand im Jahr 1792 gründlich ramponiert wie alle Burgen der Region, gehörte einem Studienrat. Dieser aber hatte kein Geld für die Restaurierung oder auch nur eine angemessene Sicherung der Bausubstanz.

    Die vernagelte Ruine konnte erst ansatzweise für den Tourismus reaktiviert werden, als Pierre Cardin das ganze Plateau aufkaufte – und die experimentelle Musiktheaterarbeit von Bourgade und Constant bildete den Auftakt für Open-Air-Veranstaltungen, die sich inzwischen unter Leitung von Eve Ruggiéri zu einem veritablen Festival ausgewachsen haben.
    Cardin: " Als ich dieses Schloss kaufte, war ich überrascht von der Vitalität und dem heftigen Schwung der Landschaft. Mein primäres Interesse galt nicht der Literatur des Marquis de Sade. Freilich ist dies hier der Ort, an dem er eine ganze Zeit lang lebte, bevor er nach Paris in die Bastille kam. Das Schloss ist zweifellos ganz außergewöhnlich ... ."
    Eine neue Holzbrücke führt über den Burggraben und im oberen Hof finden kleinere Veranstaltungen statt: "Evokationen" – "Geistesbeschwörungen" des Kavallerieoffiziers, Philosophen und Freigeists de Sade, der im Vorfeld der ersten französischen Revolution in Schauer-Romanen, Theaterstücken und Traktaten die Idee der Aufklärung auf die radikalste Weise entwickelte.

    Wie Voltaire und Rousseau bekämpfte er die kirchliche Lehre von der göttlichen Vorsehung und propagierte eine materialistische Naturphilosophie, doch anders als die Kollegen feierte er den Triumph des Lasters, insbesondere die sexuellen Ausschweifungen, das Prinzip Grausamkeit und überhaupt die Naturgewalt des Bösen – an all das wird in Form von musikliterarischen Veranstaltungen erinnert.

    Ein eigenes, von Gérard Abrial inszeniertes Programm widmete sich jetzt de Sades Ehefrau, die den Marquis denunzierte: er wurde eingekerkert und als prominentester Gefangener am 14. Juli 1789 aus der Bastille befreit, aber bald als Feind der Revolution wieder inhaftiert, dann bis zum Lebensende in der Irrenanstalt von Charenton verwahrt, wo er – woran später Peter Weiss dramatisch erinnerte – mit einer irren Theatertruppe Bemerkenswertes bewerkstelligte.
    Cardin: " Wir haben zwei Theater eingerichtet: ein großes für mehr als 1.100 Zuschauer in den alten Steinbrüchen, nicht weit von hier; dort sind auch schon große Stars aufgetreten wie Renée Fleming. Hier hier haben wir nur 300 Plätze und eine kleine Bühne, können also keine große Oper präsentieren. Aber wir können hier aufmerksam dem Geist des Marquis de Sade nachspüren oder auch kleine Konzerte mit drei oder vier Mitwirkenden anbieten und so etwas mit "musical comedy" experimentieren."

    In den alten Steinbrüchen gibt es heuer – neben einer Gala mit Teresa Berganza – Mozarts "Entführung aus dem Serail". Durchaus passend eigentlich an diesem Ort mit seinem genius loci; schon wegen der hochdramatisch beschworenen "Matern aller Arten", aber auch wegen der Liebesqualen, von denen dieses Stück so viel andeutet und von denen der Marquis so eloquent zu schreiben wusste.