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Zu jeder Neurose die passende Religion

Christen, Muslime, Juden, Agnostiker, Synkretisten und Hirnforscher dürfen in "The day before the last day" der israelischen Autorin Yael Ronen ihr Puzzlestück zum Thema Religion in zum Teil kabarettistischen Soli vorführen. Zur Lösung des religiösen Welträtsels fügen sie sich jedoch nicht zusammen.

Von Eberhard Spreng |
    Für das Jahr 2018 bis 2020 veranschlagt ein Zukunftsforscher den nächsten Weltkrieg. Er hat sich mit den Entwicklungen der Vergangenheit auseinandergesetzt und festgestellt, dass in einem Rhythmus von 200 bis 300 Jahren säkulare und religiöse Zeitalter einander ablösen. Und so ist für ihn, Jahrhunderte nach der französischen Revolution und dem Zeitalter der Aufklärung ein religiös fundierter, gewaltsamer Epochenwechsel fällig.

    Allerdings wird sein Vortrag dadurch erschwert, dass sein Computer die Grafiken mit den neuesten chinesischen Entwicklungen nicht ausspucken will und der Flipchart, den ihn ein Helfer daraufhin umständlich herbeischafft, erst wackelt und dann zusammenklappt, woraufhin der genervte Referent seine Vortrag abbricht. So bleibt uns Rotem Keinan, der hier den Wissenschaftler von der Hebrew University in Jerusalem spielt, die ersehnte Antwort auf die drängende Frage schuldig, wie die Zukunft ausgeht und wie die Menschheit Erlösung finden wird.

    Dieses Prinzip hält Yeal Ronen in ihrer neuen Arbeit konsequent durch: Alle Diskurse und Konzepte brechen irgendwann wieder ab: Christen, Muslime, Juden, Agnostiker, Synkretisten, Ärzte und Hirnforscher dürfen also ihr Puzzlestück zum Thema Religion in zum Teil kabarettistischen Soli vorführen, aber zur Lösung des religiösen Welträtsels werden die versammelten Gedankenbruchstücke nicht zusammenfinden. Auch nicht, wenn ein neuer Prophet, Abundame, die Welt in ein höheres Bewusstsein führen soll.

    "You are about to erase all old religions. You are about to transform humanity and set people free. You shall unite humanity. You will make them understand that they are all the same. That they are not separated from one another. You will make people take their power back into their hands."

    Beim leeren Heilsversprechen bleibt es nicht. Ein Forscher erklärt, das menschliche Gehirn habe für spirituelle Erfahrungen einen besonderen Bereich, und das Fehlen solcher Erfahrungen habe schädliche Auswirkungen auf die psychische Gesundheit. Dann erklärt Rotem Keinan, dass es kein Rassismus sei, wenn Juden verboten ist, Menschen anderer Konfessionen zu heiraten, sondern purer Selbstschutz, seien doch nur 0,2 Prozent der Weltbevölkerung Juden, also einer vom Aussterben bedrohten Tierart vergleichbar.

    Dann wird dem geneigten Konsumenten im Publikum in einer Verkaufsaktion die für seine Neurosen passende Religion angeboten, nachdem man das Publikum zuvor aufgefordert hatte, mit gegenseitigem Händchenhalten den Individualismus zu überwinden und ein großes Wir-Gefühl zu erleben. Das könnte blöde und peinlich werden, aber Yael Ronen hat das Talent, mit ihrer erfrischenden Energie selbst solche theatralischen No-Go-Areas unbeschadet zu durchqueren.

    Ihr Ensemble hat in einem monatelangen Workshop in kollektiver Recherche Themenaspekte und Spielmöglichkeiten erprobt und lässt nun in atemberaubendem Tempo die alten Klischees und Fundamentalismen aufeinander los. Per Skype schalten sich die besorgten Eltern der Schauspieler in den multireligiöse Encounter ein: Die jüdische Mutter zum Beispiel fragt besorgt nach, weil sie da im Hintergrund arabische Worte gehört hat und mahnt zur Abgrenzung von den ewigen Widersachern im Nahen Osten. Was Klärung werden sollte, endet in babylonischer Sprachverwirrung von Hebräisch und Arabisch.

    Nur wenige Leitmotive und Handlungslinien zeichnen sich in der Aufführung ab: Da ist die Frage, wo das spontane Leben endet und die Schrift anfängt. Eine Schauspielerin erkennt verblüfft, das, was sie für Improvisation hielt, längst schon Teil des Manuskripts geworden ist. Das Worte dem Werden von Welt und dem Sein der Menschen vorausgehen, haben die Schriftreligionen und das Theater gemeinsam.

    Und da ist aber auch die von Niels Borman gespielte Figur eines Menschen, der erst als Helferlein mit Jesusfrisur den einleitenden Vortrag unterstützen soll, an einem Stromschlag stirbt, als eben jener Prophet Abundame wiedergeboren wird, um dann am Ende von einem dänischen Terroristen umgebracht zu werden. Er habe sich auf eine andere Bühne verirrt, erklärt der Schauspieler, wo ihn Hamlet mit Polonius verwechselt und erstochen habe.

    Am Ende sieht Yael Ronen also als Rettung nur das Theater. Das löst zwar die Probleme im Nahen Osten auch nicht, kann aber Menschen sterben und wieder auferstehen lassen wie es Gott, der Autor, will. In Berlin ist das milde unterhaltend, am Habima-Theater in Tel Aviv wird "The day before the last day" einigen Wirbel machen.