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Zu spät zur Rechenschaft gezogen

Vor zwei Wochen verurteilte ein Militärgericht in La Spezia zehn frühere Angehörige der SS in Abwesenheit zu lebenslanger Haft. Im Frühherbst 1944 hatten sie in Marzabotto etwa 800 Zivilisten erschossen. Warum die Verurteilung erst so spät geschah, darüber kann man einiges erfahren aus einem neuen Sammelband, mit dem der Göttinger Wallstein-Verlag seine Reihe "Beiträge zur Geschichte des 20. Jahrhunderts" fortsetzt. Lesen Sie die Rezension von Eberhard Rondholz.

    Im Fall Italiens, um damit zu beginnen, waren es gleich mehrere Gründe, warum die Strafjustiz so wenig unternahm, um jene Wehrmachtsangehörigen und SS-Männer zur Rechenschaft zu ziehen, die nach der Kapitulation des Landes Bluttaten begingen, die den Wehrmachtsverbrechen auf dem Balkan nicht nachstanden von fast 10.000 ermordeten italienischen Zivilisten geht die historische Forschung heute aus, darunter zahlreiche Frauen und Kinder.

    Zum einen befürchtete man in Italien, so erfahren wir aus dem Beitrag von Filippo Focardi, mit einer allzu eifrigen Verfolgung deutscher Kriegsverbrecher vermehrt Forderungen nach Auslieferung italienischer Täter durch Äthiopien, Jugoslawien, Griechenland und Albanien zu provozieren, wo die faschistischen Truppen sich schrecklicher Bluttaten schuldig gemacht hatten.

    Zum anderen hatten die Alliierten schon früh die Auslieferung deutscher Kriegsverbrecher nach Italien eingestellt, um in Westdeutschland gute Stimmung für eine Wiederbewaffnung zu machen. Im Interesse der guten Beziehungen der NATO-Partner Italien und Westdeutschland verschwanden 1960 schließlich die letzten italienischen Kriegsverbrecher-Ermittlungsakten in einem Schrank, der nach seiner Wiederöffnung 1994 als "Schrank der Schande" Furore machte.

    Einige der Beweisstücke im soeben in La Spezia abgeschlossenen Prozess gegen einige der Mörder von Marzabotto stammen aus diesem Schrank. Marzabotto ist bis heute ein zentraler Ort des Gedenkens an den antifaschistischen Widerstand und seine Opfer. Indes, meint Filippo Focardi:

    "Die Erinnerung an die Zeit von Resistenza und Antifaschismus allein durch die Konzentration auf die deutschen Massaker zu beleben, ist nicht frei von Heuchelei. Es wäre in Italien an der Zeit, in das kollektive Gedächtnis auch die Erinnerung an die Kriegsverbrechen aufzunehmen, die Italiener an der wehrlosen Bevölkerung anderer Länder begangen haben. Diese Opfer waren nicht weniger unschuldig als die von den Deutschen getöteten Zivilisten in Marzabotto oder Sant'Anna di Stazzema."

    Die Alliierten der Anti-Hitler-Koalition hatten die Verurteilung der deutschen Kriegsverbrecher bereits einige Zeit vor Kriegsende zu einem ihrer Kriegsziele erklärt, die Nürnberger Prozesse haben dann ein Zeichen gesetzt. Doch zeigte die schnelle Amnestierung der in Nürnberg zu Freiheitsstrafen verurteilten Täter, dass schon bald andere Prioritäten galten.

    Immerhin - rein statistisch ist das Ergebnis der Bemühungen um eine juristische Aufarbeitung der von Deutschen und Österreichern begangenen Kriegs- und NS-Verbrechen in Europa auf den ersten Blick beeindruckend. Ein paar Zahlen: mindestens 329.158 Ermittlungsverfahren beziehungsweise Anklagen listet der Band auf, mindestens 96.798 Verurteilte habe es gegeben, den Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher eingeschlossen.

    Wie zwiespältig die Bilanz insgesamt dann doch ausfällt, zeigt der Blick ins Detail, vor allem in den Nachfolgestaaten des Deutschen Reiches. Dieser drei hat sich Annette Weinke angenommen, in ihrer vergleichenden Studie über die Strafverfolgung von Kriegs- und NS-Verbrechen in der Bundesrepublik, der DDR und Österreich. Die Autorin stellt der weit reichenden strukturellen Entnazifizierung im Osten Deutschlands die weitgehende Renazifizierung der Justiz im Westen gegenüber, bis in den höchstrichterlichen Bereich. Annette Weinke nennt ein bis heute noch nicht hinreichend erforschtes Beispiel:

    "Als fatal sollte sich insbesondere die Zusammensetzung des 5. BGH-Strafsenats mit seinem langjährigen Mitglied und späteren Präsidenten Werner Sarstedt erweisen. Noch bis Ende der Sechzigerjahre fast völlig von ehemaligen NS-Juristen dominiert, handelte es sich beim 5. Senat um einen Spruchkörper, der in der NS-Strafverfolgung eine exponierte Rolle einnahm. Leider wird die Erforschung dieses wichtigen Themas weiterhin durch eine enge Auslegung archivrechtlicher Schutzvorschriften behindert."

    Ähnliche Zustände wie beim Bundesgerichtshof herrschten landauf-landab, vor allem auf den unteren Ebenen der bundesdeutschen Strafjustiz, ebenso bei der Kriminalpolizei, die ihre schützende Hand über die NS-Täter hielt.

    In der DDR dagegen war die Verfolgung der NS- und Kriegsverbrecher gesellschaftspolitischen Zielen und der tagespolitischen Zweckmäßigkeit untergeordnet. Zwar schlüpften dort viel weniger ehemalige Täter durch die Maschen, aber nicht selten wurden Kriegsverbrecherprozesse von der Stasi als operative Vorgänge behandelt, das heißt: Ob und wann sie stattfanden, die Entscheidung darüber war der Strafjustiz entzogen. So sind auch in der DDR so manche NS-Täter von Strafe verschont worden, aus Gründen sozialistischer "Realpolitik", oder andererseits Unschuldige dem stalinistischen Furor zum Opfer gefallen. Kurz: Der systematischen Strafvereitelung durch eine von Ex-Nazis dominierte Justiz im westlichen Deutschland stand die politische Instrumentalisierung der Kriegsverbrecherverfolgung in der DDR gegenüber.

    Und Österreich? Da kamen die Täter am Besten weg - vergessen und verdrängen war das Programm, spätestens mit Ende des österreichischen Besatzungsstatuts im Jahr 1955 war es mit dem anfänglichen Eifer bei der Strafverfolgung von NS-Tätern, vor allem durch den Wiener Volksgerichtshof, vorbei. Einer der Gründe, so Annette Weinke:

    "Konstitutiv für den österreichischen Umgang mit NS- und Kriegsverbrechen war, dass sich Land und Bewohner zugleich als Opfer und Mittäter nationalsozialistischer Expansions- und Vernichtung fühlen konnten. (Und) ...die Tatsache, dass NS-Verbrechen während der Sechziger- und Siebzigerjahre nicht energisch genug verfolgt wurden, bildete eine entscheidende Voraussetzung dafür, dass sich ein nationaler Opfer-Mythos konsolidieren konnte. In dessen Windschatten (...) rechtsextremistisches und neonazistisches Gedankengut (gedieh), verborgen vor einer größeren Öffentlichkeit. "

    Als Mangel muss man dem Band "Transnationale Vergangenheitspolitik" ankreiden, dass der Herausgeber Jugoslawien ausgelassen hat. Hatten auf dem Boden dieses Balkan-Landes doch Kriegs- und NS-Verbrechen stattgefunden, die alles übertrafen, was im besetzten West- und Nordeuropa zusammen geschah, das in dem Band vollständig vertreten ist. Doch über Jugoslawien erfahren wir aus dem Buch nur, dass Belgrad der UN War Crimes Commission 1948 fast 2000 Namen mutmaßlicher deutscher Kriegsverbrecher gemeldet hat, wie viele von ihnen von den Alliierten ausgeliefert und dann auch zur Verantwortung gezogen wurden - das erfahren wir aber leider nicht. Hier klafft bis heute eine Forschungslücke.

    Ähnliches gälte vielleicht bis heute auch für Griechenland, hätte dort nicht der an der Universität Athen lehrende Historiker Hagen Fleischer seit vielen Jahren für Erhellung gesorgt. Sein Beitrag über die "Endlösung der Kriegsverbrecherfrage" in Griechenland ist einer der umfangreichsten des Bandes. Der von Norbert Frei zunächst abgelehnte Titel ist bewusst gewählt, es handelt sich um ein wörtliches Zitat aus deutscher Bürokratenfeder, und er signalisiert bereits die rüde Kaltschnäuzigkeit und den Zynismus, mit denen Bonner Regierungen das kleine, von den deutschen Besatzern mehr als manche anderen verwüstete und ausgeplünderte Land regelrecht erpressten, um die Bestrafung deutscher Kriegsverbrecher zu verhindern. Mit Erfolg - die Zahlen sprechen für sich: Von 339 den UN namhaft gemachten Kriegsverbrechern verurteilte das Land schließlich nur 14. Zum Vergleich: in den Niederlanden waren es 241. Wie diese Erpressungsmanöver funktionierten - ökonomische Drohungen vor allem - exemplifiziert Fleischer am spektakulären Fall des Kriegsverwaltungsrats Max Merten, der in Athen wegen seiner Mithilfe bei der Deportation von 50 000 Juden aus Thessaloniki zu 25 Jahren Haft verurteilt worden war. Seine schließlich erfolgreiche Freipressung leitete Bonn 1958 anlässlich eines Staatsbesuchs des griechischen Premierministers Karamanlis ein, bei dem es um ein Wirtschaftsabkommen ging. In einer Konferenzmappe für Gastgeber Adenauer zur Vorbereitung der Begegnung findet sich die unverblümte Empfehlung,

    "der Kanzler möge dem griechischen Premier in sehr deutlicher Form zu verstehen geben, dass auf deutscher Seite die Zusage einer Bereinigung des Kriegsverbrecherproblems als selbstverständlich erwartet werde. In diesem Zusammenhang könnte die Besorgnis zum Ausdruck gebracht werden, dass bei der Ratifizierung des Wirtschaftsabkommens Schwierigkeiten entstehen könnten, wenn die griechische Regierung sich nicht entschließe, das Kriegsverbrecherproblem vorher zu bereinigen."

    Eberhard Rondholz über "Transnationale Vergangenheitspolitik - Der Umgang mit deutschen Kriegsverbrechern in Europa nach dem zweiten Weltkrieg" Der Reader wird von Norbert Frei herausgegeben und ist erschienen als Band 4 in der Reihe "Beiträge zur Geschichte des 20. Jahrhunderts" im Göttinger Wallstein Verlag. Er umfasst 656 Seiten und kostet 44 Euro. Bereits im Sommer des letzten Jahres hat Constatin Goschler in dieser Reihe unter dem Titel "Schuld und Schulden" einen äußerst kenntnisreichen Überblick über - so auch der Untertitel - "Die Politik der Wiedergutmachung für NS Verfolgte seit 1945" gegeben. Beide Bände sollten zur Grundausstattung jedes Historikers gehören, der sich mit Folgen und Verarbeitungen von Nationalsozialismus und Krieg auseinandersetzt.