"Es gibt eine sehr berühmte Szene, in der Hitler, also in den Wiener Lehr- und Leidensjahren, plötzlich einem Juden im Kaftan gegenübersteht und plötzlich erkennt, dass überhaupt Juden dort sind: Und das führt ihn dazu, die vielen vielen Juden in Wien zu sehen."
Und hier schon keimte in Hitler der Judenhass, der später im Holocaust mündete. Die frühen programmatischen Schriften der Nationalsozialisten sind voll von solchen "Ur-Szenen der Erfahrung", so Dr. Medardus Brehl, Literaturwissenschaftler an der Ruhr-Universität Bochum. Hitler beschreibt in "Mein Kampf", wie er politisch "aufwacht", wie er buchstäblich vom Blinden zum Sehenden, ja zum "Seher" wird:
"Ne andere berühmte Szene ist in dem Sanatorium, in dem Hitler als Kriegsblinder eingeliefert worden ist und dort in seiner Blindheit über den Zustand der deutschen Nation reflektiert. Und das ist eine ganz interessante Konstellation, weil hier die Krise des Individuums und die Krise der Nation kurzgeschlossen werden miteinander. Und in dieser Situation entsteht dann so etwas wie das Bewusstsein, politisch aktiv werden zu müssen."
"Autobiografisches Narrativ und politische Weltanschauung" heißt ein neues DFG-Forschungsprojekt am "Institut für Diaspora- und Genozidforschung" an der Bochumer Universität. Gegenstand des Projekts sind biografische und autobiografische Texte von nationalsozialistischen Führungspersonen wie auch von einfachen Mitgliedern der NSDAP, die in den 20er-Jahren verfasst worden sind.
"Man muss sich vorstellen, dass diese Nationalsozialisten in den 20er-Jahren zwischen 35 und 40 Jahre alt sind. Die stehen am Beginn ihrer politischen Karriere und schreiben ihre Biografie. Das ist ja eigentlich ein Paradoxon, normalerweise schreibt man in der Retrospektive. Da wird ein Leben entworfen aus einer relativ kurzen Lebenserfahrung, und eigentlich hat keiner von denen jemals in politischer Verantwortung gestanden."
Doch die Bochumer Forscher wollen herausarbeiten, dass diese Biografien eine besondere Funktion in der Frühphase des Nationalsozialismus übernehmen. Dort werden Erfahrungen geschildert, die viele Menschen dieser Generation teilen können. Und aus diesen Erfahrungen entwickelt sich langsam die Geschichte der "Bewegung" und zwangsläufig daraus wiederum die nationalsozialistische Weltanschauung.
"Und genau darum geht's eben. Inwieweit werden da Biografien geschildert, die auf wiederholbare Erfahrungen, die geteilt sind von vielen Leuten, zum Beispiel Erster Weltkrieg, die Revolution von 1918, die Inflation, die Ruhrbesetzung - typisierte Biografien, die auch bestimmte Muster von Brüchen und Kontinuierung von Lebenswegen schildern und damit auch Wege in die Politik schildern."
Ernst Röhm, Stabschef der SA, schrieb in den 20er-Jahren die Autobiografie "Die Geschichte eines Hochverräters". Josef Goebbels, Propagandaminister der Nationalsozialisten, verfasste "Michael. Eine deutsches Schicksal in Tagebuchblättern". Solche Schriften sind bislang von der Literaturwissenschaft als "Schmäh- und Propagandaschriften" ohne literarische Qualitäten vernachlässigt worden. Doch für die Bochumer Forscher geben diese Schriften tiefe Einblicke in das Wesen der nationalsozialistischen Ideologie. Sie schildern, anders als etwa die Programmschriften der Linken zu dieser Zeit, "Lebenswissen", aus dem sich quasi mit Notwendigkeit der 'richtige politische Weg' enthüllt.
"Wenn man zum Beispiel programmatische Schriften aus dem Kontext der politischen Linken sieht, dann funktioniert das anders. Die haben Manifestcharakter, auf der Basis theoretischer Reflexion wird da eine politische Programmatik entwickelt, aber im Nationalsozialismus läuft es über die autobiografische Erzählung,weil nämlich die NS-Weltanschauung gerade aus der biografischen Erfahrung entwickelt wird. Das heißt, wir haben uns das nicht so vorzustellen, dass die NS-Weltanschauung ein Ergebnis theoretischer Reflexion über gesellschaftliche Zustände ist, sondern, was da entwickelt wird, ist eben das Ergebnis einer protopolitischen Erfahrung mit sozialer Wirklichkeit, in der sich politische Notwendigkeiten offenbaren."
Schon früh zeigt sich also der Antiintellektualismus der Nationalsozialisten. Der biografische Erzähler stilisiert sich als "visionäres Ich", als "Seher", dem sich in einer Art religiösem Erweckungserlebnis die Wahrheit "offenbart" hat; und der deshalb Anspruch auf die zukünftige Führerschaft erhebt.
"Reflexion, schreibt Goebbels, zu viel Nachdenken ist schlecht. Das verstellt den Blick, der Blick wird eingetrübt, das ist der Punkt. Der Intellektualismus wird bekämpft, weil aus der Perspektive der Nationalsozialisten gerade er dazu beiträgt, nicht mehr wirklich die Welt anschauen zu können, und dann wird man Kommunist oder Sozialdemokrat."
Folgerichtig ist auch in Goebbels sogenanntem "Michael-Roman" die Begeisterung für den Führer keineswegs durch das Wort getragen, sondern durch die Ausstrahlung, die vom Führer als "Augenöffner" ausgeht.
"Es gibt Initiationsszenen, das ist eben in der Begegnung mit Hitler als Redner, mit dem Führer; wobei ganz interessant ist dort - und das bestätigt die These -, dass die Reflexion gar nicht so wichtig ist wie die Erfahrung mit einer bestimmten Präsenz, denn es wird überhaupt nicht geschildert, was der Führer da sagt, sondern es wird nur seine Aura geschildert. Es geht dauernd um den Blickkontakt. Sie sehen sich an, es geschieht so etwas wie Erwählungen oder Erwachen, das sind solche Szenerien."
Der Kommunist ist verblendet. Er hat eine Ideologie. Dem Nationalsozialisten dagegen hat sich die Wahrheit mythisch raunend enthüllt. Kein Einspruch, kein Argument kann dagegen bestehen. Der Nationalsozialist erfasst die Welt so wie sie ist. Er hat, im buchstäblichen Sinne, die "Weltanschauung". Sein Anspruch auf Herrschaft ist damit legitimiert - und sein Terror selbstverständlich auch.
"Wenn man danach fragt, wie der Begriff der Weltanschauung in den 20er-Jahren gefasst wird, ist vielleicht eine Passage aus Goebbels "Michael" ganz augenfällig, 1929. Da kann man Folgendes lesen: "Weltanschauung ist: Ich steh' an einem festen Punkt und betrachte unter einem bestimmten Blickwinkel das Leben und die Welt. Das hat gar nichts mit Wissen oder mit Bildung zu tun. Ist der Punkt richtig und der Blickwinkel gerade, dann ist die Weltanschauung klar und gut. Wo nicht, ist sie verschwommen und schlecht!"
Und hier schon keimte in Hitler der Judenhass, der später im Holocaust mündete. Die frühen programmatischen Schriften der Nationalsozialisten sind voll von solchen "Ur-Szenen der Erfahrung", so Dr. Medardus Brehl, Literaturwissenschaftler an der Ruhr-Universität Bochum. Hitler beschreibt in "Mein Kampf", wie er politisch "aufwacht", wie er buchstäblich vom Blinden zum Sehenden, ja zum "Seher" wird:
"Ne andere berühmte Szene ist in dem Sanatorium, in dem Hitler als Kriegsblinder eingeliefert worden ist und dort in seiner Blindheit über den Zustand der deutschen Nation reflektiert. Und das ist eine ganz interessante Konstellation, weil hier die Krise des Individuums und die Krise der Nation kurzgeschlossen werden miteinander. Und in dieser Situation entsteht dann so etwas wie das Bewusstsein, politisch aktiv werden zu müssen."
"Autobiografisches Narrativ und politische Weltanschauung" heißt ein neues DFG-Forschungsprojekt am "Institut für Diaspora- und Genozidforschung" an der Bochumer Universität. Gegenstand des Projekts sind biografische und autobiografische Texte von nationalsozialistischen Führungspersonen wie auch von einfachen Mitgliedern der NSDAP, die in den 20er-Jahren verfasst worden sind.
"Man muss sich vorstellen, dass diese Nationalsozialisten in den 20er-Jahren zwischen 35 und 40 Jahre alt sind. Die stehen am Beginn ihrer politischen Karriere und schreiben ihre Biografie. Das ist ja eigentlich ein Paradoxon, normalerweise schreibt man in der Retrospektive. Da wird ein Leben entworfen aus einer relativ kurzen Lebenserfahrung, und eigentlich hat keiner von denen jemals in politischer Verantwortung gestanden."
Doch die Bochumer Forscher wollen herausarbeiten, dass diese Biografien eine besondere Funktion in der Frühphase des Nationalsozialismus übernehmen. Dort werden Erfahrungen geschildert, die viele Menschen dieser Generation teilen können. Und aus diesen Erfahrungen entwickelt sich langsam die Geschichte der "Bewegung" und zwangsläufig daraus wiederum die nationalsozialistische Weltanschauung.
"Und genau darum geht's eben. Inwieweit werden da Biografien geschildert, die auf wiederholbare Erfahrungen, die geteilt sind von vielen Leuten, zum Beispiel Erster Weltkrieg, die Revolution von 1918, die Inflation, die Ruhrbesetzung - typisierte Biografien, die auch bestimmte Muster von Brüchen und Kontinuierung von Lebenswegen schildern und damit auch Wege in die Politik schildern."
Ernst Röhm, Stabschef der SA, schrieb in den 20er-Jahren die Autobiografie "Die Geschichte eines Hochverräters". Josef Goebbels, Propagandaminister der Nationalsozialisten, verfasste "Michael. Eine deutsches Schicksal in Tagebuchblättern". Solche Schriften sind bislang von der Literaturwissenschaft als "Schmäh- und Propagandaschriften" ohne literarische Qualitäten vernachlässigt worden. Doch für die Bochumer Forscher geben diese Schriften tiefe Einblicke in das Wesen der nationalsozialistischen Ideologie. Sie schildern, anders als etwa die Programmschriften der Linken zu dieser Zeit, "Lebenswissen", aus dem sich quasi mit Notwendigkeit der 'richtige politische Weg' enthüllt.
"Wenn man zum Beispiel programmatische Schriften aus dem Kontext der politischen Linken sieht, dann funktioniert das anders. Die haben Manifestcharakter, auf der Basis theoretischer Reflexion wird da eine politische Programmatik entwickelt, aber im Nationalsozialismus läuft es über die autobiografische Erzählung,weil nämlich die NS-Weltanschauung gerade aus der biografischen Erfahrung entwickelt wird. Das heißt, wir haben uns das nicht so vorzustellen, dass die NS-Weltanschauung ein Ergebnis theoretischer Reflexion über gesellschaftliche Zustände ist, sondern, was da entwickelt wird, ist eben das Ergebnis einer protopolitischen Erfahrung mit sozialer Wirklichkeit, in der sich politische Notwendigkeiten offenbaren."
Schon früh zeigt sich also der Antiintellektualismus der Nationalsozialisten. Der biografische Erzähler stilisiert sich als "visionäres Ich", als "Seher", dem sich in einer Art religiösem Erweckungserlebnis die Wahrheit "offenbart" hat; und der deshalb Anspruch auf die zukünftige Führerschaft erhebt.
"Reflexion, schreibt Goebbels, zu viel Nachdenken ist schlecht. Das verstellt den Blick, der Blick wird eingetrübt, das ist der Punkt. Der Intellektualismus wird bekämpft, weil aus der Perspektive der Nationalsozialisten gerade er dazu beiträgt, nicht mehr wirklich die Welt anschauen zu können, und dann wird man Kommunist oder Sozialdemokrat."
Folgerichtig ist auch in Goebbels sogenanntem "Michael-Roman" die Begeisterung für den Führer keineswegs durch das Wort getragen, sondern durch die Ausstrahlung, die vom Führer als "Augenöffner" ausgeht.
"Es gibt Initiationsszenen, das ist eben in der Begegnung mit Hitler als Redner, mit dem Führer; wobei ganz interessant ist dort - und das bestätigt die These -, dass die Reflexion gar nicht so wichtig ist wie die Erfahrung mit einer bestimmten Präsenz, denn es wird überhaupt nicht geschildert, was der Führer da sagt, sondern es wird nur seine Aura geschildert. Es geht dauernd um den Blickkontakt. Sie sehen sich an, es geschieht so etwas wie Erwählungen oder Erwachen, das sind solche Szenerien."
Der Kommunist ist verblendet. Er hat eine Ideologie. Dem Nationalsozialisten dagegen hat sich die Wahrheit mythisch raunend enthüllt. Kein Einspruch, kein Argument kann dagegen bestehen. Der Nationalsozialist erfasst die Welt so wie sie ist. Er hat, im buchstäblichen Sinne, die "Weltanschauung". Sein Anspruch auf Herrschaft ist damit legitimiert - und sein Terror selbstverständlich auch.
"Wenn man danach fragt, wie der Begriff der Weltanschauung in den 20er-Jahren gefasst wird, ist vielleicht eine Passage aus Goebbels "Michael" ganz augenfällig, 1929. Da kann man Folgendes lesen: "Weltanschauung ist: Ich steh' an einem festen Punkt und betrachte unter einem bestimmten Blickwinkel das Leben und die Welt. Das hat gar nichts mit Wissen oder mit Bildung zu tun. Ist der Punkt richtig und der Blickwinkel gerade, dann ist die Weltanschauung klar und gut. Wo nicht, ist sie verschwommen und schlecht!"