Als Winston Churchill im Spätsommer 1946 Ferien in der kriegsverschonten Schweiz machte, überhäufte ihn die Bevölkerung mit Zuneigung und Geschenken. Die Begeisterung für den berühmten Gast, der als britischer Regierungschef den Widerstand gegen Hitler-Deutschland angeführt hatte, war der Berner Bundesregierung, die sich weit weniger heroisch durch die Kriegsjahre laviert hatte, nicht geheuer. Als man erfuhr, dass eine Rede in der Universität Zürich geplant war, stimmte man zähneknirschend zu:
"Es wurde uns ausdrücklich zugesichert, dass die Rede nicht politischer Natur ist, sondern im Wesentlichen eine Ermunterung der Jugend darstellt, für den Frieden und gegen den Krieg zusammenzuarbeiten."
"Eine Art Vereinigte Staaten von Europa errichten"
Vielleicht hoffte man in Bern tatsächlich, der im Vorjahr von den britischen Wählern abgewählte Kriegspremier werde sich auf wohlmeinende Ratschläge an die Jugend beschränken. Bei einem politischen Vollblut wie Churchill war dies aber unwahrscheinlich. Seit Monaten hatte Churchill angesichts des wachsenden sowjetischen Einflusses eine europapolitische Initiative vorbereitet, um den Kontinent aus der politischen Agonie zu reißen. Die Aula der Zürcher Universität wurde am 19. September 1946 durch Churchill zum weltpolitischen Forum:
"Wir müssen eine Art Vereinigte Staaten von Europa errichten. Nur auf diese Weise werden Hunderte von Millionen hart arbeitender Menschen in die Lage versetzt, jene einfachen Freuden und Hoffnungen wiederzuerhalten, die das Leben lebenswert machen (...) Ich sage Ihnen jetzt etwas, das Sie erstaunen wird. Der erste Schritt zu einer Neuschöpfung der europäischen Völkerfamilie muss eine Partnerschaft zwischen Frankreich und Deutschland sein. Nur so kann Frankreich seine moralische und kulturelle Führerrolle in Europa wiedererlangen."
Verhaltenes Echo in Frankreich
Trotz der angebotenen kontinentalen Führungsrolle reagierte man in Paris pikiert. Churchills Forderung nach einer Aussöhnung mit Deutschland war ein Jahr nach der Niederwerfung von Hitlers Militärmaschine eine Zumutung. Die eigentliche Sensation aber war das Eintreten Churchills für eine europäische Föderation. Der Vorsitzende der Paneuropa-Union, Graf Coudenhove-Kalergi, frohlockte:
"Die Wirkung dieser Rede war gewaltig. Plötzlich war die verschollene Paneuropa-Idee wieder in allen Leitartikeln, auf allen Zungen! Denn Churchill war kein Dichter, kein Philosoph, kein Träumer, kein Phantast, sondern der größte Realpolitiker des Jahrhunderts. Alle, die bislang heimlich und schüchtern die Einigung Europas erhofft hatten, wagten von nun an, öffentlich an Churchills Seite für diese Idee einzutreten."
Wie Churchill die Europa-Idee umpolte
Vor allem wurde durch Churchills Rede wegen ihrer antikommunistischen Stoßrichtung der Gedanke einer Europäischen Union, der bis dahin eher bei der politischen Linken heimisch gewesen war, in bürgerlich-konservativen und christlichen Kreisen hoffähig. Die Idee der europäischen Einigung als Voraussetzung für Demokratie und Wohlstand in Europa war nun auf der Tagesordnung, zumal sie bald kräftig von den USA unterstützt wurde.
Macht Europa wieder groß - aber ohne uns
Churchill wurde zur Ikone der Europabewegung. Doch als er 1951 wieder in die Downing Street einzog und die deutsch-französische Verständigung Formen annahm, waren viele enttäuscht, dass Großbritannien sich abseits hielt. Dabei hatte Churchill schon 1930 klargestellt, dass das Vereinigte Königreich selbst einer Europäischen Föderation nicht angehören sollte: "Wir stehen zu Europa, gehören aber nicht dazu; wir gehören zu keinem einzelnen Kontinent, sondern zu allen."
Die europäische Einigung hatte in Churchills Augen vor allem den Zweck, alle Kraft Großbritanniens auf den Erhalt des Empire konzentrieren zu können. Die Illusion einer eigenen weltpolitischen Rolle Großbritanniens zwischen den USA und Europa erwies sich später als Churchills größte politische Fehleinschätzung. Großbritannien hinterließ er damit eine schwere Hypothek, doch Europa hat Churchill mit seiner Zürcher Rede einen Dienst erwiesen.