Tobias Armbrüster: Es sind seit Tagen, seit Wochen die immer wieder gleichen Bilder, die wir aus Frankreich bekommen: Demonstrationen im ganzen Land, mal mit, mal ohne Gewalt, Tausende von Menschen auf den Straßen, massive Polizeipräsenz. Es ist die Protestbewegung der Gelbwesten, eine Protestbewegung gegen die Politik von Präsident Macron, eine Bewegung auch gegen die soziale Schieflage im ganzen Land.
Präsident Macron ist nun gestern Abend zur besten Sendezeit im Fernsehen aufgetreten. Das Ziel seiner Ansprache: Ruhe stiften. Am Telefon ist jetzt Claire Demesmay, französische Politikwissenschaftlerin bei der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik. Schönen guten Morgen!
Claire Demesmay: Guten Morgen.
Armbrüster: Frau Demesmay, haben wir gestern schon das Ende des großen Reformers Emmanuel Macron gesehen?
Demesmay: Was wir gesehen haben ist, denke ich, eine Art Wende, eine Wende in dem Ton und eine Wende auch in der Wirtschafts- und der Sozialpolitik. Macron hat viele Zugeständnisse gemacht und ist auf viele Forderungen der Gelbwesten eingegangen, und das ist nicht, was er alles im Wahlkampf versprochen hatte.
"Macron ist jetzt in einer Art Falle"
Armbrüster: Hat er dann geliefert? Kann er sich jetzt zurücklehnen?
Demesmay: Nein, das kann er bestimmt nicht. In der Tat ist er auf diese Fragen eingegangen, und das konnte man auch in Ihrer Reportage hören: Erhöhung des Mindestlohns oder steuerfreie Überstunden, Entlastung für Rentner etc. Aber er ist jetzt in einer Art Falle. Er hat sich bewegt. Er kann sich kaum weiter noch bewegen.
Aber es wird als nicht genug angesehen von den Gelbwesten. Ich fand es interessant, gestern diese Reaktionen zu hören: Der Kampf geht weiter, weil es sind nur Krümel. Das war ein Ausdruck von Leuten, die da interviewt worden sind. Man sieht diese enorme Kluft zwischen Macron, zwischen der Regierung und zwischen den Erwartungen von den Gelbwesten, und das ist sehr gefährlich für ihn.
Armbrüster: Frau Demesmay, hat Macron denn jetzt eigentlich noch irgendwelchen Spielraum für die wirtschaftlichen Reformen, die er ursprünglich mal für sein Land vorhatte und die ja eigentlich in eine völlig andere Richtung gehen sollten?
Demesmay: Genau. Das sollte eine andere Richtung sein. Das sollte eine liberale Richtung sein. Und das hat er auch gestern noch mal gesagt. Er hat gesagt, dass die Rentenreform zum Beispiel immer noch aktuell bleibt. Er meinte auch, dass die Reform der Arbeitslosenversicherung aktuell bleibt. Er versucht, auch dran zu bleiben und nicht alles einfach so zu vergessen oder wegzuschmeißen, und das ist sein Problem jetzt. Er muss weitermachen. Er muss auch bei den Reformen weiter liefern, weil auch da gibt es Erwartungen von einem anderen Teil von der Bevölkerung.
Es gibt auch Erwartungen von den europäischen Partnern, darunter auch Deutschland. Auf der anderen Seite gibt es diesen enormen Druck von der Straße, und der ist zwischen beiden Positionen und eigentlich kann er keiner Seite gerecht werden.
"Macrons ganze politische Autorität in Europa hängt massiv von seinen Reformen in Frankreich ab"
Armbrüster: Wenn er nun so in der Bredouille ist in seiner eigenen Heimat, wenn er so mit dem Rücken zur Wand steht, was sind dann eigentlich Emmanuel Macrons Vorschläge für Europa noch wert?
Demesmay: Ja, das ist das Problem und das ist eine zentrale Frage, die Sie da stellen, weil seine ganze politische Autorität in Europa hängt massiv von seinen Reformen im eigenen Land ab, in Frankreich ab. Seine Strategie war bis vor ein paar Wochen noch, Allianzen in ganz Europa zu schließen, diese Bewegung weiterzuführen, die er in Frankreich gegründet hat für die Präsidentschaftswahl, und weiterzumachen. Aber ohne diese politische Autorität kann er diese Bewegung überhaupt nicht verkörpern.
Ich fand auch interessant, gestern zu hören, und ich weiß überhaupt nicht, ob das ernst gemeint wird oder nicht. Aber ein Vertreter der Gelbwesten in einer Fernsehsendung sagte, sie werden eine Liste bei der Europawahl bilden. Das ist natürlich die nächste Herausforderung. Da wollte Macron punkten, da wollte er diesen Schritt weiter in Richtung europäische Integration machen, und so wie es aussieht, kann er das gar nicht.
"Das Misstrauen gegenüber der politischen Elite ist seit Jahrzehnten wirklich sehr groß"
Armbrüster: Frau Demesmay, ist die französische Politik hier an einem Punkt, an einer Zäsur angekommen, wo eigentlich jeder Präsident, an den man sich in den letzten Jahrzehnten erinnern kann, irgendwann angekommen ist, und zwar relativ schnell, dass sie immer antreten als große Reformer, immer antreten als Erneuerer mit großen Visionen, und dann relativ schnell, innerhalb weniger Monate oder innerhalb der ersten ein, zwei Jahre eingeholt werden von der öffentlichen Meinung und dann sofort drei, vier Gänge zurückschalten müssen?
Demesmay: Ja, Sie haben recht. Das ist in der Tat ein Muster, das man beobachten kann in der französischen Politik. Nur nicht alle Präsidenten sind mit einem großen Reformprogramm angetreten. Das war bei Hollande überhaupt nicht der Fall. Das war eine ganz andere Politik. Und trotzdem gab es diese Unzufriedenheit.
Das Misstrauen in Frankreich gegenüber der politischen Elite ist seit Jahrzehnten tief und wirklich sehr groß. Das ist das Paradox. Das hat eigentlich Emmanuel Macron zur Wahl geholfen, weil die Bevölkerung hatte kein Vertrauen mehr zu den alten Parteien und er hat davon profitiert. Jetzt wird er davon eingeholt, weil er verkörpert diese Macht, die von vielen gehasst wird, diese klare vertikale Machtstruktur.
Er hat gestern angekündigt, dass er einen Dialog möchte, auch mit Bürgermeistern, auch mit Gewerkschaftlern, Leuten, die sich inzwischen im Stich gelassen fühlen. Und da ist die Frage: Schafft er das, diesen Dialog zu haben, diese vertikale Machtstruktur durchzubrechen, um wirklich in die Gesellschaft zu gehen. Das ist eigentlich seine einzige mögliche Rettung.
Armbrüster: Dann können wir festhalten, Macron steht jetzt gerade massiv unter Druck. Und dann schließt sich natürlich die Frage an: War es dann richtig, war es eine richtige Reaktion, auch von vielen deutschen Politikern, die gesagt haben, als Macron angetreten ist, auch mit seinen großen europapolitischen Vorstellungen, jetzt warten wir erst mal ab, schauen wir erst mal, was mit diesem Emmanuel Macron tatsächlich passiert, was er wirklich realisieren kann?
Demesmay: Ich finde die Reaktionen aus Deutschland oder diese deutsch-französische Zusammenarbeit in diesem Punkt sehr wichtig, weil für Macron gab es diese Sequenzen nicht so. Das war nicht, erst mal in Frankreich liefern und dann sehen wir, was in Europa möglich ist.
"Ohne ganz viel Kommunikation wird es ihm nicht gelingen"
Armbrüster: Aber zumindest war die deutsche Seite ja sehr zögerlich am Anfang.
Demesmay: Das ist wahr! Genau!
Armbrüster: Das wurde ihr auch immer wieder zum Vorwurf gemacht, dass die Politiker nicht auf ihn zugegangen sind.
Demesmay: Genau! Das war und das ist die deutsche Position.
Armbrüster: Könnte man jetzt sagen, war vielleicht gar nicht verkehrt, diese Reaktion?
Demesmay: Na ja, man könnte das auch umgekehrt sagen. Man könnte sagen, es hätte Macron geholfen, in der EU mehr zu erreichen, um was zu bewegen, und das ist der Punkt, dass man das nicht trennen kann. Es sind zwei Phasen. Für Macron war das nur eine Phase, die gleichzeitig passieren sollte.
Armbrüster: Was glauben Sie dann? Wie geht es für Emmanuel Macron jetzt in den kommenden Tagen weiter?
Demesmay: Das ist schwer zu sagen. Ich habe den Eindruck, dass die Bewegung sich erst mal nicht beruhigen wird, dass die Gelbwesten nach wie vor entschieden sind. Er muss versuchen, Demut zu zeigen, weil das wird ihm auch vorgeworfen, eine Arroganz gegenüber den kleinen Leuten. Da muss er wirklich im Ton zeigen, dass er den Ernst der Lage verstanden hat.
Und trotzdem weiter - und das ist ein Spagat, das ist eigentlich fast unmöglich -, trotzdem weiter reformieren. Ohne ganz viel Kommunikation wird es ihm nicht gelingen.
Armbrüster: Ein unmöglicher Spagat. Wir sind gespannt, wie das geschieht. Das war hier bei uns live in den "Informationen am Morgen" Claire Demesmay, Expertin für die deutsch-französischen Beziehungen bei der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik. Frau Demesmay, vielen Dank für Ihre Zeit heute Morgen.
Demesmay: Danke.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.