Was ist am 3. Juni 1998 beim Zugunglück passiert?
Es war der Vormittag des 3. Juni 1998: Mit knapp 200 Stundenkilometern passierte der ICE 884 "Wilhelm Conrad Röntgen" die niedersächsische Kleinstadt Eschede (Landkreis Celle) auf dem Weg nach Hamburg. Über 200 Passagiere waren an Bord des Zuges als es passierte: Kurz vor einer Brücke entgleiste der ICE. Einer der Wagen krachte gegen einen Brückenpfeiler und brachte das tonnenschwere Bauwerk zum Einsturz. Vier Wagen schafften es noch unter der Brücke durch, ein fünfter Wagen wurde auseinandergerissen und begrub den sechsten unter sich. (*) Die folgenden Wagen wurden vom hinteren Triebkopf des Zuges wie ein Zollstock zusammengeschoben. Schon nach wenigen Minuten war der erste Rettungswagen vor Ort.
Er setzte die schockierende Meldung ab: "Kompletter ICE verunglückt". Brandmeister Gerd Bakeberg vom Landkreise Celle war auch vor Ort: "Was man zu sehen bekam, konnte man erst gar nicht fassen. Man konnte keinen klaren Gedanken fassen", sagte er.
Die traurige Bilanz: 101 Todesopfer und 108 Verletzte. Und es hätte noch schlimmer kommen können: Planmäßig wäre der Zug genau bei Eschede dem nach Süden fahrenden ICE 787 begegnet. Der wäre womöglich in das Unfallchaos hineingerast, wenn er nicht eine Minute schneller gewesen wäre als der Fahrplan: Er hatte die Stelle daher also schon passiert. Der verunglückte ICE 884 war eine Minute zu spät dran.
Was waren die Ursachen und wie war der Umgang?
Zwei Wochen nach dem Unglück hatte das Eisenbahn-Bundesamt bekanntgegeben, dass ein Defekt an einem Rad des ersten Wagens das Unglück ausgelöst hatte. Die ICEs dieser ersten Generation besaßen Räder mit einer Hartgummidämpfung. Darauf lief ein metallener Radreifen – und ein solcher Reifen war vor Eschede gebrochen und hatte sich vor der Betonbrücke in Eschede an einer Weiche verhakt.
Im Dezember 2001 erhob die Staatsanwaltschaft Lüneburg Anklage gegen drei Ingenieure der Deutschen Bahn AG und des Radreifen-Herstellers. Sie zitierte die Einschätzung des Fraunhofer-Instituts für Betriebsfestigkeit, wonach der betreffende Radreifen so verschlissen gewesen sei, dass er nicht mehr sicher habe laufen können. Zwar habe er die Sicherheitskriterien der Bundesbahn noch eingehalten; aber diese Kriterien seien 1992 ohne ausreichende Berechnungen und Labor- oder Fahrversuche formuliert worden.
Die Gutachter der Verteidigung hielten dagegen: Niemand habe den Bruch des Radreifens vorhersehen können; die Radkonstruktion selbst sei für Hochgeschwindigkeitszüge geeignet. ICEs hätten schließlich mit diesen Rädern in sechs Jahren zehn Milliarden Streckenkilometer absolviert. Nach 54 Verhandlungstagen schlug das Landgericht Lüneburg vor, das Verfahren gegen eine Geldbuße einzustellen. Es nahm damit in Kauf, dass die Verantwortlichkeit letztlich nie ganz geklärt werden würde. Aber die Befragung der Gutachter habe eine schwere Schuld der Angeklagten nicht ergeben.
Wie war der Umgang mit den Hinterbliebenen?
Das Verfahren wurde schließlich eingestellt. Für die Betroffenen war das ein schwerer Schlag. Opfer und Hinterbliebene hatten die Selbsthilfe Eschede gegründet. Es ging nicht zuletzt darum, die Interessen gegenüber der Deutschen Bahn geltend zu machen. Die Deutsche Bahn hatte sich zum Zeitpunkt der Beendigung des Verfahrens nicht zu einer Bitte um Entschuldigung bereitgefunden. Es dauerte tatsächlich 15 Jahre, bis 2013, bis sie um Verzeihung bat.
Heute übt die Deutsche Bahn Selbstkritik: „Ja, in der Tat, es hat 15 Jahre gedauert – zu lange, wie man heute sagen muss –, es gab natürlich nach dem Unfall viele juristische Hinweise, dass man sich nicht entschuldigen kann, solange das Ganze nicht juristisch geklärt ist, aber ich sage auch ganz deutlich: Eine offizielle Entschuldigung, wie sie der damalige Bahnchef Rüdiger Grube 2013 ausgesprochen hat, hätte trotz aller juristischen Bedenken früher kommen müssen", sagte Konzernsprecher Achim Stauß.
Für die medizinische Versorgung und Hilfen hat die Deutsche Bahn den Opfern insgesamt etwa 40 Millionen Euro gezahlt. Die Klage eines Berliner Anwalts, der stellvertretend für 50 Hinterbliebene vor dem Landgericht Berlin je 250.000 Mark forderte, statt der angebotenen 30.000 Mark, scheiterte.
Heinrich Löwen, Sprecher der Hinterbliebenen, hat zum 25. Jahrestag ein Buch mit dem Titel "ICE 884 – nach der ICE-Katastrophe von Eschede, Erinnerungen, Erfahrungen und Erkenntnisse" geschrieben. Er betont, das gemeinsame Erinnern und Trauern sei wichtig. In seinem Buch beschreibt er den langen Kampf um Entschädigung - 30.000 Mark pro Todesopfer - und die Enttäuschung über die juristische Aufarbeitung.
"Es ist keine Geschichte, die man so abhakt, das rührt einen schon an", sagte der 78-jährige Bayer der dpa, der damals seine Ehefrau und Tochter verloren hat. "Es ist nicht unbedingt leichter als früher, viele von uns sind auch älter geworden." Der Jahrestag rufe einiges hervor.
Eine Chronologie von größeren Zugunglücken in Deutschland seit dem Eschede-Unglück:
Seit 1950 hat es in Deutschland einige schwere Zugunglücke gegeben, bei denen jeweils viele Menschen starben. Vor allem in den 1970er-Jahren häuften sich die Unfälle. Beim schwersten Unfall - 1998 in Eschede - verloren 101 Menschen ihr Leben. Bis heute zählt das ICE-Unglück von Eschede sogar zu den weltweit schwersten Unglücken, die es mit Hochgeschwindigkeitszügen gegeben hat.
3. Juni 1998: Zugunglück von Eschede mit 101 Toten, 108 werden schwer verletzt, ein gebrochener Radreifen war entgleist
22. September 2006: In Lathen im niedersächsischen Emsland rast ein Transrapid auf einer Teststrecke auf einen Arbeitszug. 23 Menschen starben, elf wurden verletzt.
29. Januar 2011: Bei Oschersleben in Sachsen-Anhalt kollidiert ein Regionalzug mit einem Güterzug der Verkehrsbetriebe Peine-Salzgitter. Ein Lokführer hatte zwei Haltesignale überfahren. Zehn Menschen kommen ums Leben.
9. Feburar 2016: Beim Zugunglück von Bad Aibling stoßen zwei Personenzüge frontal zusammen. Zwölf Menschen kommen dabei ums Leben.
3. Juni 2022: Ein Regionalzug nach München entgleist bei Garmisch. Fünf Menschen starben, 78 wurden verletzt.
Seit 1950 hat es in Deutschland einige schwere Zugunglücke gegeben, bei denen jeweils viele Menschen starben. Vor allem in den 1970er-Jahren häuften sich die Unfälle. Beim schwersten Unfall - 1998 in Eschede - verloren 101 Menschen ihr Leben. Bis heute zählt das ICE-Unglück von Eschede sogar zu den weltweit schwersten Unglücken, die es mit Hochgeschwindigkeitszügen gegeben hat.
3. Juni 1998: Zugunglück von Eschede mit 101 Toten, 108 werden schwer verletzt, ein gebrochener Radreifen war entgleist
22. September 2006: In Lathen im niedersächsischen Emsland rast ein Transrapid auf einer Teststrecke auf einen Arbeitszug. 23 Menschen starben, elf wurden verletzt.
29. Januar 2011: Bei Oschersleben in Sachsen-Anhalt kollidiert ein Regionalzug mit einem Güterzug der Verkehrsbetriebe Peine-Salzgitter. Ein Lokführer hatte zwei Haltesignale überfahren. Zehn Menschen kommen ums Leben.
9. Feburar 2016: Beim Zugunglück von Bad Aibling stoßen zwei Personenzüge frontal zusammen. Zwölf Menschen kommen dabei ums Leben.
3. Juni 2022: Ein Regionalzug nach München entgleist bei Garmisch. Fünf Menschen starben, 78 wurden verletzt.
Welche Konsequenzen hat die Bahn gezogen, um die Sicherheit zu verbessern?
Rasch nach dem Unglück traf die Bahn technische Entscheidungen. Die Räder mit den gummigefederten Radreifen am ICE 1 wurden aus dem Verkehr gezogen. Die Radsätze werden regelmäßig auf Defekte untersucht. Alle ICEs bekamen markierte Fenster für den Notausstieg. Bei Neubaustrecken wurden vor Brücken und Tunneleinfahrten nun keine Weichen mehr eingebaut.
Dazu kommt: Heute sind die technischen Zulassungsverfahren strenger als 1991, als der ICE 1 auf die Strecke ging. Damals liefen die Prozesse bundesbahnintern ab. Heute hat eine übergeordnete europäische Stelle die Federführung: die European Railway Agency (ERA) im französischen Valenciennes.
ERA-Exekutivdirektor Josef Doppelbauer sagt: „Der wesentliche Unterschied in dem heutigen Verfahren ist, dass es mehr unabhängige Beteiligte gibt; also, es gibt die sogenannten Dritten Parteien - die sind unabhängig vom Herstellland, unabhängig vom Betreiber. Und dann gibt es darüber hinaus noch die Behörde als Genehmigungsstelle. Der Prozess hat sich wesentlich verbreitert und verbessert.“
Eine solche Dritte Partei kann zum Beispiel der TÜV sein. Erst kürzlich, so Josef Doppelbauer, habe die ERA noch die Zulassung eines neuen Güterwagentyps verweigert.
Auch am Fahrweg lässt sich das Sicherheitsniveau heben. Alle Strecken in Deutschland sind von jeher mit der "Induktiven Zugsicherung" ausgerüstet, kurz Indusi. Die gibt, vereinfacht gesagt, sofort Alarm, wenn ein Zug ein rotes Signal überfährt, und bremst den Zug dann zwangsweise ab.
Grundsätzlich sei es so, dass die Indusi schon ein sehr ordentliches Sicherheitsniveau gewährleiste, so Doppelbauer. "Die Hochgeschwindigkeitslinien sind alle mit der Linienzugbeeinflussung ausgerüstet, diese Linienzugbeeinflussung ist jetzt vom Thema Sicherheit her gesehen auf dem gleichen Niveau wie das ETCS.“
Hinter ETCS verbirgt sich das "European Train Control System". Beim ETCS-System erfolgt die Überwachung der Geschwindigkeit kontinuierlich während die sogenannte Indusi punktförmig überwacht. Damit hat man noch besser im Griff, was auf den Gleisen vor sich geht.
Auch im Inneren der Züge hat sich seit dem Unglück von Eschede einiges verändert, sagt Markus Hecht vom Institut für Land und Seeverkehr an der Technischen Universität Berlin. „Eine ganz deutliche Änderung ist die, dass Crash-Zonen in den Fahrzeugen eingeführt wurden. Diese gelten seit 2009 europaweit", sagt er. Bei der Kollision in Bad Aibling 2016 mit zwölf Toten wäre es ohne diese EU-konforme Ausstattung zu weitaus mehr Opfern gekommen: "Wir haben das im Expertenkreis nachgerechnet: Wenn das noch die altherkömmliche Ausführung gewesen wäre, hätte man 80 Tote erwarten können."
Laut Hecht seien noch weitergehende Sicherungsvorkehrungen denkbar. Über eine Gurtpflicht in Zügen etwa habe man diskutiert. Aber: „Da steht der Vandalismus entgegen!" Die Sitze müssten daher vandalismus-resistenter sein, was wiederum für eine Unfall-Situation weniger gut sei.
Die Deutsche Bahn versucht die Prozesse daher auch an anderer Stelle zu verbessern: „Wir haben mittlerweile ein sehr ausgeklügeltes Notfallmanagementkonzept mit Notfallmanagern, die in einer fest definierten Zeit an einer Unfallstelle sein müssen", sagt Deutsche-Bahn-Sprecher Achim Stauß. Ebenso gibt es seit der Katastrophe von Eschede ein besseres Betreuungskonzept für Angehörige und Helfer.
Michael Kuhlmann/dpa/ndr/dh
(*) Anmerkung der Redaktion: In einer früheren Version des Textes hieß es, der ICE sei entgleist, bevor er über eine Brücke fuhr. In Wirklichkeit sprang der Zug aus den Schienen, kurz bevor er unter einer Brücke durchfuhr. Wir haben den Fehler korrigiert.