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Zukünftiger Berlinale-Chef
"Er steht für eine beinharte cineastische Sozialisation"

Der Italiener Carlo Chatrian soll neuer Direktor der Berlinale werden - eine große Überraschung für die deutsche Filmbranche, sagte Filmkritikerin Katja Nicodemus im Dlf. Der künstlerische Leiter des Filmfests von Locarno treffe nun auf ein "Riesenfestival" und stehe vor großen Herausforderungen.

Katja Nicodemus im Gespräch mit Anja Reinhardt | 20.06.2018
    Der Italiener Carlo Chatrian bei der Eröffnung des Filmfestivals von Locarno 2015
    Der Italiener Carlo Chatrian bei der Eröffnung des Filmfestivals von Locarno 2015 (dpa / picture alliance / Urs Flueeler)
    Anja Reinhardt: Eigentlich sollte der Nachfolger von Dieter Kosslick, dem noch amtierenden Leiter der Berlinale, am Freitag vorgestellt werden - nun ist aber offenbar aus sehr sicherer Quelle der Name doch schon bekannt geworden: Carlo Chatrian, künstlerischer Leiter des Locarno Filmfestivals, soll Kosslicks Nachfolge antreten. Seine Vision von künstlerischem Kino: in einer globalen Welt die besonderen Geschichten finden:
    "Ich denke, es ist sehr einfach, von einem Ende der Welt zum anderen zu reisen, es ist sehr einfach, überall die gleichen Geschäfte zu finden und sogar die gleichen Gesichter zu sehen und dennoch hält jeder Winkel der Welt einzigartige Geschichten bereit. Und die kann das Kino erzählen."
    Sechs Monate im Jahr ist Carlo Chatrian für das Filmfestival in Locarno unterwegs – er kennt also alle Enden der Welt. In Turin ist er geboren, dort hat er Philosophie und Literatur studiert, er war Filmkritiker, hatte einen Lehrauftrag, dann knapp sechs Jahre Locarno - letztes Jahr hat er während der Filmfestspiele noch gesagt: "Die Berlinale ist ein großartiges Festival mit viel Potenzial, aber ich glaube nicht, dass ich dafür geeignet bin, zumal ich ja kein Deutsch spreche."
    Katja Nicodemus, Sie als Filmkritikerin kennen das Locarno Filmfestival gut – haben Sie eine Erklärung für diesen Sinneswandel?
    Katja Nicodemus: Das kommt natürlich auch daher, dass dieser Job dann einfach frei wird, und man ihm vielleicht auch entsprechende Bedingungen geliefert hat. Ja, nun ist er da. Ich meine, es war auch schon eine große Überraschung, dass man einen Italiener nimmt. Da wird die deutsche Filmbranche auch erst mal schlucken müssen, glaube ich.
    Anja Reinhardt: Wieso schlucken?
    Katja Nicodemus: Weil, es gab schon im Vorhinein so Forderungen, dass es auf jeden Fall ein Deutscher – vielleicht kein Biodeutscher – aber ein deutschsprachiger Festivalchef oder Kulturfunktionär werden müsste. Was ich eigentlich Quatsch finde! Dieser Festivalchef muss sozusagen die visuelle Sprache des Kinos verstehen und Englisch können und seine Muttersprache – und der Rest gibt sich dann.
    Anja Reinhardt: Wenn man Locarno und die Berlinale vergleicht, ist das Berliner Filmfestival schon ein paar Hausnummern größer. Wie schätzen Sie das ein: Ist das eine sehr große Herausforderung für Chatrian?
    Katja Nicodemus: Ich glaube, das ist eine riesige Herausforderung, weil Chatrian steht ja, sagen wir mal, für eine beinharte cineastische Sozialisation. Sie haben es ja schon angedeutet, er kennt das internationale Autorenkino, er ist Stammgast auf den Festivals der Welt, er ist von Haus aus Filmkritiker, hat auch Bücher über den Hongkong-Chinesen Wong Kar-Wai geschrieben, über den Dokumentarfilmer Errol Morris. Und er ist wirklich in einem emphatischen Sinne an den Formen und Entwicklungen des Kinos interessiert. Und jetzt trifft er eben auf ein Riesenfestival, was dann aber auf einmal auch andere Forderungen hat oder Anforderungen. Nämlich Sponsoren, einen Roten Teppich, den man mit Stars beschaufeln muss. Das musste er in Locarno teilweise auch, auf der Piazza Grande, diesem Riesen-Freiluftkino für 8.000 Leute. Da musste er auch publikumswirksame Filme zeigen, aber die Berlinale ist dann noch mal ein anderer Riesentanker, der einen Großteil seiner Millionen über Sponsoren einfährt.
    Doppelspitze als sinnvolle Lösung
    Anja Reinhardt: Dieter Kosslick hatte sich ja in Hinblick auf eine neue Leitung für eine Doppelspitze ausgesprochen. Am Freitag, also am offiziellen Verkündungstag, soll auch die neue Geschäftsführung verkündet werden, voraussichtlich eine Frau. Braucht es denn diese Gewaltenteilung?
    Katja Nicodemus: Also, ich glaube, auf jeden Fall. Ich meine, Dieter Kosslick hatte die Berlinale hier ja zu einem Riesenevent in Berlin gemacht. Das ist ein gigantisches Publikumsfestival. Ich glaube, 300.000 Karten wurden letztes Jahr verkauft. Diese Riesenveranstaltung braucht jetzt auch ein anderes Management. Ich meine, viel kleinere Festivals, wie Locarno zum Beispiel, haben solche Doppelspitzen. Das braucht es einfach, um dem künstlerischen Leiter den Rücken freizuhalten. Es gibt Sonderreihen, es gibt ein Festival im Festival, das "Internationale Forum des Jungen Films". Es gibt Spezialvorführungen, Unterreihen, Nebensektionen. Im Grunde muss man diesem künstlerischen Leiter den Rücken freihalten und mit Sponsoren verhandeln und ihm wirklich die Möglichkeit geben, durch die Welt zu gondeln, Kontakte zu Filmemachern zu pflegen und die Stars auch einzukaufen, ohne dass er sich um die Verträge und die Details des Kaufmännischen große Gedanken machen muss.
    Herausforderung durch Streaming-Dienste
    Anja Reinhardt: Es gab ja in den letzten Jahren und besonders in diesem Jahr ganz heftig sehr viel Kritik an der Berlinale, an Dieter Kosslick. Was sind denn jetzt die Herausforderungen, die auf Carlo Chatrian zukommen?
    Katja Nicodemus: Na, ich fand das ja zum Teil auch sehr ungerecht, wenn man sieht, was Kosslick einerseits geleistet hat. Er hat ja nach der etwas glücklos endenden Ära von Moritz de Hadeln dieses Festival eben auftragsgemäß zu einem Publikumsfestival ausgebaut. Er hat sich auch neuen Herausforderungen gestellt: Die amerikanischen Filme sind ja nicht mehr so leicht nach Berlin gekommen, durch die Verlegung der Oscars. Auf diese Gemengelage trifft jetzt Chatrian, und man muss sagen, er trifft auch auf eine neue Ära des Bildermachens, der Bilderentstehung und der Bilderfluktuation. Als Dieter Kosslick das Festival übernommen hat, da gab es noch keine Streaming-Portale, da gab es letztlich noch keine Bilderfluten im Internet. Und im Grunde besteht die Hauptherausforderung jetzt von Chatrian, dieses Festival als physisches Ereignis, als große Dunkelkammer des Kinos, wo wir uns kollektiv zusammenfinden, wo Filme das Licht der Welt erblicken – das auch zu retten. Und da muss er sich eben auch mit Streaming-Diensten wie Netflix auseinandersetzen. Und ich glaube, dass der Weg von Cannes, diese Dienste einfach auszusperren und zu ignorieren, nicht die Zukunft ist. Und das hat auch Chatrian schon angedeutet, dass er da einen anderen Weg gehen wird. Und das wird, glaube ich, auch sehr spannend, das zu gucken.
    Anja Reinhardt: Katja Nicodemus über Carlo Chatrian, der die Nachfolge von Dieter Kosslick als Berlinale Chef antreten soll.