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Zukunft der Europäischen Union
Asselborn: "Am Ende muss eine gemeinsame Position stehen"

Die EU habe aktuell ein Problem, sich auf gemeinsame Positionen zu verständigen, sagte Luxemburgs Außenminister Jean Asselborn im Dlf. Länder würden sich sogar gratulieren, wenn die Einstimmigkeit gebrochen wird. Die Europäer müssten sich wieder auf Solidarität und Gemeinschaftlichkeit besinnen.

Die Flaggen der Mitgliedsstaaten der EU sind zusammen mit der EU-Flagge auf einem Tisch im Europäischen Informationszentrum aufgestellt, fotografiert am 08.02.2017 in Erfurt (Thüringen).
Flaggen der EU (picture-alliance / dpa / Jens Kalaene)
Christine Heuer: Informeller EU-Gipfel heute im rumänischen Sibiu. Eigentlich hatte der ja früher stattfinden sollen, als erstes Treffen dann der Staats- und Regierungschefs ohne die Briten nach dem Brexit. Aber das kam bekanntlich alles anders. Theresa May verzichtet heute freiwillig auf ihre Teilnahme, der Brexit ist kein Thema. Und worüber reden sie ohne die Briten in Sibiu? Über große Strategien und Ziele der EU27 für die nächsten Jahre.
Am Telefon ist der luxemburgische Außenminister, Sozialdemokrat ist er, überzeugter Europäer, wirklich sehr von Herzen, Jean Asselborn. Guten Tag, Herr Asselborn!
Jean Asselborn: Guten Tag, Madame Heuer.
"Der nationale ist nicht der richtige Weg"
Heuer: Einst haben Sie - oder es ist gar nicht so lange her - Matteo Salvini, dem Italiener, ein herzhaftes "Merde alors!" entgegengeschleudert. Was werden Sie erst rufen, Herr Asselborn, wenn die Salvinis, die Orbáns, die Kaczynskis, Straches, Le Pens und Farages sich nach der Wahl zu einem mächtigen rechten Block zusammentun?
Asselborn: Ich glaube, das wäre vielleicht gar nicht so schlecht, wenn diese Leute da oder diese Parteien alle zusammenkämen. Ich glaube, in Europa würde man sich ein besseres Bild darüber machen. Es ist ganz klar: Diese Politiker, wenn ich so sagen darf, sind auf einer nationalen Schiene, die in Europa sehr schnell nationalistisch werden kann. Diese nationale Schiene in Europa war nie der richtige Weg, ist nicht der richtige Weg und wird auch nicht der richtige Weg werden. Man muss gleich anfangs unseres Gespräches vielleicht sagen: Die, die Europa, sagen wir mal, in der Seele kaputt machen wollen, die gehen stimmen. Die, die Europa verteidigen müssen und wollen, dass wir dieses Friedensprojekt in den kommenden Generationen weitergehen können, müssen wählen gehen am 26. Mai.
Dossier: Europawahlen
Europawahlen (picture alliance / dpa / Kay Nietfeld)
Zwei schlimme Ereignisse im Jahr 2016
Heuer: Die rechten Populisten stehen gut da in den Wahlumfragen, völlig richtig. Und genau darum ging es mir jetzt, mal die Ausgangslage vor dem Gipfel, über den wir gleich sprechen, auch zu klären mit Ihnen, Herr Asselborn. Wenn die rechten Populisten so gut dastehen, was haben dann die anderen, die überzeugten EU-Europäer, Sie auch, was haben sie alle falsch gemacht?
Asselborn: Ich glaube nicht, dass alles falsch gemacht wurde. Wir sind in einer Weltlage - und das sehen Sie heute am Beispiel auch von Iran, Sie sehen es am Klimaabkommen -, dass eigentlich im Jahre 2016, glaube ich, zwei sehr schlimme Sachen geschehen sind. Das erste ist der 23. Juni 2016 mit dem Brexit. Daran können Sie sich erinnern, wo Boris Johnson - der wurde dann Außenminister - in München auf der Sicherheitskonferenz gesagt hat, Großbritannien muss sich befreien von den Zwängen Europas. Das ist sehr stark und heute sehen wir ja, dass die Briten flehen, damit sie noch Zeit bekommen, um einen "No Deal" zu verhindern.
Luxemburgischer Außenminister Jean Asselborn.
Sozialdemokrat und leidenschaftlicher Europäer: Luxemburgs Außenminister Jean Asselborn (imago/Müller-Stauffenberg)
Das zweite ist natürlich die Wahl von Präsident Trump. Hier mit der Wahl von Präsident Trump kann man vieles kritisieren, aber man muss eines, glaube ich, ganz klar herausschälen: Präsident Trump hat die Weltordnung, wie sie nach dem Zweiten Weltkrieg aufgebaut wurde, nämlich das Multilaterale, die internationale Zusammenarbeit, der Respekt vor den UNO-Resolutionen, sehr, sehr stark in Mitleidenschaft gezogen, sogar kaputt geschlagen. Und das hat natürlich auch auf Europa abgefärbt.
Heuer: Aber, Herr Asselborn, das klingt ja, als sei die Krise der EU von außen über die Gemeinschaft hereingebrochen. Die Frage ist doch: Haben die Europäer, die, die wirklich hinter dem Projekt stehen, haben die denn auch gravierende Fehler gemacht?
Asselborn: Wenn ich zum Beispiel heute Tusk wäre, ich würde mich nicht konzentrieren auf große strategische Erklärungen. Selbstverständlich sind die vielleicht wichtig. Aber es gibt zum Beispiel zwei sehr einleuchtende Punkte. Einer davon ist: Die Bürger wollen wissen von uns, von denen, die Verantwortung haben in Brüssel und in den Mitgliedsstaaten, wie hoch ist der Pegel der Demokratie heute und auch in der Zukunft angesiedelt? Haben wir eine wirklich lupenreine Demokratie in Europa, mit freier Presse, unabhängiger Justiz, Gewaltentrennung, Schutz der Minderheiten und so weiter? Wenn wir diese Frage mit Ja beantworten, dann sagen wir nicht die Wahrheit. Wenn wir sie mit Nein beantworten, müssen wir, glaube ich, sehr schnell den Kescher ansetzen, dass die Demokratie nicht zersetzt wird.
Ich gebe Ihnen nur ein Beispiel, Madame Heuer. In Ungarn bekamen in letzter Zeit Menschen, die in der Flüchtlingsprozedur sind, fünf Tage lang kein Essen, nichts zu Essen. Michelle Bachelet, das ist die Hohe Repräsentantin für die UNO-Menschenrechte, hat das ganz klar angestimmt. Wenn die elementarsten Regeln in einem europäischen Land mit Füßen getreten werden, dann müssen wir nach innen schauen und selbstverständlich sehr, sehr schnell dagegenhalten. Da gibt es Möglichkeiten. Da muss man nur ganz klar sich als Europäer bekennen, die die Werte Europas respektieren.
Länder sanktionieren, die keine Flüchtlinge aufnehmen
Heuer: An dieser Stelle sagt zum Beispiel der österreichische Bundeskanzler Sebastian Kurz, das machen wir jetzt mal ganz konkret. Und er möchte beim Gipfel in Sibiu unter anderem vorschlagen, Sanktionen, weniger EU-Gelder zum Beispiel dann, wenn Staaten gegen den europäischen Geist verstoßen. Das würde, wie Sie es gerade angesprochen haben, Ungarn wahrscheinlich treffen. Dann müssten Sie dafür sein und sagen: Ja, gute Idee, machen wir.
Asselborn: Ja. Aber ich glaube, diese Erklärungen von Herrn Kurz sind etwas kurz gegriffen. Man kann nicht hingehen und sich da hinstellen, wenn man, sagen wir mal, richtig in die Politik hineinschaut und sagt: Straßburg muss abgerissen werden, das hat nichts da verloren, wir müssen konzentrieren.
Heuer: Den zweiten Parlamentssitz meinte er, Herr Asselborn.
Asselborn: Ja. - Man muss aber wissen, wie Europa entstanden ist und warum. Europa entstand, damit die Franzosen und die Deutschen sich nicht mehr bekriegen, oder die Deutschen und die Franzosen. Und dass Frankreich auch etwas mit der Europäischen Union zu tun hat, mit den Institutionen zu tun hat, muss man doch respektieren. Das ist das erste.
Das zweite bei Herrn Kurz, wo ich natürlich nicht dagegen bin, wenn die Rechtsstaatlichkeit sanktioniert werden soll. Aber er hat verschiedene Regeln genannt. Er hat eine Regel genannt, dass Länder sanktioniert werden sollen, wenn sie Flüchtlinge nicht registrieren. Ich hätte lieber, man würde darüber nachdenken, dass Länder sanktioniert werden, die sich wirklich drücken, um Flüchtlinge in der Verteilung in Europa aufzunehmen. Wir haben jetzt das letzte Schiff in Malta mit 49 Menschen. Da sind genau vier Länder, Frankreich, Deutschland, Portugal und Luxemburg, die sich um diese Menschen gekümmert haben, um ihnen einen neuen Anfang zu leisten. Da war kein Österreich dabei. Und Österreich hat sich zum Beispiel auch dem Migrationspakt, der von der UNO ausgearbeitet wurde, entgegengestellt. Das sind Sachen in Europa, die die Menschen nicht verstehen!
Wegkommen vom Einstimmigkeitsprinzip
Heuer: Herr Asselborn, bevor wir jetzt die ganze Vergangenheit noch mal besprechen. Im Grunde sagen Sie, über die Sanktionen kann man reden. Sie würden das vielleicht anders ausgestalten als Sebastian Kurz. Wie steht es denn mit dem Einstimmigkeitsprinzip? Auch ein Vorschlag des österreichischen Bundeskanzlers, der sagt: Wenn wir alles nur immer einstimmig beschließen, dann werden Polen und Ungarn sich zum Beispiel immer gegenseitig stützen. Auch da müssten Sie als überzeugter Europäer eigentlich sagen: Stimmt, da müssen wir ran!
Asselborn: Ja! Ich sage ja nicht, dass alles jetzt falsch ist, was er sagt. Ich sage nur, der Geist, in dem es gesagt wird, und auch vom österreichischen Bundeskanzler, der, glaube ich, in der letzten Präsidentschaft, die Österreich hatte, nicht alles so gemacht hat, wie eine Präsidentschaft das machen soll, um die Europäische Union nach außen, vor allem, was die internationale Politik angeht, und auch in der Flüchtlingspolitik, richtig vertreten hat. Aber gut, er hat seine Meinung, er hat verschiedenes richtig gesagt und er hat manches falsch gesagt.
Ich bin absolut dafür, dass wir auch es hinkriegen in der Außenpolitik, dass wir wegkommen vom Einstimmigkeitsprinzip. Da bin ich absolut. Natürlich, man braucht Einstimmigkeit, um die Einstimmigkeit zu brechen. Das scheint mir klar zu sein. Wenn wir es fertigbringen, mehr Solidarität wieder, mehr Gemeinschaftlichkeit auch in die außenpolitischen Themen hereinzubringen, dann stehen wir besser da.
Wir sind jetzt konfrontiert, Madame Heuer, mit allem, was zwischen Iran und den USA geschieht. Ich sage Ihnen, das wird, so wie ich die Europäische Union kenne, extrem schwierig werden. Sie haben einerseits Iran, andererseits haben sie die USA. Sie haben dann Russland und China, die natürlich auf der Seite der Iraner stehen. Wir als Europäer stehen dazwischen. Wir brauchen zu allererst eine europäische Position, um nicht dann mit Russland und mit China gegen Amerika zu stehen. Aber unsere Position im Iran-Deal war, dass wir verhindern wollten nach 13 Jahren Verhandlungen, dass der Iran eine Atombombe baut, und ich verstehe nicht, …
"Der Sinn der Union war ja, zusammenzustehen"
Heuer: Entschuldigung, Herr Asselborn! Genau da befindet sich die EU, wo Sie sagen: zwischen allen Stühlen. Was braucht diese Gemeinschaft, um sich zusammenzuraufen, um sich klarer zu machen und sich damit auch mächtiger zu machen, einflussreicher?
Asselborn: Das ist genau der Punkt, glaube ich, den man verstehen muss. Entweder wir verstehen, dass wir, sagen wir mal, zwei Energien in unserem Getriebe haben. Das ist Solidarität und Gemeinschaft, Gemeinschaftlichkeit. Das Gegenteil, wenn wir auseinanderdriften, wenn wir ausscheren, egal welches Land in wichtigen Punkten, dann, glaube ich, nehmen wir den Menschen, die über die Europäische Union zu urteilen haben und sie sehen, den Sinn weg. Der Sinn der Union war ja, zusammenzustehen und versuchen, die großen Probleme dieser Zeit, sei es Terrorbekämpfung, sei es Migration, sei es Handel, internationaler Handel, seien es natürlich die Klimafragen, die großen Klimafragen, dass wir zusammenstehen und die gemeinsam lösen.
Natürlich brauchen wir Diskussion. Es ist ja nicht so, dass jeder die Meinung des anderen teilen muss. Aber dann am Ende des Tages muss eine gemeinschaftliche, eine gemeinsame Position herausgeschält werden, und das ist ein Problem heute. Wir haben Situationen in der Europäischen Union, wo von vornherein man weiß, dass man hiermit nicht durchkommt, dass sogar Länder sich gratulieren, wenn die Einstimmigkeit gebrochen wird. Das ist Realität in der Europäischen Union. Ich hoffe, dass heute in Sibiu, aber auch nach der europäischen Wahl, wenn die Kräfte, die Europa weitertragen wollen am 26. Mai, wenn die gestärkt werden. Das wäre ein guter Ansatz, glaube ich, um Europa wieder neu aufzustellen.
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