Im Sommer gab es einen innerkatholischen Streit um die Kommunion. Wer darf, wer darf nicht? Dieser Streit wirkt sich aus auf das, was als Ökumene bezeichnet wird: der Versuch einer Annäherung getrennter Kirchen. Wo die katholische Kirche und die evangelischen Kirchen stehen - darüber sprach Andreas Main damals mit dem evangelischen Theologen Ulrich Körtner und dem katholischen Theologen Thomas Söding. Beide Professoren, der eine in Wien für Systematische Theologie der andere in Bochum fürs Neue Testament. Im zweiten Teil des Gesprächs ging es um die Zukunft der Ökumene, um eine Zeitreise, ein Gedankenspiel. Wo stehen wir in hundert Jahren?
"Dann werden Karten nochmal ganz neu gemischt"
Andreas Main: Herr Professor Körtner, Herr Professor Söding: Lassen Sie uns eine Zeitreise machen. Sie sind beide komplett unvorbereitet auf das, was ich mit Ihnen jetzt vorhabe im zweiten Teil unseres Gesprächs. Wer mag sich als erster äußern? Stellen Sie sich vor, Sie sind mit einer Zeitmaschine im Jahr 2117 gelandet, es ist schon wieder Reformationsjubiläum, das 600. – wie wird das gefeiert?
Ulrich Körtner: Ich bin mir nicht sicher, ob es dann überhaupt noch ein Reformationsjubiläum in der Form, wie wir es zuletzt erlebt haben, geben wird. Die demografische Entwicklung in Mitteleuropa wird negativ weitergegangen sein. Ich will den Glauben nicht aufgeben, dass es vielleicht nochmal so was wie Neu-Evangelisation oder -Erweckung geben könnte, aber wenn die Trends so weitergehen, dann wird das Christentum insgesamt in einer Minderheitenposition sein. Und dann werden Karten nochmal ganz neu gemischt.
"Weltweit wird Christentum in 100 Jahren eine starke Kraft sein"
Main: Herr Söding, in hundert Jahren sind evangelische und katholische Kirche immer noch getrennt?
Thomas Söding: Ich hoffe, nicht. Die Chance, die wir jetzt haben, müssen wir nutzen. Deutschland und Europa, wüsste ich auch nicht, wie in hundert Jahren dort das Christentum aussieht – weltweit wird es eine starke Kraft sein. Und da wird es um ganz andere Fragen gehen: Tatsächlich, wie weit sich dieses Charismatisch-Pentekostale zu dem Verfassten verhält. Auf Dauer bin ich ganz zuversichtlich, weil es auch einer klaren kirchlichen Ordnung bedarf, damit sozusagen der Geist lebendig werden kann.
Die entscheidende Frage wird aber sein, ob das, was die Reformation angestoßen hat, die Gottesfrage als Glaubensfrage zu stellen, ob das wahrgenommen wird und ob das weitergegeben werden kann.
"Da wird kein Stein auf dem anderen bleiben"
Main: Lassen Sie uns das Gedankenspiel – mehr ist es nicht – weiterspielen und aus der Zukunft zurückblicken: Was waren die Gründe dafür, dass zwischen dem Reformationsjubiläum zu Beginn des 21. Jahrhunderts und dem im 22. Jahrhundert – nein, andersherum – sich nichts verändert hat?
Söding: Ja, ich bin ja der Meinung, dass sich alles verändert haben wird. Und zwar deswegen, weil man erstens einen starken Druck von außen wahrnimmt, sodass man sich auf die eigenen Kräfte besinnen muss und dann einfach richtig ist, was Papst Johannes XXIII. mal gesagt hat: "Was uns verbindet ist viel mehr als das, was uns trennt." Und weil man halt am Ende doch auf so etwas wie eine theologische Reflexion gesetzt hat, die einem gezeigt hat: Die jeweiligen Stärken sind größer als die jeweiligen Schwächen.
Körtner: Ich gehe davon aus, dass wir weiterhin auch konfessionell geprägte verschiedene Kirchen haben werden. Man sieht das auch dort, wo zum Beispiel verschiedene christliche Traditionen schon jetzt in einer Diaspora sind. Das führt nicht unbedingt dazu, dass Eigenständigkeiten aufgegeben werden. Aber wenn wir davon ausgehen, dass das Christentum als Religion, demografisch betrachtet, weltweit weiter wachsen wird - die Zentren des Christentums werden wohl nicht mehr in Europa sein, sondern sie sind schon jetzt, wie sich das abzeichnet, eher in Südamerika zu sehen …
Main: ...Asien...
Körtner: ...oder in Asien. Und auch in Afrika: Wir haben einen wachsenden Islam, also von der Bevölkerung her, aber auch ein wachsendes Christentum. Und wie weit wir als Europäer, als Alt-Europäer, das dann überhaupt so richtig realisieren, das wird die große Herausforderung sein. Wir haben zwar schon jetzt seit Jahrzehnten immer von "kontextueller Theologie" gesprochen und wir haben uns in Europa auch so herzlich dafür erwärmen können, wenn Leute wie Leonardo Boff gesagt haben, die theologische Zukunft spiele an der Peripherie und nicht in den alten Zentren. Wir konnten aber immer noch davon ausgehen: Das sind alles Theologen gewesen, die sind in Europa ausgebildet wurden.
Wie das wirklich mal ist, wenn man sagt: Die Zentren gelebten Christentums sind jetzt woanders - und dann auch noch vielleicht ein Christentum, das weder Thomas Söding noch mir jetzt in allen Dingen unbedingt sympathisch ist, ich sage nur mal, was den Umgang mit Homosexualität betrifft oder was das Thema Frauenordination betrifft. Das ist ja keineswegs nur irgendwie so ein katholisches Thema, oder dass man sagt, die kommen da irgendwie aus ihrer ewiggestrigen Position nicht raus, sondern schauen Sie sich das an in der anglikanischen Kirchengemeinschaft, schauen Sie sich das an auch in lutherischen Kirchen weltweit: Das sind große Konfliktthemen, wo man für europäische, liberale Positionen schon jetzt wenig Verständnis hat. Also da wird tatsächlich kein Stein auf dem anderen möglicherweise bleiben.
"Weg von der Fixierung auf Kleriker"
Main: Herr Söding, gibt es in der katholischen Kirche in hundert Jahren inzwischen Priesterinnen?
Söding: Da bin ich nicht sicher. Aber auf jeden Fall wird sich auch die katholische Kirche von Grund auf ändern. Ulrich Körtner hat ja gerade die kulturellen Gründe, diese starken Nord-Süd-Gefälle und das starke Ost-West-Gefälle angesprochen – in der katholischen Kirche geht es noch um ein bisschen mehr.
Aber wir brauchen auf jeden Fall nicht mehr diese Fixierung auf die Kleriker, die wir sehen. Das ist im Moment die Not, aus der wir in Deutschland und an anderen Stellen eine Tugend machen müssen, aber es ist gleichzeitig auch eine Rückkehr zu einem viel größeren Reichtum an Charisma, an Gaben und an Diensten, den die Kirche immer gekannt hat.
Wahrscheinlich wird überhaupt die Frage des Priestertums seine grundlegende Bedeutung verändern: Es wird viel stärker als ein Dienst-Amt wahrgenommen werden, und dann werden wir sicherlich Öffnungen haben – mindestens in Richtung auf den Zölibat, den ja die Griechisch-Katholischen zum Beispiel auch gar nicht kennen.
"Nicht mein Papst"
Main: Und an den Protestanten Körtner: Akzeptieren die Evangelischen im Jahr 2117 die Lehrautorität des Papstes, der in apostolischer Sukzession, also direkter Petrus-Nachfolger, ex cathedra unfehlbare Dogmen verkünden kann?
Körtner: Das ist für mich schwer vorstellbar. Und sollte es so sein, tröstet mich der Gedanke, dass ich dann nicht mehr unter den Lebenden bin.
Main: Herr Söding, glauben Sie, dass der Protestant sich in die Richtung bewegen wird?
Söding: Na ja, ich hoffe, dass möglichst viele von uns dann sozusagen aus einer himmlischen Beobachterposition mit gewisser Gelassenheit und hoffentlich auch Heiterkeit – und nicht nur Ingrimm – die weitere Entwicklung beobachten können.
Wer sich mit der Geschichte des Papsttums beschäftigt, weiß, dass sich dieses Papsttum immer neu erfunden hat. Da mache ich mir die geringsten Sorgen, dass es da auch die richtigen Formen finden wird, um so etwas zu sein, was der Papst auch gegenwärtig meines Erachtens ist: der Sprecher der Christenheit. Und zwischen Trump und Erdogan und Putin ist er vielleicht ja auch so was wie der Sprecher der aufgeklärten Menschheit.
Main: Herr Körtner, was werden die Menschen im Jahr …
Körtner: Nicht mein Papst, muss ich dann sagen. "Sprecher der Christenheit" - für mich wirklich nicht, das möchte ich in aller Deutlichkeit...
Söding: Sei froh, wenn er vernünftige Positionen vertritt. Andere Sprechergestalten haben wir nicht.
Körtner: Wenn er das dann mal tut, okay.
Main: Herr Körtner, was werden Menschen im Jahr 2117 sagen: warum war Ökumene doch wichtig? Oder werden die den Begriff gar nicht mehr kennen und sagen, dass das was mit Wirtschaft zu tun hat?
Körtner: Nein, das werden sie, denke ich, schon noch kennen. Das ökumenische 20. Jahrhundert wird, da bin ich zuversichtlich, hinaus wirken. Aber, ich glaube, das ist deutlich geworden, dass ein Absolutheitsanspruch der nur je für die eigene Kirche und Tradition erhoben werden kann, letztlich dem biblischen Zeugnis, dem Evangelium widerspricht. Also da bin ich zuversichtlich, dass der ökumenische Gedanke weiter lebendig ist und sich weiter entwickelt.
Main: Zwei Denker, zwei Positionen zu einer Zukunftsfrage der Kirchen und zur Frage, wie sie sich abgrenzen beziehungsweise annähern. Ich danke Thomas Söding, Neutestamentler in Bochum, sowie Ulrich Körtner, systematischer Theologe in Wien, für dieses Gedankenspiel. Danke ihnen beiden!
Söding: Danke sehr.
Körtner: Herzlichen Dank.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.