Michael Köhler: Bei der letzten Bundestagswahl fiel die SPD auf ein historisches Tief. Sie erhielt nur noch 20,5 Prozent der Wählerstimmen. Gegenwärtige Umfragen zeigen noch geringere Zustimmungswerte. Hat die Sozialdemokratie oder die deutsche SPD keine Antworten auf die gesellschaftlichen Herausforderungen unserer Zeit, sind homogene Wählermilieus verschwunden, warum erscheint die SPD vielen Wählern nicht auf der Höhe der Zeit zu sein, obwohl die soziale Frage sich nicht aufgelöst hat? Darüber sprechen wir mit dem Verleger und Publizisten Michael Naumann, der erster deutscher Kulturstaatsminister im Kabinett Schröder war. Zurzeit ist er Rektor der Barenboim Said Akademie in Berlin und hat gerade seine Autobiografie vorgelegt unter dem Titel "Glück gehabt."
Michael Naumann, sind Sie noch gerne in der SPD?
Michael Naumann: Ja!
Köhler: Sie haben vor drei Monaten geschrieben: "Die Parteienlandschaft fragmentiert sich, doch die Mitte hält." Die Sozialdemokraten gehören zu dieser Mitte. Würden Sie das noch mal so schreiben?
Naumann: Ja. Das wird sich auch in der Mitgliederbefragung herausstellen. Ich schätze, dass sie etwa 35 zu 65 für die GroKo ausfallen wird. Das werden wir ja dann sehen. Aber Tatsache ist jedenfalls, dass die SPD mit ihren Forderungen weiterhin bürgerlich geblieben ist. Sie ist aber auch ängstlich geblieben, wie übrigens auch die CDU. Sie finden ja in diesem Koalitionsvertrag auch bei zweiter Durchlektüre keine klärenden Worte über die Frage der Integration der Flüchtlinge in unserem Land.
"Unklare Situation des Umgangs mit den Flüchtlingen und Asylsuchenden"
Köhler: Von nötiger Erneuerung und davon, nicht auf der Höhe der Zeit zu sein, sprechen wortgleich im Moment so unterschiedliche wie verdiente SPD-Temperamente wie Franz Müntefering und Peer Steinbrück. Haben sie recht?
Naumann: Ja, natürlich haben sie recht. Das Buch von Peer Steinbrück kann ich nur empfehlen, weil es sehr offen, aber doch durchaus "con amore", das heißt mit einem Verständnis und einer tiefen sozialdemokratischen Grundeinstellung für eine soziale Gerechtigkeit im Lande, aber gleichwohl mit einem sehr genauen Gespür - schließlich war er Spitzenpolitiker und Kandidat - für das, was die Bürger im Lande - Bürgerinnen und Bürger, wie es ja heute korrekterweise heißt - umtreibt.
Das ist die in der Tat jetzt auch in der Essener Tafel-Problematik offenkundig gewordene unklare Situation des Umgangs mit den Flüchtlingen und Asylsuchenden im Lande. Davon empfinde ich kein Gespür, weder in der CDU, noch in der SPD. Das wird alles auf die sozialdemokratischen, in den Großstädten jedenfalls sozialdemokratischen Kommunalpolitiker abgeladen - nach dem Motto: Schaut doch, wie ihr damit zurecht kommt. Und dazu fehlen in der Tat die Mittel.
Also das fehlt mir in der Großen Koalition der nächsten Jahre, und vielleicht hält sie ja länger als zwei Jahre, und dann wird sich herausstellen, ob ihnen dann doch noch etwas dazu einfällt, wie man mit den in der Tat sich entwickelnden Parallelgesellschaften umgeht.
"Jetzt geht das Land vor die Interessen der Parteien"
Köhler: Vor drei Monaten haben Sie in der FAZ geschrieben, gleich im ersten Satz, die SPD sollte zurück in die Große Koalition gehen. Erneuerung durch Regierung - kann das gut gehen?
Naumann: Mir geht es in erster Linie jetzt nicht so sehr um dieses Modewort - Entschuldigung - der Erneuerung. Mir geht es da um zweierlei: dieses Land anständig zu regieren und das heißt haushaltspolitisch anständig, sorgfältig, ohne Übermut finanziell. Zweitens das Land, die Nation in einer prekären europapolitischen und im Übrigen auch weltpolitischen Lage durch die Fährnisse zu führen. Der Populismus in unseren Nachbarländern steigt an - denken Sie an Italien und an Polen und die Slowakei - und gleichzeitig droht uns ein veritabler Handelskrieg mit einem zweifellos, soll ich sagen, verrückt gewordenen Präsidenten, der sein eigenes Land in einen Handelskrieg führt, den es nur verlieren kann. Das sind alles Situationen, da muss ich sagen, jetzt geht das Land vor die Interessen, auch die Erneuerungs- und Renovierungsinteressen der Parteien, aller Parteien, auch der CSU. Aus diesem Grund bin ich für eine Große Koalition, statt uns auf das Experiment von Neuwahlen oder einer Minderheitenregierung einzulassen.
"Der SPD fehlt eine ganze Altersgruppe"
Köhler: Was hat die SPD falsch gemacht? Sie haben mal gesagt, ihr hätte es in Teilen auch des Führungspersonals an Realitätssinn gefehlt?
Naumann: Ja. Das ist ein interessantes Phänomen, was sich da abgespielt hat, nämlich es fehlt meines Erachtens eine ganze Altersgruppe, die Altersgruppe der Kühnerts, der Jusos, bis zu den 40-Jährigen in den Führungsetagen der Partei. Was ist da geschehen? Sind die alle zu den Grünen gegangen? Nein, sondern ich glaube vielmehr: Nicht die Facharbeiter, die Wechselwähler geworden sind, fehlen der Partei in der Organisationsstruktur, das heißt im Personal der Partei, sondern es fehlt eine ganze Gruppe von jungen und nicht mehr so jungen Menschen, die statt in die Partei zu gehen, in die Kommunalpolitik vor allem zu gehen, lieber Karriere gemacht haben und haben gesagt, was kümmert mich das Land, es läuft ja alles in Ordnung, ich gehe in die Wirtschaft oder in die Akademien oder in die Universitäten oder in die Schulen.
Vielen Menschen in Deutschland, jungen Menschen, Männern wie Frauen, scheint es in dieser Zeit, vor etwa 10, 15 Jahren, ganz überflüssig gewesen zu sein, sich politisch zu engagieren. Das sehen Sie dann in den Wahlkämpfen an den Infoständen. Da stehen Rentner oder ganz junge, die 18- bis 20-jährigen Jusos. Aber diese Schicht dazwischen, die ist auch in der Partei kaum vertreten. Ich glaube, unter 30-Jährige, da sind nur noch 18 Prozent der Parteimitglieder zu verzeichnen. Das ist viel zu wenig. Also da ist was schiefgelaufen. Warum - das überlasse ich Sloterdijk und anderen Modernitätskritikern. Ich glaube, ein bisschen was hat das damit zu tun, aber wie genau, das kann ich auch nicht erklären. Und wenn ich es zu erklären wüsste, dann würde ich im Willy-Brandt-Haus sitzen und Lösungen vorschlagen.
"Problem im Dienstleistungssektor erkannt - aber mit 10-jähriger Verspätung"
Köhler: Michael Naumann, Sie sprechen zwei interessante Punkte an. Die Frage nach den Intellektuellen würde ich gerne zum Schluss stellen. Aber Sie haben auf was Interessantes hingewiesen, nämlich: Man muss kein Soziologe sein, um festzustellen, dass wir in einer Entindustrialisierungsphase leben oder Postindustrialisierung, wie man das auch immer nennen will, der Rückgang des Industriesektors von 50 Prozent vielleicht auf ein Viertel. Gleichzeitig haben wir neue Dienstleistungsberufe. Wir haben im Moment 2,8 Millionen Studenten, wir haben Hochqualifizierte, wir haben aber auch Niedrigqualifizierte. Das wäre doch eigentlich der Moment für die Sozialdemokratie zu sagen, es gibt eine liberale Öffnung, eine Marktöffnung, eine globalisierte Welt, gleichzeitig brauchen wir aber eine normative Regulierung - eigentlich doch ein gefundenes Fressen für Sozialdemokratie, oder?
Naumann: Ja, eigentlich schon. Das ist ein interessanter Aspekt, den Sie da erwähnen. Wenn Sie von den Dienstleistungssektoren unserer Gesellschaft reden, dann sollten Sie und ich auch und überhaupt die SPD auch unter anderem auf die Gehaltsstrukturen in diesem Sektor hinweisen.
Köhler: Prekäre Verhältnisse, ja.
Naumann: Und das ist natürlich eine Sache, die sich die SPD mit Recht, finde ich, auf das Panier geschrieben hat, sich darum zu sorgen mittels Mindestlöhnen und in den neuen Programmen auch Anpassungen der Mindestlöhne auf europäischer, europaweiter Ebene. Das ist aber gewissermaßen zu spät gekommen, sondern diese Entwicklung der Hungerlöhne, zumal im Gaststättengewerbe - und da arbeiten Millione, das ist eine zum Teil skandalöse Geschichte - also in anderen Worten: Nicht nur in den Banken gibt es Management-Probleme, die mit Anstand und Moral zu tun haben, sondern auch im Dienstleistungsgewerbe.
Das neue Regierungsprogramm nimmt das ja aufs Korn, zum Teil jedenfalls. Gleichzeitig soll es ja eine Entlastung geben für die mittleren und unteren Einkommensgruppen bezüglich des Solidaritätszuschlags. Also in wenigen Worten: Das Problem ist erkannt, aber mit etwa zehnjähriger Verspätung.
"Abstoßungsmechanismen der Partei gegenüber Quereinsteigern"
Köhler: Vor gut 20 Jahren wurden Sie der erste Kulturstaatsminister und sind das, was man, glaube ich, ohne rot zu werden, einen Intellektuellen in der SPD nennen darf. Fehlt es an solchen Figuren? Fehlt es an den Peter Glotzens, Erhard Epplers, Oskar Negts und Michael Naumanns?
Naumann: Das kann man vielleicht so behaupten.
Köhler: Ich meine, Sie sind ja noch da - gottlob!
Naumann: Ja, ja, ich bin ja noch da. Aber die Namen, die Sie erwähnen, sind ja auch seinerzeit Außenseiter gewesen und geblieben. Das ist auch keine Schande. Die Partei - das darf man nicht vergessen - ist von Intellektuellen gegründet worden, aber auch in die jeweiligen Krisen geführt worden. Inzwischen hat sich das gewissermaßen stabilisiert. Man braucht die Großdenker nicht mehr, das ist ja eigentlich ein enormer Fortschritt. Aber was ich faszinierend finde ist, dass zu der von mir eben erwähnten Altersgruppe der Politik- und SPD-Abstinenzler natürlich auch die Schriftsteller gehören. Es gibt ganz wenige Schriftsteller in dieser Altersgruppe. Ich denke da an Eva Menasse, Kumpfmüller und andere, die sich noch für diese Partei in die Bresche schlagen. Sondern das hat vielleicht auch etwas mit den Abstoßungsmechanismen der Partei gegenüber Quereinsteigern zu tun. Davon kann ich ein Lied singen.
Köhler: Da holt man sich nur eine blutige Nase.
Naumann: Man holt sich nicht nur eine blutige Nase, sondern das läuft dann schon nach dem Prinzip: "Der Mohr hat seine Schuldigkeit getan, er kann gehen." Denken Sie an das Schicksal der Wahlverlierer. Einzig Frank-Walter Steinmeier war in der Lage, weil er die Lagen kennt, sich durchzusetzen und zu bleiben. Nun ist er Bundespräsident. Aber wie man zum Beispiel mit Peer Steinbrück umgegangen ist, das ist ein absoluter Skandal und eigentlich unglaublich.
Probleme der Digitalisierung müssen die Politik stärker interessieren
Köhler: Gibt es so was wie einen unverbrüchlichen Kern der Sozialdemokratie auch für die nächsten 50 Jahre?
Naumann: Ja, den gibt es, und das ist und bleibt das oft schimpfierte und meines Erachtens zu Unrecht in die Ecke gestellte Kernanliegen der sozialen Gerechtigkeit. Aber es ist weiß Gott in einer modernen Gesellschaft nicht das einzige Anliegen, das eine Partei haben muss. Wir haben andere moderne Probleme, von denen sich weder Lassalle, noch Willy Brandt haben etwas träumen lassen: die Digitalisierung der Wirtschaft, die Digitalisierung der Kommunikation, ganz einfach die Globalisierung auch von Unsinn durch die Netzwerke. Dagegen anzukämpfen, kann eigentlich nicht Aufgabe der Parteien sein, aber sie sind damit konfrontiert.
Und ich kann nur empfehlen, mal darauf zu achten, was zum Beispiel YouTube macht. YouTube drängt mir im Augenblick permanent AfD-Redner aus dem Bundestag auf. Das ist zwar aufklärend, weil sich herausstellt, dass sie wirklich ziemlich durchgeknallt sind, aber gleichzeitig frage ich mich: Haben die dafür bezahlt, dass das plötzlich auf meinem YouTube, wenn ich YouTube anmache, auftaucht? Ist das ein Algorithmus, der mich als Liebhaber dieser Partei kennzeichnet? Was läuft da eigentlich? Das sind so Dinge, die die Politik interessieren muss und stärker interessieren muss, auch die Regierung, die Exekutive, als das bisher der Fall ist - denken Sie nur an den Skandal der Abhör-Wochen oder -Monate im Bundestag respektive im Bundeskanzleramt, entweder durch die Amerikaner oder die Russen. Man fragt sich wirklich, was die mit all den Daten machen in Moskau. Destillieren sie die vielleicht zu Wodka? Who knows.
"Ich bekenne mich noch zur Tradition dieser Partei"
Köhler: Sie bleiben ein optimistischer Sozialdemokrat und tragen den Kopf nicht unterm Arm?
Naumann: Nein! Ich trage ihn nicht unter dem Arm. Das ist ja eine Spezialität des englischen Königshauses im Tower. Aber nein, soweit geht es bei mir nicht, sondern ich bekenne mich durchaus schon noch zu der Tradition dieser Partei. Es ist eine ehrenhafte Tradition und das war auch der Grund, warum ich ihr seinerzeit beigetreten bin, nachdem ich meinen Beruf als Journalist abgeschlossen hatte. Und dann bin ich drin geblieben, als ich es wieder wurde.
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