Jasper Barenberg: Ihre Kritiker in der Fraktion herausfordern und stellen wollte Andrea Nahles eigentlich. Nach dem Rücktritt als Parteichefin aber wurde der Tag gestern zum Tag des zweiten Abschieds, dieses Mal vom Amt der Vorsitzenden der SPD-Fraktion. Die wird nach dem Beben bis auf weiteres kommissarisch von Vize Rolf Mützenich geführt und der wirbt zunächst einmal für Kontinuität, macht aber auch deutlich, dass es Herbst werden könnte, bis die rund 150 Abgeordneten eine neue reguläre Führung haben werden.
Was bedeutet das für die Zusammenarbeit mit der Union in der Regierung? Deren Fraktionschef Ralph Brinkhaus gab gestern die Parole aus, wir arbeiten ganz normal weiter. Aber geht das überhaupt? - Am Telefon ist Wiebke Esdar, Bundestagsabgeordnete der SPD aus Bielefeld. Sie ist auch Mitglied im Vorstand ihrer Partei. Schönen guten Morgen, Frau Esdar.
Wiebke Esdar: Guten Morgen.
Barenberg: Sie haben den Rückzug von Andrea Nahles aus allen Ämtern als eine echte Zäsur beschrieben. Was meinen Sie damit?
Esdar: Nun ja, Andrea Nahles hat seit Mitte der 90er-Jahre auf Bundesebene die Politik zunächst aufgemischt als Juso-Vorsitzende und jetzt geleitet. Und wir haben gemerkt, im Laufe dieser Woche, übers Wochenende hat sie das auch selber entschieden, dass es so nicht mehr geht. Aber da müssen wir uns natürlich jetzt umschauen, wer das zukünftig machen kann, und wir wissen, dass die SPD nicht in einer besonders guten Lage derzeit ist. Das heißt, wir stellen uns auch ganz doll die Frage, was wir alle zusammen anders machen wollen, damit es wieder besser geht.
Barenberg: Andrea Nahles ist ja im September 2017 mit 90 Prozent der Stimmen in der Fraktion zur Fraktionsvorsitzenden gewählt worden. Zuletzt hat sie den notwendigen Rückhalt vermisst. Sie haben das angedeutet. Wo ist dieser Rückhalt geblieben? Wo ist der abhandengekommen?
"Nahles hat Größe gezeigt"
Esdar: Das ist gar nicht so einfach zu sagen. Wenn ich jetzt rückblickend auf die letzten anderthalb Jahre schaue, dann sehe ich als erstes mal eine Fraktionsvorsitzende, die einen riesigen Kraftakt vollbracht hat, weil wir ja in einer Koalition stecken, die auch nicht besonders einfach war. Wenn ich an die Grenzschließungsfantasien von Seehofer letzten Sommer denke, oder auch an den Fall Maaßen. Dann ist sie auch sehr viel damit beschäftigt gewesen, sage ich mal, mit dem Koalitionspartner überhaupt wieder anzuschieben, dass man normal regieren kann.
Und dann haben wir Wahlergebnisse gehabt für die SPD, zuletzt bei der Europawahl, die bei weitem nicht dem entsprechen, was wir an uns an Erwartungen stellen. Das zusammengenommen dann auch noch mit Fragen, wie es weitergehen soll in Zukunft, hat dazu geführt, dass sich ein bisschen Unmut, oder nicht nur ein bisschen, sondern Unmut breit gemacht hat. Das hat sich letzte Woche entladen und jetzt hat sie Größe gezeigt und den Weg frei gemacht dafür, dass es mit einem neuen Anfang für die SPD wieder besser weitergehen kann.
Barenberg: Andrea Nahles hatte ja quasi das Ziel ausgegeben, den Beweis zu führen, dass man eine Partei in der Regierung trotzdem erneuern kann. Sagen Sie im Rückblick, das war eine Fehleinschätzung?
Esdar: Zumindest ist uns das nicht gelungen. Ich bin zwar damals auch schon gegen die GroKo gewesen. Regierungsverantwortung zu übernehmen nach so einem Verfahren, nach einem Mitgliederentscheid, bedeutet aber, dass wir jetzt nicht irgendwie uns auf die Stelle stellen sollen und zurückgucken sollen: Wer hat recht behalten und was ist alles eingetreten, was man vorher irgendwie versprochen hat, und was ist nicht eingetreten? Sondern wir müssen jetzt nach vorne schauen, aber zusehen, dass die Frage der inhaltlichen Erneuerung – auf die hat Rolf Mützenich ja auch schon abgezielt – über den Sommer noch mal einen Schub bekommt und dass wir da noch besser werden. Das hat aber meiner Meinung nach Andrea Nahles auch schon gut eingeleitet, zum Beispiel mit der Erneuerung zum Sozialstaat. Es ist nur noch nicht soweit gekommen, wie es am besten jetzt schon wäre.
"Was die Erneuerung der SPD angeht, ist einiges versäumt worden"
Barenberg: Das heißt, die Konzepte, die Andrea Nahles auf den Weg gebracht hat - Sozialpolitik haben Sie angesprochen -, das war schon thematisch richtig; es hat bloß nicht genug davon den Weg in die Regierungspolitik gefunden?
Esdar: Ja, wobei wir unterscheiden müssen. Was die inhaltliche programmatische Erneuerung der SPD angeht, da ist einfach in ganz vielen letzten Jahren einiges versäumt worden, und das ist aufzuarbeiten. Und ich bleibe weiterhin skeptisch, dass inhaltlich davon leider mit dem Koalitionspartner, den wir momentan haben, nicht so viel umzusetzen sein wird, weil die CDU und die CSU einige Dinge sehr grundsätzlich anders sehen. Dann ist die große Herausforderung jetzt hinzubekommen, deutlich zu machen, was wir gerne als SPD machen würden. Aber wir haben auch, nachdem die Jamaika-Verhandlungen geplatzt sind und sich andere aus der Verantwortung gestohlen haben, gesagt: Wir übernehmen trotzdem Regierungsverantwortung für unser Land. Und an dem Punkt stehen wir und das ist eine riesen Herausforderung, aber der stellen wir uns auch weiterhin.
Barenberg: Sie haben es ja gesagt: Sie waren damals nach der Sondierungsrunde schon gegen die Koalition. Sie haben gesagt, die Gemeinsamkeiten mit der Union sind aufgebraucht und die Zusammenarbeit mit der Union klappe auch einfach nicht. Noch mal zurück zu diesem Punkt: Heißt das nicht, dass zum Überleben der SPD, wie Sie sich das vorstellen, die Partei jetzt die Koalition verlassen muss?
SPD muss deutlich machen, was sie möchte
Esdar: Nein. Die SPD muss jetzt zusehen, welche inhaltlichen Punkte sie nach vorne stellt, um so deutlich zu machen, dass deutlich wird, was die SPD möchte. Ich sehe uns nicht im Existenzkampf und auch nicht im Überlebenskampf. Ich sehe uns in einer sehr tiefgreifenden Krise, die wir auch bewältigen müssen. Aber es wäre ein Trugschluss zu meinen, wenn man jetzt Hals über Kopf die Koalition verlässt, dann wird alles gut. Wir müssen erst mal zuhause unsere Hausaufgaben machen. Und die können wir auch machen, während wir wie zum Beispiel in dieser Sitzungswoche, in der wir jetzt gerade stecken, auch auf Kompromissen basierende Gesetze verabschieden. Die auch nicht ganz so viel, wie wir es gerne hätten, aber immerhin noch ein Stückchen das Leben der Menschen in Deutschland dann auch besser machen und auch Deutschland voranbringen.
Barenberg: Sie reden über die Gesetze zur Migration und zur Asylpolitik, aber sicherlich auch zur Pflege. Heißt das auch, dass Sie zusätzliche Forderungen über den Koalitionsvertrag hinaus stellen müssen, damit es bei dieser Koalition bleibt?
Esdar: Zumindest müssen wir sehr genau über den Sommer jetzt prüfen, welche inhaltlichen Punkte wirklich die Voraussetzung dafür sind, dass es sich für uns so darstellt, dass es in Ordnung ist, dass wir noch weiterregieren.
Im Herbst entscheidet sich, ob die GroKo fortgesetzt wird
Barenberg: Welche sind da für Sie besonders wichtig?
Esdar: Das bekannteste Thema, was für uns enorm wichtig ist, ist die Frage der Grundrente, die für uns eine Frage ist, dass wir den Menschen, die 35 Jahre gearbeitet haben, Kinder erzogen haben, Eltern gepflegt haben, dass diese Menschen, die so viel geleistet haben, auch dann vom Staat den Respekt bekommen, dass sie dafür eine Rente bekommen. Das soll ins Rentensystem eingegliedert werden und in der Logik darf es keine Bedürftigkeitsprüfung geben. Das ist eins der Themen, aber auch beim Thema Pflege zum Beispiel, was gestern vorgestellt wurde, wollen wir noch mehr Sprünge nach vorne machen, und auch bei der Frage der Steuergerechtigkeit und der Frage der Finanzierung des Staates. Da sage ich als Finanzpolitikerin: Bei den Prognosen, die wir jetzt haben, brauchen wir mehr Spielraum und nicht weniger. Das heißt, die Abschaffung des Solis für die oberen zehn Prozent ist mit uns nicht zu machen, und diese Sachen werden wir im Herbst klären müssen mit der Union und darüber dann auf den Inhalten basierend entscheiden müssen, ob die GroKo weiter fortgesetzt wird oder nicht.
Barenberg: Da kann man sich ja eine Einigung mit den Verhandlungspartnern bei der Union nur schwer vorstellen, denn wenn wir das Beispiel Grundrente nehmen, da hat die Union ja jetzt noch mal in diesen Tagen klipp und klar gesagt, im Koalitionsvertrag steht Grundrente ja, aber mit Bedürftigkeitsprüfung, und alles, was darüber hinausgeht, wird mit der Union nicht möglich sein. Was machen Sie dann?
Esdar: Ja, es gibt einiges, was in der Koalition schwer vorstellbar ist. Das Theater von Seehofer, dass er meint, die innereuropäischen Grenzen zu schließen, das war für mich auch schwer vorstellbar. Darum, glaube ich, bleibt es ein spannender Sommer. Ich habe ein bisschen die Hoffnung, dass auch Sachen, die schwer vorstellbar sind, im positiven Sinne in dieser Koalition noch mal gestaltet werden können. Aber ob das möglich ist? In der Tat: Die Frage ist offen und das werden wir jetzt in den nächsten Monaten und Wochen sehen.
Erneuerung nach sozialdemokratischen Grundwerten
Barenberg: Wir haben am Anfang ein bisschen über die Partei allgemein gesprochen. Sie haben sich für eine inhaltliche Erneuerung ausgesprochen. Schließt das eigentlich ein, dass Sie als Sozialdemokratin mehr und mehr akzeptieren, dass die Zeit als Volkspartei vorüber ist und dass ein Teil der Wähler endgültig zu den Grünen herübergewandert ist?
Esdar: Wenn ich von inhaltlicher Erneuerung spreche, dann richte ich das nicht danach aus zu sagen, welche andere Partei hat welche Programmatik? Und ich richte es auch nicht danach aus, nur darauf zu schielen, Wählerinnen und Wähler zurückzugewinnen. Sondern wir müssen es danach ausrichten, was wir als Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten für wichtig halten und wie wir das in dieser modernen Gesellschaft umsetzen wollen. Der soziale Zusammenhalt der Gesellschaft ist ein ganz wichtiges Thema. Wir haben Grundwerte, die von Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität ausgehen. Und das für das Jahr 2019, 2020 fortfolgende zu definieren, was wir dazu machen wollen, im Bereich der Arbeitswelt, im Bereich der Digitalisierung all der weiteren Lebensbereiche et cetera., das ist der Fokus, den wir darauf setzen. Und das sind dann Vorschläge, die wir machen, wie wir Gesellschaft und das Leben der Menschen gestalten wollen.
Ich bin fest davon überzeugt, dass das dann auch eine gute moderne Antwort ist, hinter die sich viele Menschen versammeln, die dann auch dazu führen, dass wir bessere Wahlergebnisse bekommen. Aber wir sollten nicht an die Erneuerung so herangehen, dass wir schielen, was machen die Grünen oder die Linken oder die Union, oder wie kommen die Wählerinnen und Wähler zurück? Ich halte von einer Erneuerung vor allem dann was, wenn sie aus unseren Grundwerten heraus und aus unseren Überzeugungen heraus Antworten findet.
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