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Zukunft der Zeitungen
Alles für die Region

Die Frage, welche Zukunft Regionalzeitungen haben, hat die Schweizer Zeitung "Südostschweiz" auf ihre Art beantwortet: Sie konzentriert sich fast ausschließlich auf Regionalberichterstattung. Die ersten Reaktionen auf das neue Konzept sind positiv.

Von Thomas Wagner | 06.06.2015
    Blick auf die Altstadt in Chur, Schweiz, Kanton Graubünden.
    In Chur arbeitet die Zeitung "Die Südostschweiz" mit einem neuen Konzept. (Imago / Volker Preußer)
    "Ich denke, eine Zeitung ist doch dazu da, dass sie dem Leser, der Leserin, wenn sie sie morgens aus dem Briefkasten holt, ein bisschen den Kreislauf anregt. Es kann durch Freude sein oder auch durch Ärger."
    "Bis jetzt kann ich noch nicht sagen, welches wirklich die Hammergeschichte ist. Kommentar hab‘ ich jetzt auch noch nicht."
    Ein nagelneues Gebäude in einem Industriegebiet von Chur, Schweizer Kanton Graubünden: Erst vor ein paar Monaten ist hier die Verlagsgruppe "Somedia"eingezogen. Wenn sich David Sieber, Chefredaktor der Tageszeitung "Südostschweiz", mit seinem Kollegen bespricht, sieht er vor der großen Glasfront des Redaktionsraums Planierraupen, die gerade die Einfahrt asphaltieren. Und genauso neu wie das Gebäude ist das Konzept der Zeitung; der Relaunch des Blattes ist gerade mal fünf Monate her.
    "Unser Grundgedanke war natürlich zu fragen: Wie können wir in Zukunft Geld verdienen? Für welche Inhalte kann man überhaupt Geld verlangen? Und da sind wir zum Schluss gekommen: Mit offenen News, mit News von gestern, die überall schon gelaufen sind, das geht nicht, dass wir so eine Zeitung machen."
    Bruch mit dem Verlautbarungsjournalismus
    Hier der radikale Bruch mit dem üblichen Protokoll-, Verlautbarungs- und "Fand-Statt"-Journalismus, da der Schwerpunkt auf selbstrecherchierte Beiträge, möglichst lebensnah, häufig kontrovers und kritisch: Der Niedergang des Nachtlebens in Chur, der Hotelier in einer Bündner Gemeinde, der nicht erweitern darf – all das bekommen die Abonnenten täglich zu lesen; die "Südostschweiz" erscheint in drei Regionalausgaben in einer Auflage von etwa 82.000 Exemplaren. Dabei dürfen die Redaktoren, wie das in der Schweiz heißt, schon mal mehrere Tage für einen einzigen Beitrag recherchieren. Das Blatt hat sich bewusst entschieden, sich so etwas zu leisten.
    "Ich kann insofern Kräfte freimachen, weil dieses Konzept, das wir jetzt verfolgen, auch den positiven Nebeneffekt hat, dass wir gewisse Dinge nicht mehr tun, so Kleinmist und so. Und dieses Arbeitspotential kann man in größere Geschichten investieren."
    Das, was Chefredaktor David Sieber als "Kleinmist" bezeichnet, gilt bei den meisten Lokalzeitungen bislang als "heilige Kuh": tagt der Gemeinderat, ist die Anwesenheit eines Zeitungsjournalisten selbstverständlich. Kommt ein wichtiger Verein zusammen, ebenso – nicht so allerdings bei der "Südostschweiz" in Chur. Seit dem Relaunch besetzt Chefredaktor David Sieber solche angeblichen Pflichttermine nicht mehr.
    "Aufreger" und Servicethemen
    "Da spart man ja schon am Wochenende eine Arbeitskraft ein, wenn man das nicht mehr macht. Oder irgendwelche B- oder C-Pressekonferenzen, Parteianlässe, die jetzt nicht irgendwie große Wellen schlagen, da gehen wir gar nicht mehr hin."
    Stattdessen investiert die "Südostschweiz" überwiegend in selbst recherchierte Beiträge: Neben den sogenannten "Aufregern" legt das Redaktionsteam sehr viel Wert auf Servicethemen. Und: Das Blatt bricht mit einem alten Tabu: In vielen Beiträgen darf die Meinung des Redakteurs zum Thema durchaus durchschimmern. Man liest zudem überdurchschnittlich häufig Kommentare, gerne auch mal sehr frech.
    "Wir sind im Moment mitten in der Newszone, das eigentlich das Herzstück dieser Newszone ist."
    Ruhig und konzentriert sitzen die Mitarbeiter um René Mehrman, stellvertretender Chefredaktor, an ihren hellen Schreibtischen. Hier arbeiten die Kollegen des verlagseigenen Radios und des Regionalfernsehens Seite an Seite mit den Zeitungskollegen am multimedialen Online-Angebot. Im Gratis-Bereich lesen die Nutzer all das, was in der Print-Ausgabe nicht mehr vorkommt: Verlautbarungen, Vereinsmitteilungen. Für die selbst recherchierten Beiträge müssen sie allerdings extra bezahlen - oder gleich die Printausgabe kaufen. Draußen, auf ihren Recherchen, arbeiten die einzelnen Medien voneinander getrennt. Den Reporter, der gleichzeitig, filmt, schreibt, twittert und auch noch O-Töne fürs Radio aufnimmt, so wie sich das manche deutsche Zeitungsverleger vorstellen, gibt es bei der "Südostschweiz" nicht.
    Erste Reaktionen ermutigend
    "Das ist nicht unser Modell. Wir glauben, dass das nicht funktioniert. Wenn ich mir vorstelle, dass ein gestandener Printjournalist … dann müsste er noch den Radiobeitrag machen, dann den Fernsehbeitrag und zum Schluss noch etwas für die Zeitung schreiben. Und da muss er vielleicht noch zusätzliche Recherchen schreiben, um seinen hintergründigen Beitrag zu verfassen."
    Die ersten Reaktionen auf das neue Redaktionsmodell der "Südostschweiz" empfindet Chefredaktor David Sieber als ermutigend: In einer Umfrage fanden etwa zwei Drittel der Leser das neue Konzept ansprechend; ein Drittel hatte allerdings Einwände. Für die regionale Tageszeitung der Zukunft braucht es nach Ansicht von Chefredaktor Sieber zweierlei: Mut zur Veränderung - und Durchhaltevermögen. Das würde er auch in Deutschland so manchem Verleger regionaler Tageszeitungen ins Stammbuch schreiben.
    "Nicht, nicht bei allen, aber oft denke ich: Mann, sind die mutlos. Ich kann wirklich nicht verstehen, dass eine Zeitung unserer Größe oder unserer Bedeutung in der Region die Frontseite mit Merkel füllt fast täglich oder mit Berliner Geschichten, mit dpa-Meldungen. Und der Kommentar ist dann auch noch staatspolitisch und weit weg vom Ort, wo Menschen leben. Ich verstehe schon nicht ganz, warum man den Mut nicht hat, zu sagen: Wir gehen auf die Region!"