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Zukunft des Militärbündnisses
Politologe: Koalitionen der Willigen in der NATO ermöglichen

Militärisch handlungsfähig, politisch schwach. Die NATO müsse politischer werden, sagte der Politikwissenschaftler Johannes Varwick im Dlf. Gerade angesichts der unklaren Rolle der USA und des Abrückens der Türkei vom Bündnis solle die NATO neue Formen der Zusammenarbeit beraten.

Johannes Varwick im Gespräch mit Stefan Heinlein |
NATO-Symbol auf USA-Flagge NATO-Symbol auf USA-Flagge, 09.08.2020, Borkwalde, Brandenburg, Auf einer Fahne der USA liegt ein NATO-Symbol. *** NATO symbol on USA flag NATO symbol on USA flag, 09 08 2020, Borkwalde, Brandenburg, On a flag of the USA is a NATO symbol
Auch nach Trump sei die Rolle der USA in der NATO unklar, sagt der Politikwissenschaftler Johannes Varwick (Imago Images / Steinach)
Die NATO steckt in der Krise. Immer wieder gab es heftigen Streit in den vergangenen Jahren, von Einigkeit im Bündnis kaum eine Spur. Frankreichs Präsident Emmanuel Macron diagnostizierte schon den "Hirntod" der Allianz. Doch nun gibt es möglicherweise eine Therapie für die angeschlagene NATO. Ein Zukunftsplan wurde zu Papier gebracht: 138 Vorschläge, wie sich die NATO ins Jahr 2030 führen lässt. Darüber beraten an diesem Dienstag (02.12.2020) in Brüssel die NATO-Außenminister.
Schleswig-Holsteins CDU-Fraktionsvorsitzende Johann Wadephul spricht am Freitag (17.07.2009) in Kiel im Landtag. 
Johann Wadephul (CDU) - "Investitionen in die NATO" Die NATO sei das erfolgreichste Bündnis der Welt, sagte der CDU-Außenpolitiker Johann Wadephul im Dlf. Aber es brauche Reformen. In der Diskussion um das Einstimmigkeitsprinzip sieht er einen "intelligenten Vorschlag" auf dem Tisch.
Einen "Hirntod" gebe es nicht, sagte der Präsident der Gesellschaft für Sicherheitspolitik, der Politikwissenschaftler Johannes Varwick von der Uni Halle-Wittenberg, im Deutschlandfunk. Dennoch müsse sich die NATO an zwei Fronten verbessern.

Stefan Heinlein: Sie haben das Papier bereits in Gänze studiert. Sind diese Vorschläge die richtige Therapie gegen den schleichenden Hirntod der NATO?
Johannes Varwick: Ich glaube, einen schleichenden Hirntod gibt es nicht. Aber wenn die NATO hirntot gewesen wäre, dann wäre sie jetzt schon weg. Davon gibt es keine Therapie; insofern war die Aussage von Macron, glaube ich, nicht richtig.
Dieses Papier jetzt ist ein, wie ich finde, substanzreicher guter Gedankenanstoß – im Übrigen nicht so neu in der NATO-Geschichte. Die NATO hat sich immer mal wieder Rat von außen geholt, um ajour zu bleiben, und das ist jetzt der Versuch, die Probleme noch mal mit frischem Blick anzugehen, und ich finde, der Bericht ist stark und substanzreich.
Heinlein: Diese Hirntod-Diagnose ist nicht ganz richtig, sagen Sie. Herr Varwick, woran krankt denn die NATO? Was sind die Gründe für dieses schleichende Siechtum, wenn man das so sagen kann, der NATO?
Varwick: Ich weiß gar nicht, ob man von Siechtum sprechen kann. Ich glaube, man muss die NATO in zwei Bereiche einteilen: einmal den militärischen Bereich. Der funktioniert eigentlich nach Einschätzung aller Experten sehr gut. Die NATO ist militärisch handlungsfähig. Dann gibt es den politischen Bereich und da ist die NATO in der Tat schwach in den vergangenen Jahren, weil die Interessen der Mitgliedsstaaten sehr weit auseinandergehen.
Diskussionsveranstaltung über den Umgang mit der Identitäre Bewegung moderiert vom Prof. Dr. Johannes Varwick (Lehrstuhl für Internationale Beziehungen und europäische Politik) Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. im Bild: Prof. Dr. Johannes Varwick Halle / Saale // 18.10.2017 // Innenstadt *** Discussion event above the Relations with the Identitary Movement moderated of Prof Dr John Varwick Chair for International Relations and European politics Martin Luther University Hall Wittenberg in Picture Prof Dr John Varwick Hall Saale 18 10 2017 Inner city
Politikwissenschaftler Johannes Varwick (Imago Images / Viadata)
Ich glaube, die zwei größten Baustellen ist einmal die ungewisse Rolle der Vereinigten Staaten von Amerika. Das war eine schwierige Phase jetzt mit Trump, der die NATO im Prinzip eigentlich verlassen wollte, das dann doch nicht gemacht hat, aber gewiss kein NATO-Freund war, und die Rolle der Vereinigten Staaten von Amerika in der NATO ist unklar. Das hat auch damit zu tun, dass die Amerikaner die klassische Lastenteilung in der NATO, nach der sie fast alles machen und die Europäer nur einen kleinen Teil leisten, nicht mehr länger akzeptieren. Das ist die eine Front.
Die andere politische Front ist, dass eine ganze Reihe an Staaten – und die Türken sind da, glaube ich, der dickste Brocken – im Prinzip sich von der NATO abgewendet haben und auch nicht mehr mit den Prinzipien der NATO übereinstimmen. Daraus resultieren eine ganze Menge an Fliehkräften, die man immer wieder mühsam einfangen muss, und das gelingt nicht immer.
"Jeder kocht (...) sein eigenes Süppchen"
Heinlein: Also kann man sagen, es gibt zu wenig Solidarität innerhalb der NATO, und einzelne Länder, die USA, aber auch die Türkei, die Sie genannt haben, denken vor allem an die eigene Sicherheit und weniger an die Sicherheit der Allianz?
Varwick: Ja. Es gibt zumindest keinen, ich nenne das mal, Koordinierungsreflex nach Brüssel mehr. Die NATO ist nicht mehr die erste Frage in sicherheitspolitischen Themen, wo jeder Staat sofort die herausragenden Probleme innerhalb des NATO-Rahmens diskutiert. Das war lange Zeit so. Das ist heute ganz gewiss nicht mehr so. Jeder kocht da gewissermaßen sein eigenes Süppchen.
Dieses Papier legt deshalb auch zurecht den Schwerpunkt auf Zusammenarbeit und die Stärkung der politischen Dimension der NATO, dass sich die Staaten wirklich wieder angewöhnen, ihre Sicherheitsprobleme im NATO-Rahmen zu diskutieren und dann bereit sind, einander zuzuhören und miteinander zu arbeiten und nicht alles außerhalb der NATO zu machen. Weil wenn das so weitergehen würde, dann hätte die NATO, glaube ich, wirklich keine gute Zukunft. Wir brauchen einen neuen Anlauf bei der Stärkung des politischen Prozesses in der NATO und dazu hat dieses Papier jetzt eine ganze Reihe an guten Vorschlägen gemacht.
Heinlein: Thomas de Maizière, einer der Mitautoren dieser Studie, Herr Professor Varwick, hat ja von einem "ritualisierten Umgang innerhalb der NATO" geredet. Können Sie sich darunter etwas vorstellen? Wie muss man sich das praktisch vor Augen führen?
Varwick: Ich glaube, er meinte damit, dass wir ritualisierter werden müssen, dass wir wirklich mehr Beratungen brauchen, dass – das ist ein Vorschlag – der Generalsekretär gestärkt wird, dass man möglicherweise das Vetorecht, was Kern der NATO ist und auch bleiben wird, ein bisschen politischer sieht, dass man intensiver darüber diskutiert, wann das Veto notwendig ist, und auch Mechanismen findet, wo einfach mehr Beratung stattfindet. Es wird zum Beispiel vorgeschlagen, dass die Außenminister sich öfter treffen, regelmäßiger treffen als bisher, oder auch andere Ressorts wie zum Beispiel die Innenminister Terrorfragen im NATO-Rahmen diskutieren.
Das heißt: Vorgeschlagen wird da eine Politisierung der NATO, weil die NATO war nie nur ein Militärbündnis, sondern sie war immer dann stark, wenn sie militärisch handlungsfähig ist und auch politisch einig ist. Da werden jetzt neue Anläufe gemacht, wie man das hinbekommt, weil politischer Konsens, der fällt ja nicht vom Himmel und der passiert auch nicht dadurch, dass jeder Staat das macht, was er gerade für richtig hält, sondern dass die Bereitschaft besteht, in Sicherheitsfragen sehr eng zusammenzuarbeiten. Das ist ein bisschen aus dem Blick geraten in der NATO in den vergangenen Jahren.
Veto-Recht als "Erfolgsrezept"
Heinlein: Zu diesen neuen Anregungen, zu diesen neuen Anläufen, wie Sie sagen, gehört ja auch, dass darüber nachgedacht werden soll, dass das seit Jahrzehnten geltende Einstimmigkeitsprinzip aufgehoben werden soll. Lehnt das tatsächlich die NATO ab und kann das aufgehoben werden?
Varwick: Ich glaube, das ist ein Missverständnis. Ich habe das Papier unter dem Aspekt auch gründlich gelesen und ich finde das nicht, dass das da drinsteht, sondern es wird argumentiert, dass man die Einigkeit stärken muss. Das heißt aber nicht, dass das Vetorecht abgeschafft wird, weil das ist eigentlich die Ratio, auch das Erfolgsgeheimnis der NATO, dass alle Staaten immer ein Veto haben und zu nichts gezwungen werden können. Wenn man die Staaten zu irgendwas zwingen wollte, dann, glaube ich, würde das nie funktionieren. Aber man kann sehr wohl darüber nachdenken, dass man etwa Koalitionen der Willigen ermöglicht, im NATO-Rahmen zu agieren, wo dann Staaten gewissermaßen nichts dagegen haben und deswegen auch nicht ihr Veto einlegen, aber nicht mitmachen müssen. An solche Dinge ist da gedacht und nicht etwa an die Abschaffung des Vetorechtes. Das würde wirklich nicht funktionieren in der NATO.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.