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Zukunft Europas
"Wir müssen die Demokratie stärken"

Bundestagspräsident Schäuble und der Präsident der französischen Nationalversammlung de Rugy haben sich für eine Erneuerung der europäischen Politik ausgesprochen. Dafür sei unter anderem erforderlich, die Rolle der Parlamente in der deutsch-französischen Zusammenarbeit zu stärken, sagten sie anlässlich des 55. Jubiläums der Unterzeichung des Élysée-Vertrages im Dlf.

Wolfgang Schäuble und Francois de Rugy im Gespräch mit Stephan Detjen |
    Abgeordnete der französischen Nationalversammlung applaudieren Bundestagspräsident Schäuble, der eine Rede hält.
    Es gehe bei der Erneuerung Europas nicht darum, alles zu vereinheitlichen, erklärten Wolfgang Schäuble und Francois de Rugy im Dlf (dpa-bildfunk / Michel Euler)
    Stephan Detjen: Monsieur le Président, in Deutschland nehmen Union und die SPD jetzt Koalitionsverhandlungen auf. Der SPD-Vorsitzende Martin Schulz hat seiner Partei gestern erzählt, dass der französische Staatspräsident Emmanuel Macron ihn vor dem SPD-Parteitag angerufen habe und ermuntert habe, für eine Regierungsbildung, für eine Große Koalition in Deutschland zu werben. Macron braucht Deutschland als Partner für seine europapolitische Agenda. Hängt das Schicksal von Emmanuel Macron und seiner Bewegung "en marche", der ja auch Sie angehören, jetzt von der Regierungsbildung, von einem Zustandekommen der Großen Koalition in Deutschland ab?
    Francois de Rugy: Mit unserem Präsidenten Emmanuel Macron haben wir eine klare Entscheidung getroffen, die bei den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen bestätigt wurde: Wir wollen die politische Architektur Europas neu beleben. Und um die europäische Politik erneuern zu können, brauchen wir einen starken deutschen Partner, eine starke deutsch-französische Partnerschaft.
    Emmanuel Macron hat Vorschläge auf den Tisch gelegt, die eine Richtung weisen und von einer künftigen deutschen Regierung aufgegriffen werden können. Sie können auch bei der Verständigung zwischen Union und SPD eine Rolle spielen. Natürlich muss man dann nach einer Regierungsbildung in Deutschland konkrete Gespräche führen – so wie wir das zwischen den Mehrheiten im Bundestag und der französischen Nationalversammlung getan haben. So muss dann auch eine neue Regierung von Angela Merkel mit der Regierung von Emmanuel Makro an der Erneuerung der Konstruktion Europas arbeiten.
    "Wir brauchen eine regierungsfähige Regierung"
    Detjen: Herr Schäuble, kann denn dieser starke Partner, den Emmanuel Macron und der Präsident des französischen Parlaments sich wünschen, nur in Gestalt einer Großen Koalition in Deutschland auftreten? Wir haben ja gerade gesehen: Der Bundestag hat sich mit einer breiten Mehrheit auf eine sehr europapolitische Agenda, eine Resolution zum Jahrestag des Elysée-Vertrages verständigt. Kann nicht Deutschland ohne Große Koalition der stabile Partner für Frankreich sein?
    Wolfgang Schäuble: Ich habe auch in unserer Begegnung den Präsidenten eben darauf hingewiesen, dass beim SPD-Parteitag, wenn ich das richtig verfolgt habe, es ein starkes Argument für die knappe Mehrheit zugunsten der Aufnahme von Koalitionsverhandlungen gewesen ist, dass man eine handlungsfähige Regierung in Deutschland braucht, um die deutsch-französische Zusammenarbeit und die europäische Einigung weiter voranzubringen.
    Wir haben jetzt mit der Resolution etwas Substanzielles. Aber es ist ganz klar: In unserem parlamentarischen Regierungssystem brauchen wir auch eine handlungsfähige Regierung. Deswegen ist es gut, dass jetzt Koalitionsverhandlungen aufgenommen werden, und wir hoffen, dass wir jetzt bald eine Regierung in Deutschland haben.
    "Das Europäische Parlament gibt dem Willen der Bürger Europas Ausdruck"
    Detjen: Es zeichnen sich ja schon einige Eckpunkte, Zielrichtungen einer möglichen Großen Koalition ab. Beide Seiten, Union und SPD, haben die Europapolitik an die erste Stelle ihres Sondierungspapiers gesetzt – darunter das Ziel definiert, die Europäische Union in ihrer Handlungsfähigkeit zu stärken. Konkret haben sie gesagt, insbesondere solle das Europäische Parlament gestärkt werden.
    Was heißt das für die nationalen Parlamente? – Frage an den Präsidenten der französischen Assemblée Nationale und den Bundestagspräsidenten gleichermaßen. – Sind die nationalen Parlamente in Deutschland und Frankreich bereit, Kompetenzen an das Europäische Parlament abzugeben?
    de Rugy: Ich war immer ein Unterstützer der politischen Konstruktion Europas und ich glaube deshalb, dass das Europäische Parlament in dieser Konstruktion eine wichtige Rolle spielen muss. Denn das Europäische Parlament gibt dem Willen der Bürger Europas Ausdruck. Deshalb ist es nur logisch, dass man das Europäische Parlament stärken muss, wenn man die europäische Politik stärken will. Es gibt Themen, wie etwa die Handelsverträge, in denen es Kompetenzüberschneidungen von Parlamenten gibt, wo nicht klar ist, wer was zu entscheiden hat. Da kommt es dann zu Konflikten.
    Wir haben zum Beispiel erlebt, dass ein regionales Parlament wie das belgische eine Entscheidung des Europäischen Parlaments blockieren kann. So kann das nicht gut funktionieren. Natürlich gibt es innere Angelegenheiten, in denen die nationalen Parlamente ihre Zuständigkeiten schützen. Das ist ja selbstverständlich. Doch es kann auch da einen direkten Austausch zwischen Parlamenten wie dem Bundestag und der Assemblée Nationale geben.
    Das ist auch das Ziel unserer Resolution: Wenn man zum Beispiel bestimmte Steuern wie die Unternehmenssteuer harmonisieren möchte, dann muss das durch Verhandlungen zwischen den Regierungen und ein Zusammenwirken mit den Parlamenten und ihren Ausschüssen geschehen. Deshalb glaube ich, dass wir auf beiden Beinen voranschreiten müssen: dem des Europäischen Parlaments und der europäischen Demokratie sowie dem der nationalen Parlamente und ihrer Kompetenzen.
    Dazu muss natürlich klargestellt werden, dass es Kompetenzen der EU mit dem Europäischen Parlament und der Kommission gibt und Kompetenzen, die bei den Ländern mit ihren Parlamenten und Regierungen verbleiben.
    "Man wird die Budget-Verantwortung der nationalen Parlamente nicht ausschließen können"
    Detjen: Wenn ich die Frage an den Bundestagspräsidenten, an Wolfgang Schäuble weitergebe, würde ich sie gern noch mal fokussieren auf dieses Sondierungspapier von Union und SPD. Da ist konkret vorgeschlagen, den europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) zu einem Europäischen Währungsfonds auszubauen, und da heißt es dann, es solle ein parlamentarisch kontrollierter Währungsfonds sein, der im Unionsrecht verankert sein solle. Welches Parlament, Herr Schäuble, wäre am besten geeignet, diese Kontrolle auszuüben? Das Europaparlament oder die nationalen Parlamente, der Bundestag in Deutschland?
    Schäuble: Solange wir die europäischen Verträge so haben, wie sie sind, sind in Budget-Fragen die nationalen Parlamente die entscheidenden Parlamente. Das ist im europäischen Recht so festgelegt. Und ich glaube auch, dass wir darin übereinstimmen, dass wir auf der Grundlage der geltenden europäischen Verträge die europäische Zusammenarbeit sehr viel effizienter machen müssen. Deswegen müssen wir für das europäische Währungssystem, um eine stärkere parlamentarische Kontrolle zu finden, eine Zusammenarbeit der nationalen Parlamente und des Europäischen Parlaments finden. Aber man wird die Budget-Verantwortung der nationalen Parlamente nicht ausschließen können und ausschließen dürfen.
    Ich würde auch nicht dazu raten. Denn wir haben ja gesehen, wer Europa, europäische Einigung versucht, gegen das Bedürfnis der Menschen auf nationale Identität auszuspielen, der wird Europa im Ergebnis nicht stärken, sondern schwächen.
    "Wir wollen nicht alles vereinheitlichen"
    Detjen: Wir sprechen jetzt über unterschiedliche Papiere, die Wege in eine europäische Zukunft, in Reformen der Europäischen Union aufzeichnen: Einerseits die Papiere, die aus den Verhandlungen zur deutschen Regierungsbildung hervorgehen, andererseits die Resolution, die der Bundestag heute verabschieden wird. Wenn ich in dieses Papier schaue – Sie haben es beide schon angesprochen -, geht es konkret etwa um das, was dort genannt wird, eine Konvergenz von Gesetzgebungsverfahren in Deutschland und Frankreich zur Umsetzung von EU-Richtlinien. Da heißt es dann wörtlich: "Anzustreben ist eine einheitliche Umsetzung."
    Warum braucht man dann noch nationale Parlamente, wenn sie EU-Recht einheitlich umsetzen? Begeben Sie sich da nicht der Spielräume, die gerade in dem vielfältigen Europa für selbstbewusste Parlamente nötig sind?
    de Rugy: Nein, das glaube ich nicht. Es entspricht unserer gemeinsamen Überzeugung, die Herangehensweisen in Deutschland und Frankreich einander anzunähern. Wir wollen nicht alles vereinheitlichen. Deutschland hat seine Eigenarten, die sich von denen Frankreichs unterscheiden. Es gibt aber Verbindungen. Wir haben in Frankreich drei Departements im Elsass und in der Lorraine, in denen das Recht noch deutsch geprägt ist, und die Menschen dort wollen sich diese Besonderheiten erhalten. Sie sehen also, dass es ganz normal ist, Besonderheiten zu erhalten, und zugleich können wir daran arbeiten, unsere Gesetzgebung einander anzugleichen, wo wir das für sinnvoll halten.
    Das kann auf dem Gebiet des Steuerrechts sein, ohne dass man alle Steuern vereinheitlicht.
    Die kommunalen Steuern in Deutschland und Frankreich funktionieren traditionell ganz unterschiedlich. Aber wenn wir die Unternehmensbesteuerung anschauen, können wir sie natürlich vereinheitlichen.
    "Es ist unsere Verantwortung, die Stimme populistischer und nationaler Wähler zurückzugewinnen"
    Detjen: Vor einem Jahr haben wir mit großer Sorge auf die anstehenden Wahlen in Frankreich – zunächst die Präsidentschaftswahl, dann die Parlamentswahlen – geschaut wegen der Stärke der Rechtsextremen, der Bewegung von Marine LePen. Tatsache ist heute ja, dass die Bewegung von Marine Le Pen, der Front National, im französischen Parlament nicht mal Fraktionsstärke hat, während hier im Bundestag die harten europakritischen Nationalkonservativen zur drittstärksten Kraft, möglicherweise zur neuen Oppositionsführerin geworden sind. Herr Präsident des Nationalrats, Herr Bundestagspräsident, welche Ratschläge. Welche Erfahrungen konnten sie zum Umgang mit solchen europakritischen Fundamentaloppositionen austauschen? [*]
    de Rugy: Die Franzosen haben den anderen europäischen Ländern keine Lehren im Umgang mit nationalistischen und populistischen Bewegungen zu erteilen. In Frankreich nimmt der Front National seit mehr als 30 Jahren an Wahlen teil und erhält dabei auf allen Ebenen immer wieder viele Stimmen. 1986 ist der Front National zum ersten Mal in Fraktionsstärke in die Assemblée nationale eingezogen. Damals hatten wir zum ersten Mal in der Fünften Republik ein Verhältniswahlrecht.
    Das ist also ein altes Phänomen in Frankreich und wir können kein Patentrezept für den Umgang damit geben. Nur eines steht außer Frage: Parteien, die entsprechend viele Stimmen auf sich vereinen, sind in der Nationalversammlung vertreten. Nach dem jetzigen Wahlrecht brauchen sie dazu Allianzen. Deshalb hat der Front National im Augenblick nur wenige Abgeordnete.
    Ich selbst bin der Überzeugung, dass es unsere Verantwortung ist, die Stimmen populistischer und nationalistischer Wähler zurückzugewinnen und die Demokratie zu stärken. Auch das ist eine gemeinsame Verantwortung, der man nicht alleine gerecht werden kann. Diese Kräfte richten sich ohne Frage gegen die Demokratie. Deshalb müssen wir die Demokratie stärken. Deshalb haben wir uns in Frankreich für Veränderungen eingesetzt, und zwar auch im politischen System und den Institutionen.
    Ich habe auch Veränderungen in der Assemblée Nationale herbeigeführt, um Vertrauen der Bürger zurückzugewinnen und Probleme zu lösen, die die Wähler beschäftigen. Es entsteht immer noch oft der Eindruck, dass wir Probleme nicht lösen können. Das spielt den Populisten in die Hände. Dass Emmanuel Macron Präsident wurde, hat damit zu tun, dass die Menschen den Eindruck hatten, dass der vorherige Präsident und die traditionellen Parteien es nicht geschafft haben, die ökonomischen und sozialen Probleme zu lösen, das Bildungs- und Gesundheitssystem zu reformieren und auch die Frage nach einem besseren Funktionieren des europäischen Systems zu beantworten. Ich glaube, das sind die Themen, bei denen wir vorankommen müssen, wenn wir die populistischen Kräfte zurückdrängen wollen.
    Schäuble: Was wir hier machen müssen und was wir tun, worüber wir uns einig sind, ist: Erstens akzeptieren, die Menschen sind unterschiedlicher Meinung. Deswegen gibt es unterschiedliche Meinungen. Und in der Demokratie wird mit Mehrheit entschieden. Die Mehrheit für deutsch-französische Zusammenarbeit, für deutsch-französisches Engagement ist in Deutschland eine große.
    Und die Lehren, die wir aus der französischen Politik gerade auch in den letzten Monaten ziehen können, ist doch: Wenn man entschlossen seinen Weg geht und entschlossen dafür eintritt, Europa zu stärken, die deutsch-französische Zusammenarbeit voranzubringen, dass man dann auch mit einer Mehrheit gegen eine Minderheit seine Politik durchsetzen kann, und dazu sind wir entschlossen. Das haben wir im Übrigen (vier Fraktionen im Bundestag) mit dem Entwurf dieser Resolution ja auch unter Beweis gestellt.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.

    [*] Anmerkung der Redaktion: In der ursprünglichen Veröffentlichung dieses Interviews ist uns ein Fehler unterlaufen. Beim Abmischen der Aufnahme mit dem Übersetzerton wurde versehentlich die letzte Frage von Stephan Detjen an die Parlamentspräsidenten mit einer bereits zuvor gestellten Frage ausgetauscht. Wir haben das nachträglich wieder richtiggestellt.