Im Brexit sieht Cohn-Bendit auch eine Chance: Einerseits könne der EU-Austritt Großbritanniens eine Warnung für andere Länder sein. Er werde zeigen, dass es kein "Europa à la carte" gebe. Gleichzeitig werde damit klargestellt, wie eine Partnerschaft mit der EU aussehen wird. Der Brexit werde das Modell für mögliche zukünftige Austritte anderer Mitglieder, so der Europapolitiker.
Alle Gesellschaften in Europa müssten sich noch einmal die Frage stellen, ob sie Europa wollten oder nicht, sagte Cohn-Bendit. Wer nur die Hand aufhalte, ansonsten aber einen homogenen, abgeschlossenen Nationalstaat wolle, könne nicht Mitglied der EU sein.
"Druck, mehr Europa zu denken, wird größer"
Cohn-Bendit kritisierte die deutsche Politik für ihre Zurückhaltung beim Thema Europa. So sei etwa SPD-Chef Martin Schulz im Wahlkampf nicht fähig gewesen, über Europa zu sprechen. Die nächste deutsche Bundesregierung müsse Antworten auf die Fragen finden, die etwa der französische Präsident Emmanuel Macron stelle. Die französisch-deutsche Zusammenarbeit sei wichtig, um andere Staaten von Europa zu überzeugen. Cohn-Bendit sagte, er sei aber optimistisch, dass die nächste Bundesregierung sich der europäischen Auseinandersetzung stellen werde. "Angesichts der Probleme in der Welt wird der Druck, mehr Europa zu denken, größer. Das sind beste Voraussetzungen dafür, dass wir - wie sagte Merkel: wir werden das schaffen".
Das Interview in voller Länge:
Stefan Heinlein: 2017 - ein Schicksalsjahr für Europa: So hieß es in Brüssel vor 12 Monaten. Deutlich spürbar an vielen Orten noch die Folgen der Wirtschafts- und Finanzkrise, kaum ein Ende absehbar der Flucht in unsere Wohlstandsinseln und am Horizont bereits der Brexit, der Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union. Hinzu kam die Sorge vor weiteren Erfolgen der Rechtspopulisten in Frankreich, den Niederlanden und bei uns in Deutschland.
Am Ende sollten die Pessimisten nicht recht zu behalten, Europa scheint den Herausforderungen zu trotzen - auch wenn mit dem offenen Konflikt um den Umbau des Rechtsstaates in Polen am Ende des Jahres ein neuer Krisenherd hinzu kam. Darüber möchte ich jetzt reden mit dem deutsch-französischen Publizisten Daniel Cohn-Bendit, lange Jahre Europaabgeordneter der Grünen. Guten Morgen Herr Cohn-Bendit.
Daniel Cohn-Bendit: Guten Morgen!
Heinlein: Hat Europa 2017 gerade noch so einmal die Kurve bekommen?
Cohn-Bendit: Was heißt "gerade noch einmal"? Sagen wir, einige politisch Handelnde haben die Kurve gekriegt, sodass die Bilanz eben nicht so negativ ist, wie sie es hätte sein können. Man hatte ja große Angst, dass die Populisten - das haben Sie gesagt - in Holland, in Schweden, überall gewinnen, und in Frankreich vor allem, dass in Frankreich Marine Le Pen gewinnen würde. All das ist nicht eingetreten und, im Gegenteil, ich finde, dass wir heute eine Debatte um die Zukunft Europas haben, die seit Langem nicht mehr so spannend war, wie sie jetzt ist.
"Macron ist eine der herausragenden Persönlichkeiten der europäischen Auseinandersetzungen"
Heinlein: Wem gehört, Herr Cohn-Bendit, Ihr Lob für die Rettung Europas? Welche politischen Akteure meinen Sie?
Cohn-Bendit: Na ja, also von mir aus gesehen ist natürlich der französische Staatspräsident, der jetzige, Emmanuel Macron, eine der herausragenden Persönlichkeiten dieser europäischen Auseinandersetzungen. Denn er hatte einen Wahlkampf in Frankreich geführt, wo er zentral eine pro-europäische Position vertreten hat, mit europäischen Fahnen, mit viel Emotion für Europa. Und alle hatten gesagt, na ja, mit Europa ist kein Blumenstrauß zu gewinnen, gerade in Frankreich nicht, und er hat das Gegenteil bewiesen. Und Marine Le Pen, die genau das Gegenteil wollte, hat hochkantig verloren. Also ihm gehört einfach ein Blumenstrauß, wenn man will, weil er emotional wieder Europa mit einer Zukunftsperspektive verbunden hat.
Heinlein: Ich höre Ihre Begeisterung, Herr Cohn-Bendit, für Macron. Ist er tatsächlich der neue Fixstern in Europa oder vielleicht nur eine Sternschnuppe, die bald dann wieder verglüht? Ist das eine Herzensangelegenheit für ihn, Europa?
Cohn-Bendit: Oh ja, also das kann ich wirklich unterstreichen. Ich habe ihn kennengelernt bei einer Europa-Debatte in einer Universität und wir haben sehr oft miteinander über Europa diskutiert. Das gehört zu seinen politischen Grundüberzeugungen, die Notwendigkeit Europas, gerade weil die Nationalstaaten angesichts der Herausforderungen, die wir haben, nicht mehr in der Lage sein werden, diese Herausforderungen zu meistern. Also das ist nicht eine Sternschnuppe. Ob er es schafft oder nicht, das ist eine andere Debatte, aber für ihn ist Europa das Wichtigste, was man nicht nur verteidigen muss, sondern was man erweitern muss.
"Deutsche Politiker müssen aufhören, Europa zu verstecken"
Heinlein: Damit er es schafft, Herr Cohn-Bendit, braucht er die Unterstützung aus Deutschland.
Cohn-Bendit: So ist es. Und das ist das Problem.
Heinlein: Sind Sie optimistisch, dass diese deutsch-französische Achse, dieser deutsch-französische Motor dann wieder in Gang kommt?
Cohn-Bendit: Ja, wenn erst mal Deutschland eine Regierung kriegt, das ist ja noch nicht entschieden, wie. Zweitens wenn wirklich die deutschen Politikerinnen und Politiker verstehen, dass sie endlich mal aufhören müssen, sich - Europa zu verstecken. Das Schlimmste, was geschehen ist, ist ja, dass Martin Schulz, der ein überzeugter Europäer ist, nicht in der Lage war, im Wahlkampf über Europa zu reden. Das ist ja nicht nachvollziehbar. Und ich finde, dass die nächste Bundesregierung, wer auch immer, welche Koalition auch immer, muss zentral eine Antwort finden auf die Fragen, die Emmanuel Macron stellt.
Heinlein: Dieser deutsch-französische Motor, wenn er denn dann Fahrt aufnimmt, kann er sogar vielleicht schneller schnurren ohne den Ballast aus London? Wenn der Brexit kommt - er kommt 2019 -, ist das vielleicht auch Ballast, der dann abgeworfen werden kann?
Cohn-Bendit: Na ja, es geht ja leider nicht nur um Brexit, sondern wir haben den Ballast aus Polen, aus der Tschechischen Republik, aus Ungarn und so weiter. Also das, was wir brauchen, ist, dass der deutsch-französische Motor auch eine Überzeugungskraft gewinnt, damit er andere Staaten begeistern kann. Und deswegen finde ich es so kleinlich, wenn die verhandelnden Parteien für die Koalition jetzt sagen, einen europäischen Finanzminister wollen wir nicht, das wollen wir nicht, und wir wissen gar nicht, was die wollen. Das ist überhaupt die Krankheit im Moment in Deutschland, dass jeder nur sagen kann, was er nicht will.
"Es gibt kein Europa à la carte"
Heinlein: Über die Polen, über die Tschechen, über Ost- und Mitteleuropa müssen wir gleich noch reden. Herr Cohn-Bendit, noch einmal die Frage nach den Briten: Ist das vielleicht sogar eine Chance für Europa, wenn London geht 2019?
Cohn-Bendit: Na ja, also die Chance besteht darin, dass vieles klar wird. Es gibt kein Europa à la carte, entweder wollen wir Europa oder wollen wir nicht. Und was der Brexit als Chance sein könnte, dass diejenigen, die sagen, das wollen wir nicht, dann sagen sie, okay, wir wollen assoziierte Partner, eine privilegierte Partner - es kann eine privilegierte Partnerschaft mit England, mit der Türkei, vielleicht morgen mit Ungarn, wenn die wollen oder wie auch immer. Das heißt, die alle Nationalstaaten, alle Regierungen müssen sich überzeugen, müssen jetzt sich die Frage stellen: Entschuldigung, wollen sie Europa oder wollen sie nicht? Und wenn sie nicht wollen, auch gut, dann gibt es eine andere Beziehung. Und die Verhandlung mit England ist das Modell für alle Staaten, die im Grunde genommen nicht weiterwollen mit Europa.
Heinlein: Haben Sie denn den Eindruck, dass Ost- und Mitteleuropa, also Polen, Tschechien, Ungarn, die Slowakei, die Visegrád-Staaten Europa noch wollen?
Cohn-Bendit: Also das ist das Problem. Ein Teil der Gesellschaft in Ungarn, Polen und so weiter wollen Europa und ein Teil nicht. Und das ist immer das Diffizile. Denn die Regierungen sind jetzt an der Macht, aber morgen kann es eine neue Regierung sein, eine andere Mehrheit, die doch mehr von Europa will. Aber ich glaube, dass in naher Zukunft alle diese Gesellschaften diese Frage noch mal stellen müssen. Entweder wollen sei weiter mit Europa, dann geht es nicht, dass sie die Hand immer ausstrecken und sagen, wir wollen [unverständliches Wort, Anm.d.Red.], wir wollen Geld von Europa, aber wir haben keine Verpflichtungen gegenüber Europa. Das wird auf lange Sicht nicht mehr gehen.
"Die Brexit-Entscheidung kann eine Warnung für viele sein"
Heinlein: Muss dann Europa auch Druck ausüben auf Budapest, auf Prag und andere Länder, damit das in die Richtung geht, die Sie gerade beschreiben? Oder kann man den Ungarn und Polen auch ihre nationale Identität lassen, ihre Sehnsucht nach Homogenität? Oder muss man sie zwingen in das Modell Europa, in diese Richtung, dieses vertiefte Europa, das Sie gerade beschreiben?
Cohn-Bendit: Ich will ihnen weder eine Sehnsucht wegnehmen oder nicht. Ich will auch niemanden zwingen. Aber es ist nun mal so, dass wir jetzt Herausforderungen haben, als Planet Herausforderungen haben, dass es Flüchtlinge gibt. Und da geht es nicht, dass man sagt, nee, nee, damit wollen wir nichts zu tun haben. Also wer eine nationale, reduzierte, homogene Identität haben will, soll er haben! Aber dann kann er sie nicht einfach in Europa haben, dann soll es ein Partner von Europa werden, aber kann nicht mitentscheiden, was Europa sein will. Also das geht nicht, das ist ein Widerspruch in sich.
Heinlein: Also, in letzter Konsequenz, Herr Cohn-Bendit, wenn ich Sie richtig verstehe, dann muss es gehen auch ohne die Polen, ein Austritt von Ungarn, von den Ländern, die nicht mitmachen wollen bei einem vertieften Europa?
Cohn-Bendit: Also da würde ich das so formulieren: Ich wäre gespannt, wie ein Volksentscheid über den Austritt Polens in Polen ausgehen würde. Da bin ich mir nicht so sicher. Ich glaube, dass da auch die Brexit-Entscheidung dann eine Warnung für viele sein kann. Ich finde aber, dass mittelfristig sich diese Fragen - wir brauchen eine europäische Verfassung. Und wenn die Länder wählen, sich dann die Frage stellen müssen: Wollen wir drinbleiben oder nicht drinbleiben? Und dann muss man für Europa auch in Polen kämpfen und nicht einfach sagen, so ist es und wir machen jetzt die Augen zu.
"Ich bin optimistisch"
Heinlein: Ihr Grundgefühl am Ende des Jahres, wenn Sie jetzt einen großen Strich ziehen unter dieses Jahr, Herr Cohn-Bendit, und vorausblicken auf 2018: Sind Sie eher pessimistisch oder eher optimistisch, wenn Sie auf Europa blicken?
Cohn-Bendit: Ich bin optimistisch. Ich bin optimistisch, dass die nächste Bundesregierung sich der europäischen Auseinandersetzung stellen wird. Und angesichts der Probleme in der Welt wird der Druck, mehr Europa zu denken, immer größer werden. Und das sind die besten Voraussetzungen, dass wir auch - wie sagte die Bundeskanzlerin: Wir werden das schaffen!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.