Große Worte wurden formuliert in den Tagen der Demut, als der professionelle Fußball im Frühjahr ruhte und um seine Zukunft bangte. "Wir werden ganz bestimmt aus dieser Situation einiges mitnehmen und uns sehr wohl Gedanken machen, wie künftig das Wirtschaftliche vielleicht aber auch das Wertefundament der Bundesliga aussehen kann", sagte Christian Seifert, der Geschäftsführer der Deutschen Fußball-Liga, seinerzeit im ZDF.
Die Gesellschaft diskutierte, ob wieder Bundesligafußball gespielt werden soll, während Schulen, Kindergärten und Restaurants geschlossen bleiben. Eine Branche, die seit Jahren den Eindruck erweckte, von einer ungesunden Gier nach immer größeren Umsätzen und Gewinnen durchsetzt zu sein, die viele Sympathien verloren hatte, wollte wieder Geld verdienen. Und stieß auf Skepsis. Auf ein Gefühl des Misstrauens, das bis heute nicht verflogen ist.
"Enke, Flüchtlinge, Wettmanipulationen - Am Ende ist relativ wenig passiert"
In diesem Herbst wird sich nun zeigen, wie stark der Wille zur kritischen Selbstreflektion tatsächlich ist. Der Journalist und Autor Ronny Blaschke, der in dieser Woche in eine Online-Talk der Konrad-Adenauer-Stiftung mit dem Fußballfunktionär Andreas Rettig über die "gesellschaftliche Verantwortung des Volkssports Nr. 1" diskutierte, ist skeptisch: "Ich habe schon so viele Arbeitsgruppen, Taskforces gesehen, wir hatten die Krise Robert Enke, Geflüchtete, Wettmanipulation aus ganz unterschiedlichen Gründen gab es den Ruf nach einem alternativen Fußball. Ja, relativ wenig ist passiert."
Nun wird die DFL eine Taskforce "Zukunft Profifußball" gründen. Dort werden Vertreter unterschiedlicher Gesellschaftsbereiche über Fehlentwicklungen diskutieren und Änderungsvorschläge entwickeln, die die DFL dann umsetzen kann. Oder auch nicht. Andreas Rettig, der bis 2019 kaufmännischer Geschäftsleiter beim FC St. Pauli war und zuvor in der Geschäftsführung der DFL saß, sieht in der aktuellen Krise aber eine echte Chance zur Erneuerung.
"Weil man einfach spürt, dass viele einfach mit den Dingen nicht mehr einverstanden sind und das auch artikulieren. Ich denke, dass wir zu einer ganz anderen Streitkultur kommen müssen. Ich habe das selbst erlebt: Du wirst, wenn du den Finger in die Wunde legst, wirst du direkt als Nestbeschmutzer abqualifiziert. Auch da müssen wir mal bereit sein, die Dinge auch mal nicht nur einmütig und sich in den Armen liegend zu sagen: Jawoll: Alles wunderbar, sondern das auch mal zuzulassen."
Der Fußball verliert an Glaubwürdigkeit
Denn die Wahrnehmung ändert sich. Die Erzählung vom Fußball als letztem Lagerfeuer der Gesellschaft verliert an Glaubwürdigkeit. Die Kraft des Spiels, unterschiedliche Generationen, Bildungsschichten oder Religionen zusammenzuführen, nimmt ab. Was nicht zuletzt daran liegt, dass der Fußball seine immer wieder pompös zur Schau gestellten Werte nicht überzeugend vertritt.
Schalkes ehemaliger Aufsichtsrat Clemens Tönnies bleibt trotz rassistischer Äußerungen lange im Amt. Der FC Bayern nimmt üppige Sponsorengelder aus Katar und feiern zugleich ihren jüdischen Gründer, der womöglich nicht einmal in den Golfstaat einreisen dürfte. Der Spielerhandel mit Minderjährigen wird zu einem immer relevanteren Geschäftszweig. China wird als wichtigster Expansionsmarkt betrachtet statt als Nation der Unterdrückung und des Unrechts benannt zu werden. Und so weiter und so fort.
Sobald die Funktionäre potenzielle Kunden oder Geschäftspartner verschrecken könnten, verwandeln sich vermeintliche Haltungen in Phrasen, meint der Sportpolitik-Experte Blaschke, der unter anderem als Autor für den Deutschlandfunk arbeitet.
"Bei den klaren Themen, gegen den Nationalsozialismus, gegen Neonazis. Schauen die doch mal auf die Videos, die der DFB rausbringt: Das sind ganz schwammige allgemeine Aussagen für Vielfalt, gegen Rassismus, da wird nie das Wort AfD in den Mund genommen, da wird nie was gegen Gauland gesagt, das ist alles der Minimalstandard, auf den wir uns in der Mitte der Gesellschaft einigen können. Und da kann es konkreter werden. Aber wenn es international um komplizierte wirtschaftliche Abhängigkeiten geht, da sind die Fußballer meistens dann ruhig."
Neuer Verteilerschlüssel soll zu einem besonneneren Wirtschaften animieren
Geld bleibt die wichtigste Triebkraft. Aber es gibt Ideen, wie über genau diesen Hebel Missstände bekämpft werden könnten: Klubs, die nachhaltig arbeiten, die ein besonders wirksames soziales Engagement zeigen, die den Menschen nicht über immer teurere Trikots und Tickets immer mehr Geld aus der Tasche ziehen, sondern etwas zurück geben, könnten einen größeren Anteil am TV-Geld erhalten. Wobei die Grundsätze, nach denen die Erlöse an die Vereine ausgezahlt werden, in den derzeitigen Diskussionen eine Art Allheilmittel sind.
Ein neuer Verteilerschlüssel soll auch noch helfen soll, die größer werdende Schere zwischen Arm und Reich zu verkleinern. Und er soll die Klubs zu einem besonneneren Wirtschaften animieren. Rettig hat klare Vorstellungen dazu. Leistung müsse zwar weiterhin belohnt werden, aber weil die Tabellen immer weniger die sportliche Leistung als die ökonomische Potenz der Klubs spiegeln, sollten die Funktionäre sich bei der Honorierung von Leistung mal fragen:
"Welche Leistung meinen wir denn? Meinen wir die Leistung, wie ich am meisten Geld einsammle, um es dann in die Mannschaft zu stecken? Oder meine ich die Trainerleistung, die Managementleistung, die Leistung des Nachwuchsleistungszentren und und und? Von daher sage ich ganz klar: Wir müssen zu einer gerechteren Verteilung kommen, was nicht heißt, nur den Großen etwas wegzunehmen. Wenn der Große gut arbeitet, kann er ja auch davon profitieren. Aber wir müssen das in eine faire Relation bringen."
Die Idee, jene Klubs zu belohnen, die pro eingesetzter Million Euro die meisten Punkte erspielen, stößt derzeit auf viel Wohlwollen. Die Frage ist, ob inmitten dieser Debatte noch Kapazitäten bleiben, um auch die vielen anderen Vorschläge für einen alternativen Fußball, die von Fanorganisationen oder kleinen Vereinen wie dem FC St. Pauli kommen, ernsthaft ins Auge zu fassen.