Literatur als Erkenntnismaschine: kurze Essays über die Globalisierung, über Identität, Konzepte des lebenswerten Lebens und die Zukunft der Literatur. Essay und Diskurs sendet im August Texte von Schriftstellerinnen und Schriftstellern die beleuchten, was uns kommende Zeiten bringen.
Im Rahmen des Festivals „Und seitab liegt die Stadt“ haben die Schriftstellerinnen Shida Bazyar und Emma Braslavsky zur Diskussion über das Thema „Zukunft“ geladen. Die Essays wurden im Mai 2022 im Literarischen Colloquium Berlin von den Autorinnen und Autoren vorgestellt. Deutschlandfunk "Essay und Diskurs" präsentiert ein Labor, in dem sich schon jetzt Alternativen für spätere Lebensweisen austesten lassen und die unterschiedlichsten Perspektiven über den Fortgang der Menschheit zur Sprache kommen.
Die Schriftstellerinnen und Schriftsteller machten sich Gedanken über den Stand der Globalisierung und die deutsche Identität in der Migrationsgesellschaft. Sie prüfen, wieviel Individualismus und Gemeinsinn der Gesellschaft zuträglich sind. Sie entwerfen Konzepte zur Ernährung der Menschheit und zu einem nachhaltigen Wirtschaften in lebenswerten Städten. Sie suchen Antworten in einer Welt zwischen Digitalisierung und der Weltflucht ins Analoge. Sie überlegen, wen wir in den literarischen Kanon aufnehmen werden und wie wir in Zukunft lesen und schreiben werden.
Pascal Fischer: Willkommen zu einer halben Stunde ganz im Zeichen des “Ustopischen”. Also: einer Mischung aus dem Utopischen und Dystopischen. “Ustopisch”, so nennt die Schriftstellerin Emma Braslavsky Zukunftsentwürfe, die beides nüchtern vereinen, Hoffnung und Schwarzmalerei. Und zwischen diesen Extremen bewegen sich die drei Essays heute, die ergründen, wie wir unser Verhältnis zur Natur neu gestalten können. Und: wie wir davon erzählen!
Alle drei Texte waren 12. und 13. Mai 2022 im Literarischen Colloquium Berlin zu hören – im Rahmen eines Kongresses zum Thema Zukunft. Eingeladen hatten die Schriftstellerinnen Shida Bazyar und Emma Braslavsky. Wir senden Texte aus dem Kongress an allen Augustsonntagen – in unserer Reihe „Zukunftsaussichten”.
Den Anfang heute macht Stefanie de Velasco. Sie ist 1978 geboren und im Rheinland aufgewachsen. Sie hat zwei Romane veröffentlicht, Tigermilch und Kein Teil der Welt und promoviert gerade an der Universität der Künste Berlin zum Thema „Nachhaltiges Erzählen”. Das ist auch das Thema ihres Essays, der auslotet, wie man sich angesichts des Klimawandels engagieren kann – ob nun als Aktivistin oder Schriftstellerin!
Stefanie de Velasco: „Krähenträume oder Gedanken zu einem Nachhaltigen Erzählen“
Im Sommer 2019 schrieb ich in einem Schrebergarten nahe Berlin meinen Roman Kein Teil der Welt fertig. Es war so heiß und trocken, dass ich nachts in der Stadt keinen Schlaf mehr fand. Im Garten war es grün, der See fußläufig, aber auch dort fand ich nicht die friedliche Idylle vor, die ich bisher mit der sogenannten Natur verbunden hatte. Morgens weckte mich manchmal beißender Qualm. Er zog von Westen her – dort brannten die Wälder – und waberte wie ein böser Geist durch die Apfelbäume, verfing sich in den Himbeersträuchern. Selbst die Vögel schienen die Luft anzuhalten und zwitscherten erst weiter, wenn der Rauch verflogen war.
Im Sommer 2019 schrieb ich in einem Schrebergarten nahe Berlin meinen Roman Kein Teil der Welt fertig. Es war so heiß und trocken, dass ich nachts in der Stadt keinen Schlaf mehr fand. Im Garten war es grün, der See fußläufig, aber auch dort fand ich nicht die friedliche Idylle vor, die ich bisher mit der sogenannten Natur verbunden hatte. Morgens weckte mich manchmal beißender Qualm. Er zog von Westen her – dort brannten die Wälder – und waberte wie ein böser Geist durch die Apfelbäume, verfing sich in den Himbeersträuchern. Selbst die Vögel schienen die Luft anzuhalten und zwitscherten erst weiter, wenn der Rauch verflogen war.
Wir durften nicht mehr gießen. Die Havel, von der wir unser Wasser bezogen, stand so niedrig wie noch nie. Stattdessen sollten wir Regenwasser nutzen, doch wie? Es regnete ja nicht. Abends ging ich mit meiner Nachbarin zum Fluss hinunter, wir füllten Kannen und Behälter mit Wasser für die Pflanzen – das war erlaubt. Die Spree fließt aufwärts, erzählte sie mir und erklärte, warum das aufgrund der Trockenheit physikalisch überhaupt möglich sei. Schweigend tauchte ich meine Gießkannen ins Wasser, schleppte sie zur Parzelle, band den überladenen Pfirsichbaum hoch, goss das hängende Gemüse. In der Nacht lag ich wach und erinnerte mich an meine Freundin Samira: „Wenn die Flüsse aufwärts fließen, und die Hasen Jäger schießen, und die Mäuse Katzen fressen, dann erst will ich dich vergessen“, schrieb sie mir 1987 ins Poesiealbum.
Tag für Tag zwang ich mich an den Schreibtisch. Eigentlich hätte ich erleichtert sein sollen, froh über die baldige Beendigung meines Romans. Sechs Jahre hatte ich daran geschrieben, von (m)einer Kindheit und Jugend bei den Zeugen Jehovas erzählt, darüber was es bedeutet mit einer permanent drohenden Apokalypse aufzuwachsen – ein Text, durch den ich mir insgeheim erhoffte, die Dämonen der Vergangenheit hinter mir zu lassen. Stattdessen jedoch holten mich die Weltuntergangsszenarien meiner Kindheit unverhofft ein. Sechs Jahre schrieb ich, bloß um mich anschließend in einer Realität wiederzufinden, in der ein Hitzerekord den nächsten jagt, und Kinder anstatt in die Schule auf die Straße gehen, um ihr Überleben und das der nachfolgenden Generationen zu sichern.
Ich geriet in eine tiefe Schreibkrise. Die Hitze, der Aufstieg der AfD, die vielen Toten im Mittelmeer, der Hass im Netz ließen mich als Autorin verstummen. Ich fragte mich, was ich bloß als nächstes schreiben sollte. Meine Arbeit, die ich bisher für sinnvoll hielt, fühlte sich auf einmal ungefähr so sinnvoll an, wie Glückskekse zu betexten. Ich fragte mich: Wozu noch Romane schreiben, wenn die Realität überwältigender ist als jegliche Fiktion?
Was sich 2019 bei mir als Schreibkrise äußerte, ist von der Kulturwissenschaft bereits eindrücklich analysiert worden. So beschreibt Amitav Ghosh das Unvermögen des Romans (zum Beispiel in der sogenannten Climate Fiction), einen zeitgemäßen Kommentar zur Gegenwart zu liefern, weil seine stabile Welt – egal welche tragischen Erschütterungen sich innerhalb dieser ereignen – der Fundamentalerschütterung, die das Anthropozän mit sich bringt, formal nicht gerecht wird. Auch die Literaturwissenschaftlerin Eva Horn analysiert die künstlerische Ästhetik des Anthropozäns als eine, die über die bloße Thematisierung hinaus und sich in ihrer Form finden muss. Horn zieht Beispiele aus der Bildenden Kunst und der Literatur heran, die dieser Ästhetik des Anthropozäns sowohl thematisch als auch formal gerecht werden, in „Latenz als ein Entzug der Wahrnehmbarkeit und Darstellbarkeit; Verstrickung als Struktur eines neuen Bewusstseins von Ko-Existenz und Immanenz und das Aufeinandertreffen inkompatibler Größenmaßstäbe“, – das Brüchige und Fragmentarische des Erzählens als Gegenentwurf zum bürgerlichen Roman und seiner geschlossenen Welt. Doch weder die Kritik am Roman als „literarische Form des bürgerlichen Zeitalters“ noch das Fragment sind epochenspezifisches Alleinstellungsmerkmal für die Ästhetik im Anthropozän, vielmehr wiederkehrende künstlerische Versuche, wie wir sie aus der Literatur der Romantik und der Moderne bereits kennen – immer auch als Ausdruck für die Erschütterung gegebener Verhältnisse. Vor allem aber verharrt die Ästhetik des Anthropozäns in eben jenem Problem: Sie bringt lediglich den Nachweis von Verhältnissen und bietet keinen Ausblick auf das Morgen, das heißt sie setzt keine innovative Bewegungsfigur in Gang, die dem Anthropozän etwas abtrotzt und gleichzeitig versucht, dieser Situation etwas entgegenzusetzen und Neues zu etablieren.
Im Herbst 2019 streikte ich 40 Tage vor der Akademie der Künste am Brandenburger Tor, vor mir ein Schild: German Writer on Climate Strike. 40 Tage dauerte auch die biblische Sintflut, 40 Tage fastete Jesus in der Wüste. In Radical Hope erzählt der Autor Jonathan Lear von der Tradition der Crow, die ihre Kinder regelmäßig in die Wüste oder in die Berge schickten um zu träumen. Einsamkeit, Langeweile, Kälte und das Zufügen von Schmerzen versetzten sie in Trancezustände, die als Medizinträume galten. Nach ihrer Rückkehr wurden die Träume gemeinsam gedeutet; das führte zu einer ständigen Anpassung der Crow-Kultur an die Gegenwart. Als die Crow von den europäischen Kolonialmächten in die Reservate deportiert wurden, fanden sie durch das Deuten von Medizinträumen einen neuen Crow Telos, der ihnen als eine der wenigen indigenen Kulturen Nordamerikas das Überleben in einer postapokalyptischen Welt ermöglichte.
Auch ich hatte vor der Akademie der Künste einen Traum: Ich sah mich mit einem aus Industriemüll gebauten Wohnfahrrad fahren und nach Möglichkeiten suchen, in einer aus den Fugen geratenen Welt weiter zu schreiben. Im Frühjahr 2020 baute ich eben jenes Wohnfahrrad aus Industriemüll und fuhr damit von Kiel nach Berlin. Ich schlief im Wohnfahrrad, auf Campingplätzen und Warmshower-Sofas. Ich schrieb auf der Künstler*innenplattform Patreon Reisetexte, veröffentlichte das Kassandra‑Magazin für eine neue Zeit. Ich kam ins Denken. Schon während meiner Spaziergänge auf dem verdorrten Tempelhofer Feld 2019 hatte ich mich manchmal gefragt, ob Nachhaltigkeit etwas mit meiner Arbeit – dem Erzählen – zu tun hatte. Ich fragte mich: Welches Potenzial setzt der Nachhaltigkeitsbegriff frei, wenn man ihn durch künstlerische Bewegungsfiguren in Bezug setzt zum Erzählen? Kann uns der Nachhaltigkeitsbegriff helfen, einen relevanten künstlerischen Kommentar zur Gegenwart zu liefern und Literatur zukunftsfähig machen? Dort auf dem Fahrrad, in schwankender Position, dachte ich über die Einführung von Nachhaltigkeit als kreativem Konzept nach – in Anlehnung an ressourcenschonende Handlungsprinzipien, als Ästhetik und künstlerische Praxis, die nicht nur die Brüchigkeit der Verhältnisse im Anthropozän nachweist, sondern gleichzeitig damit experimentiert, neue Kreisläufe herzustellen, und nach neuen Erzähl- und Existenzformen sucht, die es der Literatur ermöglicht, aus eben jenen Kreisläufen auszubrechen, die überhaupt erst zum Anthropozän geführt haben. Auch ich diagnostiziere, auch ich suche nach einer angemessenen Sprache unserer Gegenwart, aber anstatt auf der Seite des Anthropozäns, möchte ich auf der konstruktiven Seite der Nachhaltigkeit suchen, auf der Seite der Frage: Was ginge eigentlich anders? Welche Bewegungsfiguren müsste man ausführen, um die Fieberkurve nicht nur zu deuten, sondern sie in derselben Bewegung auch zu verändern?
Fischer: „Krähenträume oder Gedanken zu einem Nachhaltigen Erzählen” von Stefanie de Velasco, gelesen von Nicole Kersten.
Ein Text voller Skepsis gegenüber dem, was die Literatur zu leisten vermag und gegenüber dem, was wir überhaupt noch verändern können werden...
In der anschließenden Diskussion führte Stefanie de Velasco das noch ein wenig aus: Dystopien traut sie nicht zu, Menschen zu Veränderungen zu bewegen. Nach dem christlichen Armageddon käme wenigstens das Paradies, nach handelsüblichen Dystopien meist nur das Weltende. Dystopien seien zu oberlehrerhaft, machten sie schlicht fertig, machten ihr Angst, statt zu sensibilisieren. So sei es ihr mit Die letzten Kinder von Schewenborn von Gudrun Pausewang ergangen, dem Schulklassiker aus den 80er und 90er Jahren, einem düsteren Atomkriegsschauermärchen.
Einen Hauch positiver gab sich Lisa-Marie Reuter auf dem Podium: Lisa-Marie Reuter ist Jahrgang 1987, hat in Würzburg studiert und arbeitet dort nun in einem Verlag. Nebenbei schreibt sie Climate Fiction, zum Beispiel den dramatischen Roman Exit this city aus dem Jahre 2021.
Hier sollen genmanipulierte Bienen die Felderträge steigern – stattdessen töten ihre Stiche massenweise Menschen.
Ein Schreckensgemälde, nicht gerade nach dem Geschmack von Stefanie de Velasco. Aber Lisa-Marie Reuter betonte: Dystopien sind erzähltechnisch spannender als Utopien. Denn sie ermöglichen mehr Konflikt in der Geschichte.
In ihrem Essay aber zeigte sich Lisa-Marie Reuter dann doch vorsichtig hoffnungsvoll: In „Stadtidyll” schildert sie eine Landwirtschaft der Zukunft. Und die funktioniert lokal, selbstversorgend, kleinteilig und mit weniger Stress für Mensch und Tier.
Lisa-Marie Reuter: „Stadtidyll“
Dass Massenhaltung von Tieren zum Auslaufmodell wird, wünschen sich vermutlich viele. Die negativen Seiten liegen auf der Hand: Kühe, Schweine und Hühner leiden unter Enge und Ausbeutung, der hohe Futter- und Energiebedarf belastet die Umwelt, die Endprodukte stecken voller Antibiotika und Stresshormone.
Dass Massenhaltung von Tieren zum Auslaufmodell wird, wünschen sich vermutlich viele. Die negativen Seiten liegen auf der Hand: Kühe, Schweine und Hühner leiden unter Enge und Ausbeutung, der hohe Futter- und Energiebedarf belastet die Umwelt, die Endprodukte stecken voller Antibiotika und Stresshormone.
Fast wirkt es so, als ob die Menschen ihre moderne Lebensweise den Nutztieren aufzwingen. Enge, Stress und der ewige Hunger nach mehr: Das klingt ein bisschen nach einer Großstadt des 21. Jahrhunderts. Aber wo Kuh & Co ausschließlich die Schattenseiten der Medaille zu spüren bekommen, ziehen wir Menschen natürlich auch Positives aus dem kondensierten Zusammenleben. Austausch, Entwicklung und Innovation finden nun mal vor allem in Städten statt, das Landleben scheint da immer ein Stück hinterherzuhinken. Verdichtung steigert die Effizienz, und was effizient ist, setzt sich trotz vieler Nachteile durch – siehe Massentierhaltung.
Die Forschung zeigt allerdings auch, dass Menschen aus Großstädten stressempfindlicher sind als Menschen vom Land. Neurourbanistik nennt sich die moderne Wissenschaftsdisziplin, die sich mit solchen Fragen beschäftigt. Unsere Gehirne sind evolutionär für das Leben in kleinen Gruppen ausgelegt, die Informationsflut in Städten überfordert uns. Der Dauerstress macht uns dünnhäutiger und aggressiver, im schlimmsten Fall sogar psychisch krank. Was diesen Effekt abzumildern vermag, auch dazu gibt es Erkenntnisse – aus der Neurourbanistik: Mehr Natur in der Stadt kann die Stressresistenz der Menschen steigern.
Laut Schätzungen der Vereinten Nationen werden 60 Prozent der Weltbevölkerung im Jahr 2030 in Städten leben. Urbane Räume dehnen sich immer weiter aus, gleichzeitig steigt der weltweite Bedarf nach Nahrungsmitteln. Platz zum Leben und Landwirtschaften ist schon heute knapp – sehen wir also einer Zukunft entgegen, in der gestresste Menschen auf immer enger werdendem Raum zusammenleben, während den Böden auf dem Land auch noch das letzte bisschen Ertrag abgerungen wird?
Urban Gardening macht in kleinem Maßstab vor, wie die urbane Landwirtschaft unsere Beziehung zur Umwelt und zueinander verbessern könnte. Als groß angelegtes soziales Projekt könnte Urban Farming nicht nur zur nachhaltigen Lebensmittelproduktion beitragen, sondern auch das städtische Zusammenleben revolutionieren. Aufenthalt im Grünen inklusive. Gemeinsam eine Mini-Farm bewirtschaften, die auf Dächern und Balkons, in Vorgärten und Hinterhöfen existiert – das schult nicht nur das handwerkliche Können, sondern auch die soziale Kompetenz. Das Gewächshaus in der Nachbarschaft bringt so vielleicht Leute miteinander ins Gespräch, die sich bisher nur schlecht gelaunt die knappen Anwohnerparkplätze streitig gemacht haben.
Nebenbei: Wenn wir die Städte grüner machen, sollten wir die Verkehrswende gleich mit anpacken. In Berlin gibt es aktuell zehnmal so viel Fläche für Parkmöglichkeiten wie für Spielplätze. Jeden Benziner durch ein E-Auto zu ersetzen, wird das Platzproblem nicht lösen. Den öffentlichen Nahverkehr attraktiver zu machen, vielleicht schon eher. Vor einigen Jahren zeigten Versuche mit einem Schleimpilz, dass solche Mikroorganismen in der Lage sind, hocheffiziente Wegesysteme zu konstruieren. Sogar das Bahnnetz des Großraums Tokio baute der Pilz im Alleingang nach. Von der Natur lässt sich in allen Bereichen ganz sicher noch viel lernen, und so gilt vielleicht bald auch in Sachen Verkehrsplanung: Zurück zu den Wurzeln … äh, Myzelien.
Was uns die Natur auf jeden Fall lehrt: Geld kann man nicht essen. Dennoch sind die Städte in Deutschland und anderswo voll von gutverdienenden, chronisch gestressten Menschen, die online den Sinn des Lebens suchen. Doch wer täglich acht Stunden oder mehr vor Excel-Tabellen brütet, fühlt sich in den seltensten Fällen so richtig erfüllt. Yoga in der Mittagspause ist da wahrscheinlich keine Dauerlösung. Die urbane Landwirtschaft könnte Jobs für all jene schaffen, die sich im Alltag mehr frische Luft und Bewegung wünschen, ohne gleich mitten in die Pampa zu ziehen.
So entstehen vielleicht ganz neue Berufsbilder – Wer die Fütter- und Melkzeiten des lokalen Tierbestands koordiniert, wird zum „Neighborhood Livestock Supervisor (m/w/d)“, und wer per App die Verteilung der so erzeugten Milchprodukte an die teilnehmenden Haushalte steuert, darf sich „Dairy Product Logistics Manager (m/w/d)“ nennen. Allerdings bräuchten wir in Deutschland dann wohl doch das Internet an jeder Milchkanne.
Gut möglich, dass bei dieser Art der Selbstversorgung viele Menschen auf vegetarische oder vegane Ernährung umsteigen werden. Ein Ferkel, das man selbst aufgezogen hat, wird man sich seltener auf den Grill legen wollen. Was ganz sicher mit dem städtischen Landbau einhergehen dürfte, ist eine größere Wertschätzung für die selbst erzeugten Nahrungsmittel, und noch dazu, wenn sie ökologisch und ohne Pestizide angebaut werden. Möglicherweise wird es irgendwann wieder zur Selbstverständlichkeit, dass uns nicht ganzjährig das gesamte Gemüsesortiment von Tomate bis Zuckerschote zur Verfügung steht. Verzicht muss aber nicht in erster Linie Verlust bedeuten, vielmehr kann damit ein bewussterer Umgang mit Ressourcen einhergehen – und alles im allem vielleicht ein bisschen mehr Lebensqualität statt Lebensquantität.
Bewusstseinserweiterung auf ganzer Linie also, die letztlich zu mehr Respekt für die Lebewesen und Lebensweisen führt, mit denen wir unsere Umwelt teilen. Die Urban Farming-Initiative im Stadtviertel bringt viele Menschen und Milieus zusammen, baut Egoismus und Vorurteile ab. Klar gibt es auch Reibereien, die es dann – ganz altmodisch – im Offline-Modus zu lösen gilt. So bekommen die Digital Natives nebenbei noch einen Crashkurs in Echtzeitkommunikation.
Urban Farming wird vermutlich weder alle Probleme des Stadtlebens noch der globalen Lebensmittelversorgung beseitigen. Aber es kann ein Schritt hin zu einem nachhaltigeren Miteinander sein, das für alle Beteiligten mehr Gewinn als Verlust bedeutet. Mehr Raum für ökologisch verträgliche Landwirtschaft. Mehr Aufmerksamkeit für knappe Ressourcen. Mehr Natur in der Stadt.
Natur, davon gibt es auf dem Land übrigens nach wie vor jede Menge. Meist in Form von menschenleeren Wäldern, Wiesen und Äckern. Doch all das, was uns in der Stadt manchmal überfordert und stresst, fehlt hier vielen Menschen: Austausch, Abwechslung, Abenteuer. Statt Reizüberflutung droht Abstumpfung und auch das kann auf Dauer krank machen.
Lokaler, kleinformatiger Landbau lässt sich im Dorf genauso verwirklichen wie in der Stadt. Nachhaltige Gemeinschaftsprojekte können auch hier zu mehr Vernetzung führen und die ländliche Infrastruktur stärken, was das Dorfleben wiederum für Menschen aus den urbanen Räumen attraktiver macht. Das totgesagte Land wird wieder lebendiger, bis wir uns gar nicht mehr für eine der beiden Welten entscheiden müssen, weil es sich überall erfüllt und gesund leben lässt. Ein bisschen weniger Enge, Stress und Hunger, das bekäme vielen von uns gut – und vielleicht gestehen wir es dann irgendwann auch den Nutztieren zu.
Fischer: „Stadtidyll”, die Mini-Utopie von Lisa-Marie Reuter, vorgetragen von Julia Dillmann.
Und damit zu der Utopie, die auf dem Festival sicherlich die konkreteste, aber auch skurrilste war, womöglich für einige auch die unappetitlichste: Thomas Gäbert hat überlegt, wie der Nährstoffkreislauf effektiver werden könnte. Seine Antwort: Indem wir unsere Exkremente wiederverwerten!
In Ansätzen wird so etwas längst erforscht – und als promovierter Agrarwissenschaftler weiß Thomas Gäbert das natürlich. Er arbeitet heute für die Agrargenossenschaft Trebbin und ist dort seit 2017 im Vorstand.
Gäberts Text heißt „Aus der Vergangenheit gelernt!” – und die Vergangenheit der Zukunft ist bekanntlich unsere Gegenwart:
Denn mehr Wiederverwertung bedeutet auch, weniger abhängig von Importen zu sein – auch von Lebensmittelimporten. Dann kann kein Autokrat mehr Lebensmittelknappheit in anderen Ländern erzeugen und Exporte als Waffe einsetzen...
Thomas Gäbert: „Aus der Vergangenheit gelernt“
Heute ist für den dreijährigen Doron ein ganz besonderer Tag. Statt weiterhin das Töpfchen darf er zum ersten Mal die große Toilette benutzen. Sein Vater Timon nimmt sich die Zeit, um all die aufgeregten Fragen zu beantworten. Denn im Jahr 2050 sind die Toiletten nicht mehr rein entsorgende Sanitäranlagen, sondern vielmehr kleine Labore, in denen jeweils mehrere chemische und physikalische Prozesse in Windeseile ablaufen. Neben Phosphor und Kalium wird auch eine Vielzahl von weiteren Elementen und Verbindungen zurückgewonnen. Timon erklärt seinem Sohn geduldig, wo und wie die Exkremente aufgefangen werden und dass sie nicht wie früher einfach in der Kanalisation verschwinden. Doron darf vor der Nutzung einmal die Schutzblende abnehmen und sich den Ort, an dem aus den Exkrementen Nährstoffe zurückgewonnen werden, ganz genau anschauen. Im Auffangbehälter befinden sich bereits einige Pellets von vorherigen Toilettengängen. Sie sind klein, dünn und länglich. So sehr Doron auch daran riecht, die Pellets haben nichts mehr mit dem Ausgangsprodukt zu tun, sind völlig trocken und geruchsfrei. Er wirkt fast etwas enttäuscht.
Heute ist für den dreijährigen Doron ein ganz besonderer Tag. Statt weiterhin das Töpfchen darf er zum ersten Mal die große Toilette benutzen. Sein Vater Timon nimmt sich die Zeit, um all die aufgeregten Fragen zu beantworten. Denn im Jahr 2050 sind die Toiletten nicht mehr rein entsorgende Sanitäranlagen, sondern vielmehr kleine Labore, in denen jeweils mehrere chemische und physikalische Prozesse in Windeseile ablaufen. Neben Phosphor und Kalium wird auch eine Vielzahl von weiteren Elementen und Verbindungen zurückgewonnen. Timon erklärt seinem Sohn geduldig, wo und wie die Exkremente aufgefangen werden und dass sie nicht wie früher einfach in der Kanalisation verschwinden. Doron darf vor der Nutzung einmal die Schutzblende abnehmen und sich den Ort, an dem aus den Exkrementen Nährstoffe zurückgewonnen werden, ganz genau anschauen. Im Auffangbehälter befinden sich bereits einige Pellets von vorherigen Toilettengängen. Sie sind klein, dünn und länglich. So sehr Doron auch daran riecht, die Pellets haben nichts mehr mit dem Ausgangsprodukt zu tun, sind völlig trocken und geruchsfrei. Er wirkt fast etwas enttäuscht.
Im hiesigen Supermarkt ist Pjotrs Schicht fast beendet. Er wechselt gerade ein gefülltes Fass von der Pellet-Annahmestelle gegen ein neues aus, als Dorons Vater mit seinem Mehrwegbehälter ankommt. Er entlädt das Glas und die Pellets fallen prasselnd in das noch leere Fass. Ein Scanner erfasst die Menge und Zusammensetzung der Pellets, auf einem Display werden dann die genauen Details der Abgabe angezeigt und alles auf dem Familienkonto gutgeschrieben. Im Anschluss sucht Timon alle Lebensmittel, die sie benötigen, zusammen und lässt sich die enthaltenen Nährstoffe vom Familienkonto abziehen. Zusätzlich erfährt er auch bereits im Supermarkt, welche Nährstoffmenge aus diesem Einkauf zurückgegeben werden muss. Eine hohe Quote an zurückgeführten Nährstoffen ist notwendig, um eine ausreichende und ausgewogene Versorgung mit Nahrungsmitteln zu gewährleisten. Neben den Nährstoffkosten sind Nahrungsmittel mit keinerlei weiteren Ausgaben verbunden.
Noch am Abend desselben Tages startet Rahel den Antrieb ihres Kleinlasters und aktiviert die Routen-App auf ihrem Tablet. Nachdem sie die Supermärkte abgefahren hat, wird sie die Gewächshäuser ansteuern, die einen tagesaktuellen Bedarf an Nährstoffen angemeldet haben. Sie mag die Abwechslung ihrer Strecke, so gleicht nie ein Tag einem anderen. Meistens bleiben ein paar Fässer übrig – die landen am Schluss im Zentrallager des Bezirks. Da sich alles in ihrer Region abspielt, kennt sie alle Nahrungsmittelerzeuger mit Namen. Früher haben ihre Eltern noch einen Landwirtschaftsbetrieb unter freiem Himmel geführt. Den Transformationsprozess hin zu den geschlossenen Systemen unter Glas hat sie hautnah miterlebt. Sie war nicht die Einzige, die zunächst misstrauisch war, doch die anfängliche Skepsis wich schnell einer anhaltenden Euphorie und sie fing an, im Pellet-System mitzuarbeiten. Seit der Umstellung wird unter sehr hygienischen Bedingungen in den Gewächshausanlagen überwiegend Gemüse erzeugt, welches optimal mit Nährstoffen versorgt wird und so nicht nur durch hervorragende Qualität, sondern auch einen exzellenten Geschmack überzeugt. Das Ganze ist als nahezu geschlossener Kreislauf konzipiert; lediglich die Nährstoffe, die über die erzeugten Lebensmittel die Gewächshausanlage verlassen, müssen im Form von Pellets zurückgeführt werden. Entscheidend sind hierbei die erdbürtigen Nährstoffe, also jene Nährstoffe wie Phosphor und Kalium, aber auch die vielen anderen Spurennährstoffe, die aus dem bergmännischen Lagerstättenabbau oder von außerhalb des Planeten Erde stammen. Aufgrund der großen Knappheit dieser Elemente muss hier äußerst sparsam, effizient und in möglichst geschlossenen Kreisläufen gearbeitet werden. Bei einigen anderen Nährstoffen hat sich mit jahrelangem und gezieltem Züchtungsfortschritt die Situation vollständig entspannt. Mittlerweile sind dank moderner Züchtungsmethoden nahezu alle Nutzpflanzen in der Lage, sich mit Stickstoff und Kohlenstoff aus der Luft selbst versorgen zu können. Weiterhin stehen Elektroenergie und Wärme dank der hohen Wirkungsgrade bei der Erzeugung von Solarstrom nahezu unbegrenzt zur Verfügung, wodurch ganzjährig optimale Klimaverhältnisse in den Gewächshäusern geschaffen werden können.
Nachdem Rahel ihre Route beendet und die verteilten Mengen über die App bestätigt hat, erfolgt eine automatische Meldung der Tageszahlen an die Zentrale. Marleen, die amtierende Bürgermeisterin, prüft das System wöchentlich auf eine nachhaltige Nährstoffverwertung, eine optimale Lebensmittelerzeugung und die in ihrem Bezirk im Umlauf befindlichen Nährstoffe. Regelmäßig tauscht sie sich mit dem Amt für den Nährstoffkreislauf der Region und der Nachbarregionen aus. Besonders mittel- und langfristige Entwicklungen werden eingehend analysiert. Während kleinere Schwankungen und Verschiebungen von Nährstoffen sehr einfach aufgefangen werden können, sind größere überregionale Verschiebungen mit einem deutlich größeren und vor allem logistischen Aufwand verbunden.
Erfolgsentscheidender Faktor für das Nahrungsmittelversorgungsystem ist, dass die Knappheit der erdbürtigen Nährstoffe kalkulierbar bleibt und eine festgelegte Obergrenze nicht überschritten wird. Dazu ist es notwendig, dass alle Menschen ihren Teil beitragen. Besonders diesen Umstand hat Marleen genau im Blick, denn während bei der Einführung der obligatorischen Teilnahme am Pellet-System nahezu alle Probleme im Bereich der Ernährung beseitigt werden konnten, kommt bei einigen Selbstdarsteller*innen der Wunsch auf, sich als besonderes Statussymbol davon abkoppeln zu wollen. Das illegale Ausschleusen größerer Nährstoffmengen führt jedoch zu Problemen bei den Kalkulationen und damit zu langfristigen Risiken bei der Nahrungsmittelversorgung. Durch die fehlenden Nährstoffe müsste mehr abgebaut werden – eine Fehlentwicklung, die historisch schon einmal zu erheblichen Konflikten geführt hatte. Gerade geopolitische Interessen einiger Autokrat*innen hatten die Ressourcenabhängigkeiten der vorherigen Nahrungsmittelproduktionssysteme zu scharfen Waffen werden lassen. Zum Glück hatten viele Menschen damals die Konflikte satt und es entwickelte sich eine starke wissenschaftliche Motivation, die die Gesellschaft einte und zugleich veranlasste, gemeinsam das Pellet-System ins Leben zu rufen. Mit der Einführung dieses Systems wurden Nahrungsmittel von sämtlichen anderen Konsumgütern entkoppelt. Seither steht der Bevölkerung, wenn die korrekten Nährstoffmengen zurückgebracht werden, eine vielfältige und nahezu unbegrenzte Auswahl an Lebensmitteln zur Verfügung.
Mittlerweile ist Doron über zwei kleine Zusatzstufen auf die Toilette geklettert und versucht sein Glück. Nach einer Weile springt er erfolgreich und unter den Augen seines Vaters wieder von der Toilette, schließt den Deckel und lässt sich von seinem Vater zum Knopf hochheben. Mit unübersehbarem Stolz betätigt er diesen. Und ein nicht überhörbares, aber noch angenehmes, tiefes Surren ist für etwa 30 Sekunden zu vernehmen. Neugierig reißt er sofort im Anschluss den Auffangbehälter auf und meint, ein paar mehr Pellets darin zu sehen. Auch unter dem hochgeklappten Toilettendeckel ist schon jetzt durch die wasserlose Reinigung nichts mehr vom Toilettengang zu sehen. Von dem Behälter, in dem sich die unerwünschten Stoffe wie Medikamentenreste und Ähnliches befinden, weiß Doron noch nichts. Diese muss sein Vater auch nur etwa viermal im Jahr zur Sammelstelle bringen, während das zurückgewonnene Wasser trinkfertig aufbereitet wird und hausintern verwendet werden kann.
Fischer: „Aus der Vergangenheit gelernt” von Thomas Gäbert, gelesen von Sören Wunderlich.
Nächste Woche folgt die vierte und letzte Sendung unserer kleinen Reihe, dann geht es um die Zukunft des Lesens und Schreibens.