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Zukunftsvisionen
Leben ohne Wachstum

Alles muss wachsen, denn Wachstum steht in der westlichen Welt für Wohlstand und Absicherung. Die aktuellen Krisen der Finanzwelt stellen dieses Dogma immer wieder infrage. In seinem Buch "Sklaven des Wachstums" tut das der Chemiker und Demografieexperte Reiner Klingholz ebenfalls - mit einem Weltentwurf für das Jahr 2297.

Von Thomas Fromm |
    Eine Dax-Kurve
    Bisher dachten die meisten, das Wachstum müsste immer weitergehen. (dpa / Daniel Reinhardt)
    Es ist für Manager wichtig, dass sie bei der Präsentation ihrer Jahresbilanzen sagen können: "Wir wachsen". Autokonzerne, Pharmaunternehmen, Handyhersteller. Wer wächst, verkauft mehr als im Jahr zuvor, und meistens heißt das dann auch: Mehr Gewinn, der Aktienkurs steigt, die Jobs sind sicher.
    Es sind dann die Zahlen hinter den Zahlen, die einen oft ratlos zurück lassen. Zum Beispiel diese hier: Sieben Milliarden Mobiltelefone bei etwas über sieben Milliarden Menschen auf der Erde bedeutet: Den Produzenten von Handys und Smartphones muss es ziemlich gut gehen. Dass die durchschnittliche Lebensdauer eines solchen Geräts bei 18 Monaten liegt, dass Milliarden Handys jährlich als Schrott enden - wir nehmen es in Kauf.
    Natürlich gibt es ihn schon lange, diesen bösen Verdacht, dass es irgendwann aufhören könnte. Schon die Autoren des "Club of Rome", die 1972 ihren Bestseller "Die Grenzen des Wachstums" veröffentlichten, warnten vor der großen Illusion.
    Reiner Klingholz, Wissenschaftsjournalist und Leiter des Berlin-Instituts für Bevölkerung und Entwicklung, glaubt nun, seit einiger Zeit einen Gegentrend ausgemacht zu haben. Sinkende Wachstumsraten nicht zuletzt wegen der großen Finanz- und Eurokrise, sinkende Geburtenraten, sogar in China stockt das Turbowachstum – wir, die "Sklaven des Wachstums", stecken schon "mit einem Bein im Postwachstum". Postwachstum - das ist eine starke These, die es in der öffentlichen Debatte nicht leicht haben dürfte. Das weiß auch Klingholz.
    "Wer Wachstum infrage stellt, wird von den klassischen Ökonomen angeschaut, als käme er geradewegs von den Zeugen Jehovas. Fast scheint es, das Wachstum habe mittlerweile den Rang einer Religion erlangt und brauche schon deshalb nicht mehr infrage gestellt zu werden."
    Sein Weltentwurf sieht so aus: Im Jahre 2297 leben nur noch halb so viele Menschen auf der Erde wie im Jahre 2027. Städte beziehen ihre Energie zu 100 Prozent aus Solar- und Windkraftanlagen, Lebensmittel kommen aus der Nachbarschaft – es gibt keinen Müll mehr. Allerdings: Aus Grönland ist in der Zwischenzeit Grünland geworden, und wegen seiner günstigen geographischen Lage so etwas wie das Kalifornien des 23. Jahrhunderts. Grönländische Weine sind chic, ein ideales Anbaugebiet nach der großen Gletscherschmelze. Das trifft sich gut, denn die traditionellen Anbaugebiete des Bordeaux sind schon seit langem nicht mehr verfügbar.
    Man ahnt, worauf es hinausläuft: Vor die Utopie setzt der Autor das Grauen, denn der Weg in die bessere Welt ohne Wachstum verläuft über Atomkriege, Umweltzerstörung, Vernichtung. Sylt zum Beispiel: Im Jahre 2070 bricht die Nordseeinsel nach heftigen Herbsttürmen auseinander. Die friesischen Inseln und die Halligen verschwinden für immer in der Nordsee. Bangladesch – vom Meer in Stücke gerissen. Schon in einigen Jahrzehnten, prognostiziert der Autor, geht es in die andere Richtung. Die Innovationszyklen der Konsumgüterindustrie werden sich verlangsamen, schreibt Klingholz:
    "Vor allem vermindert sich der Konsum der älter werdenden Bevölkerung in den ehemaligen Entwicklungsländern. Der internationale Handel geht zurück und die Deglobalisierung schreitet voran."
    "Der Autor sieht zwei Handlungsmöglichkeiten"
    Die Botschaft an die Umweltbewegung: Man muss das Wachstum gar nicht stoppen – es hört von ganz alleine auf. Irgendwann, automatisch. Überall, in China, in Europa, den USA, im vergreisenden und wirtschaftlich seit Jahren dahin dümpelnden Japan sowieso. Bis dahin sieht der Autor zwei Handlungsmöglichkeiten:
    "Erstens: Am Wachstum festhalten, es aber so reformieren, dass die Negativfolgen ausbleiben, also mit grünen Mitteln und Techniken schwarze Zahlen schreiben. Dies ist die klassische Ingenieurslösung, die Rettung durch Effizienz. Und zweitens: Das Wirtschaftsgeschehen bewusst entschleunigen, bis hin zum Gegenteil von Wachstum – dem sogenannten De-Growth. Also weniger arbeiten, mehr Freizeit genießen, glücklich gärtnern statt shoppen, bis der Arzt kommt, Rügen statt Malediven, teilen statt besitzen, Grünkohl aus der Heimat statt Shrimps aus Vietnam. Dies wäre der Ausweg über die Suffizienz.
    Was Klingholz NICHT will: Das "Gleiche in Grün". Elektroautos und Energiewende sind ihm schon deshalb suspekt, weil es dabei ja – im Grunde – auch wieder nur um Wachstum geht. Und der andere Weg? Ist unpopulär und fühlt sich laut Klingholz an wie ein "kratziger Pullover". Selbst wenn es in Deutschland gelänge, umzusteuern – was ist mit den Milliarden von Menschen, die heute in Schwellenländern leben und keine Lust haben, gerade jetzt, wo es für sie interessant wird, einen kratzigen Wollpullover anzuziehen? Es wird wohl erst einmal auf einen Mix hinauslaufen; ein bisschen grüne Technologie, ein bisschen Gärtnern im Kratzpullover. Vor allem aber setzt Klingholz auf das, was er als "normative Kräfte" bezeichnet: Dass sich Wachstum selber abschafft. Nicht Revolutionen führten zum Ziel, sondern der "evolutionäre Weg der vielen kleinen Schritte". Die Vergangenheit gibt es dann nur noch im Museum zu sehen.
    Rückblick in den Müllmuseen
    "Zu den größten Attraktionen der Kreislaufstädte gehören Müllmuseen, in denen Berge von Elektroschrott aus dem 21. Jahrhundert ausgestellt werden, Atommüllcontainer, kontaminierte Böden oder Plastikteile aller Größen, Formen und Farben, wie sie früher an allen Stränden der Welt und in den Ozeanen zu finden waren. In den Museen können die Besucher virtuelle Reisen zu den Wohlstandsexzessen der Vergangenheit erleben: Sie brettern mit 230 Sachen über deutsche Autobahnen, vertilgen Riesensteaks in amerikanischen All-you-can-eat-Restaurants, shoppen mit Milliardären in St. Moritz, spielen als Scheichs in der klimatisierten, begrünten Wüste Golf oder hedgen und leveragen mit Londoner Investmentbankern."
    Die Exzesse der Gegenwart, in Zukunft dann auch museal aufbereitet – das ist dann fast schon wieder komisch. Man muss also kein Apokalyptiker sein, um "Sklaven des Wachstums" in die Hand zu nehmen. Klingholz hat ein gutes, ein packendes Buch geschrieben, und immer wieder gelingt es ihm, seinem Wissenschaftsmix aus Ökologie, Ökonomie und Demographie mit kuriosen, manchmal lakonischen Passagen den – nun ja – schalen Beigeschmack des Untergangs zu nehmen.
    Seine Thesen können wir kaum überprüfen – die Szenarien des Autors sind auf Jahrhunderte angelegt. Nur: Was machen wir bis dahin? Abwarten? Insofern kann man den jüngsten Bericht des Weltklimarats, der für Europa desaströse Hitzewellen und Überflutungen voraussieht, durchaus als Beleg für seine Thesen nehmen. Man kann es aber auch anders sehen: Überlassen wir nicht alles den normativen Kräften – Wachstum ist zurzeit noch eine Weltreligion, und solange das so ist, sollten wir es wenigstens: So grün wie möglich machen.
    Reiner Klingholz: "Sklaven des Wachstums. Die Geschichte einer Befreiung"
    Campus Verlag, 348 Seiten, 24,99 Euro.