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Zum 100. Geburtstag des Dichters Wolfgang Borchert
Rufer in der Trümmerwüste

Gott hat versagt und der Dichter klagt ihn an: "Draußen vor der Tür", uraufgeführt 1947, ist auch ein spirituelles Werk. Wolfgang Borchert erzählt darin die Geschichte eines Kriegsheimkehrers, der als körperliches und seelisches Wrack durch die Ruinen irrt. Die existenzielle Wucht wirkt heute noch.

Von Michael Reitz |
Wolfgang BORCHERT, (20.05.1921-20.11.1947), Deutscher Schriftsteller, Portrait undatiert, ca. 40er-Jahre
Wolfgang Borchert haderte in seiner Literatur stets mit Gott (dpa/Keystone)
Ein Mann kommt nach Deutschland. Er war lange weg, der Mann. Sehr lange. Vielleicht zu lange. Und er kommt ganz anders wieder, als er wegging. Einer von denen, die nach Hause kommen und die dann doch nicht nach Hause kommen, weil für sie kein Zuhause mehr da ist. Und ihr Zuhause ist dann draußen vor der Tür.
So beginnt eines der berühmtesten Hörspiele in deutscher Sprache, "Draußen vor der Tür", uraufgeführt im Nordwestdeutschen Rundfunk am 13. Februar 1947. Sein Autor ist Wolfgang Borchert.
Der am 20. Mai 1921 in Hamburg geborene Schriftsteller weiß, wovon er redet. Denn der Kriegsheimkehrer "draußen vor der Tür" mit Namen Beckmann ist zu einem guten Teil Borchert selbst. Ebenso wie sein Held hat er den Irrsinn des Zweiten Weltkriegs als Soldat an der Ostfront hautnah miterlebt. Er gehört zu jenen körperlichen und seelischen Wracks, die von den krankhaften Welteroberungsplänen der Nationalsozialisten erzeugt wurden.
Diese Generation junger Menschen hat das Vertrauen ins Leben verloren, wie die Schriftstellerin Frauke Volkland erläutert. Unter dem Titel "Dies kostbar kurze Leben" hat sie 2020 einen Roman über Wolfgang Borcherts letzten Lebensabschnitt in einem Basler Hospital geschrieben.
"Borchert ist mit diesem Stück zum Sprachrohr einer ganzen Generation geworden – seiner Generation. Und gerade diese jungen Menschen, die konnten sich mit diesem Beckmann, diesem Heimkehrer, identifizieren. Da war endlich jemand, der das aussprach, was sie erlebt haben."
Und nicht wenige stellen sich die Frage: Wie konnte Gott diese Katastrophe, das ungeheure Elend, den Völkermord an den Juden zulassen?

Gott als weinerliche Figur

Der Tübinger Theologe Karl-Josef Kuschel hat mehrere Bücher über das Verhältnis von Schriftstellern zu Spiritualität und Religion geschrieben. Er sagt:
"Borchert beschreibt nicht nur die Erfahrung des abwesenden Gottes, sondern, schlimmer noch, er beschreibt die Erfahrung des ohnmächtigen, des jämmerlichen, des weinenden Gottes, der in seiner Schwäche angesichts der brutalen Kriegserfahrung geradezu etwas Bedauerliches hat. Der tritt ja in Borcherts Stück als Figur sogar auf. Aber welch eine jämmerliche und weinerliche Figur!"
Oho, wer bist du denn? – Der Gott, an den keiner mehr glaubt. – Und warum weinst du? – Weil ich es nicht ändern kann. Sie erschießen sich. Sie hängen sich auf. Sie ermorden sich, heute hundert, morgen hunderttausend. Und ich, ich kann es nicht ändern.

"Die Gottesfrage bleibt offen"

Wolfgang Borchert stammt aus einem liberalen Elternhaus, das dem gebildeten Hamburger Mittelstand angehört. Sein Vater ist Lehrer, seine Mutter eine erfolgreiche Schriftstellerin. Für Nationalismus oder gar Nationalsozialismus ist in diesem Haus kein Platz. Und auch nicht für eine Religion. Wolfgang Borchert tritt als knapp Zwanzigjähriger aus der protestantischen Kirche aus.
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"Der Tod ist ein Meister aus Deutschland", schrieb er. Die Schoah prägt Celans Nachdenken über Gott. Er lästert ihn und sucht den "fernen Gott".
Der evangelische Pfarrer Georg Schwikart hat sich in mehreren Publikationen mit der jungen Nachkriegsliteratur auseinandergesetzt. Für ihn ist es wichtig festzuhalten:
"Er kann trennen zwischen Kirche, wo er sagt, da trete ich aus, zu dem Verein möchte ich nicht mehr gehören, aber die Gottesfrage bleibt offen. Das war wahrscheinlich 1947 nochmal anders als heute, auch wenn am Ende rauskommt, an den lieben Gott kann ich nicht mehr glauben. Aber die Frage hat er gestellt."

Die Nazis haben ein Auge auf ihn

Bereits als junger Mann startet Wolfgang Borchert vielversprechende Schreibversuche; erste Gedichte werden in Hamburger Blättern veröffentlicht. Doch sein heftigster Wunsch ist es, Schauspieler zu werden. Er nimmt Unterricht bei dem renommierten Hamburger Lehrer Helmuth Gmelin. Wolfgangs schulische Leistungen an der Oberrealschule sind allerdings katastrophal. Ohne Abschluss beginnt er als Siebzehnjähriger eine Buchhändlerlehre. Seinen schriftstellerischen Ambitionen folgt er weiterhin.
1940 kommt Wolfgang Borchert zum ersten Mal mit den Nationalsozialisten in Konflikt. Jemand hat ihn als homosexuell denunziert, in der damaligen Zeit ein Schwerverbrechen. Das Verfahren wird zwar eingestellt, aber von nun an haben die Nazis ein Auge auf ihn. Wolfgang Borchert bricht seine Buchhändlerlehre ab und beendet stattdessen seine Ausbildung zum Schauspieler. Er erhält im April 1941 ein Engagement in Lüneburg. Doch bereits nur zwei Monate später wird er zur Deutschen Wehrmacht eingezogen und erlebt den Überfall auf die Sowjetunion.

Jesus macht nicht mehr mit

In seiner nach dem Krieg veröffentlichten Erzählung "Jesus macht nicht mehr mit" geht es um einen Landser, der in tiefgefrorener russischer Erde Gräber für seine toten Kameraden ausmessen und anpassen soll. In beängstigend knappen Sätzen heißt es da:
Er lag unbequem in dem flachen Grab. Es war wie immer reichlich kurz geworden, so dass er die Knie krumm machen musste. Er fühlte die eisige Kälte im Rücken. Er fühlte sie wie einen kleinen Tod.
Doch eines Tages weigert sich der Soldat, wie Karl-Josef Kuschel erzählt:
"Er bekommt von seinem Vorgesetzten den Spottnamen Jesus. Warum? Weil er so sanft aussieht. Ich finde das tief ergreifend. Da ist die Figur eines Mannes, der gewissermaßen diese jesuanische Botschaft verkörpert, nämlich die Gewaltlosigkeit – aber Gewaltlosigkeit im Sinne der brutalsten Gewalt, der brutalstmöglichen Gewalt – und der einen kleinen Verweigerungsakt riskiert. Das Jesuanische sozusagen eingekapselt in einen kleinen Verweigerungsakt gegenüber dem Wahnsinn des Krieges."
Die Leiche eines deutschen Soldaten liegt bei Stalingrad im Schnee - Foto vom 01.02.1943
Die Schlacht um Stalingrad wurde für die Wehrmacht zur Katastrophe (Picture Alliance / Sputnik / S. Kulishev)
Es sind solche Momentaufnahmen des Grauens, die Wolfgang Borchert nach dem Krieg neben Heinrich Böll zu einem der Schriftsteller der sogenannten Trümmerliteratur werden lassen.
Trotz seiner erklärten Kirchenferne ist die Grundmelodie vieler Geschichten Borcherts von einer tiefen Spiritualität geprägt. In diesem Zusammenhang erzählt die Schriftstellerin Frauke Volkland von einem Interview mit ihm:
"Wo der Interviewer die Frage stellt, warum er es verheimliche, dass er ein religiöser Dichter sei. Und darauf antwortet er, dass er das überhaupt gar nicht verheimlichen würde. Er stünde dazu, er sei ein religiöser Dichter. Er hat gesagt, ich glaube an die Sonne, ich glaube an den Walfisch. Ich glaube an meine Mutter, und ich glaube an das Gras. Ist das nicht genug?"

Eine Blume als Geliebte

Als Wolfgang Borchert irgendwann von einem Patrouillengang mit einer Schusswunde an der Hand zurückkehrt, muss ihm ein Mittelfinger amputiert werden. Die Verletzung wird ihm als Selbstverstümmelung ausgelegt. Von einem Militärgericht wird er zunächst zu acht Monaten Gefängnis verurteilt, die dann zu sechs Wochen verschärftem Arrest umgewandelt werden. Wolfgang Borchert muss ins Nürnberger Militärgefängnis.
Die schreckliche Zeit dort verarbeitet er später in seiner Erzählung "Die Hundeblume." Dort heißt es:
Immer wenn unser Rundgang zu Ende ging, musste ich mich gewaltsam von ihr losreißen, und ich hätte meine tägliche Brotration dafür gegeben, sie zu besitzen. Die Sehnsucht, etwas Lebendiges in der Zelle zu haben, wurde so mächtig in mir, dass die Blume, die schüchterne kleine Hundeblume, für mich bald den Wert eines Menschen, einer heimlichen Geliebten bekam: Ich konnte nicht mehr ohne sie leben – da oben zwischen den toten Wänden!
Nach der Haft wird Wolfgang Borchert in die Nähe von Smolensk beordert. Es ist härtester Winter, und Borchert erleidet schwere Erfrierungen an beiden Füßen. Er wird in verschiedene Lazarette eingeliefert und erkrankt zusätzlich an Gelbsucht, die nachhaltig seine Leber schädigt.

"Das ist unser Wille, zu sein: Hamburg!"

Als er im Spätsommer 1943 auf Heimaturlaub kommt, findet er eine Katastrophe vor. Die Elbmetropole hat die "Operation Gomorrha" hinter sich, jene verheerenden Bombenangriffe der britischen Luftwaffe, die die Stadt binnen weniger Tage in Schutt und Asche legen. Ähnlich wie zur gleichen Zeit Heinrich Böll um sein zerstörtes Köln, trauert auch Wolfgang Borchert um Hamburg.
Hamburg! Das ist mehr als ein Haufen Steine, unaussprechlich viel mehr! Das ist unser Wille, zu sein: Hamburg!
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So heißt es in einem hymnischen Text Wolfgang Borcherts auf seine Heimatstadt. Als er zurück an die Front muss, hat er wegen seiner Gelbsucht immer noch hohes Fieber. Ein Kompaniechef erwähnt höheren Dienststellen gegenüber Borcherts schauspielerisches Talent und dass er in der Vergangenheit durch komödiantische Einlagen die Moral der Truppe gehoben habe. Daraufhin wird Borchert zum Fronttheater versetzt.
Doch am 30. November, dem Abend vor Beginn seiner Theaterkarriere, parodiert er in der Kaserne zur Gaudi seiner Kameraden Reichspropagandaminister Joseph Goebbels.
Volksgenossen und Volksgenossinnen, unsere Führung hat euch luftige und helle Wohnungen versprochen, wir haben unser Versprechen gehalten, die Wohnungen habt ihr jetzt; der deutsche Soldat wird kämpfen bis zur letzten Patrone, dann wird er das große Laufen kriegen.
Wolfgang Borchert wird denunziert, erneut verhaftet und in das Gefängnis Berlin-Moabit gebracht. Sechs Männer müssen sich dort eine Einzelzelle teilen, es gibt kaum Verpflegung und dem schwerkranken Wolfgang Borchert wird jede medizinische Hilfe verweigert.

"Er hat um sein Leben geschrieben"

Es ist bereits das dritte Mal, dass die Nazi-Justiz ihn ins Visier genommen hat. Sie verurteilt ihn jetzt zu neun Monaten Gefängnis. Danach wird er als "bedingt kriegsverwendungsfähig" eingestuft und kommt zurück in seine Ausbildungskaserne nach Jena.
Dort gerät er auch in amerikanische Kriegsgefangenschaft, kann aber fliehen. Der Schwerkranke schlägt sich zu Fuß 600 Kilometer nach Hamburg durch. Zwei Tage nach der Kapitulation, am 10. Mai 1945, erreicht der völlig erschöpfte Wolfgang Borchert sein Elternhaus.
Was nun kommt, kann man nur als einen Selbstreinigungsprozess mit den Mitteln der Literatur bezeichnen, so Frauke Volkland:
"Er hat in diesen beiden Lebensjahren um sein Leben geschrieben. Er lag in Hamburg in seinem Elternhaus ans Bett gefesselt und hat eine Kurzgeschichte nach der nächsten ausgespuckt, sozusagen. Seine Mutter hat sich das eigentlich überhaupt nicht anhören oder ansehen können, weil es von traumatischen Erlebnissen getränkt ist."
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Als die Nationalsozialisten in Deutschland an die Macht kamen, schrieb Mascha Kaleko: "Wir haben keinen Freund auf dieser Welt. Nur Gott." Später klagte sie Gott an.
Die Auswirkungen der Gelbsucht peinigen Wolfgang Borchert immer stärker, seine Kräfte schwinden. Hinzu kommt die katastrophale Versorgungslage im Nachkriegshamburg. Es gibt kaum Nahrungsmittel, nur wer sich auf dem Schwarzmarkt behaupten kann, überlebt.
Für Wolfgang Borchert wird das Schreiben zu einem Element vor allem des seelischen Überlebens. Dabei geht er hart ins Gericht mit der Vätergeneration:
"Er wirft der Vätergeneration vor, dass sie die junge Generation praktisch wieder in den Krieg geschickt hat. Die Studienräte, schreibt er, die Pastoren, die Väter, die haben anstatt zu warnen und zu sagen, wie es im Krieg gewesen ist, den sie ja selber erlebt haben, ihre Kinder, ihre jungen Männer wieder in den Krieg geschickt. Das ist das, was er ihnen vorwirft."

"Seine Geschichten halten die Erinnerung wach"

Wolfgang Borchert ist ein Künstler mit einem hochentwickelten Bewusstsein dafür, dass er zu einer Generation gehört, die gleichzeitig Opfer und Täter war. Gleichzeitig besitzt er eine außergewöhnliche Sensibilität für eine Stimmung, die bereits unmittelbar nach Kriegsende um sich greift und die der Theologe Karl-Josef Kuschel so umschreibt:
"Er kennt die Mentalität des Verdrängens, des Vergessens, des Verharmlosens, Schlussstrich, nicht mehr dran denken, denk an den Aufbau et cetera. Und seine Geschichten halten die Erinnerung wach an die Versehrten, die Opfer, die Traumatisierten, die Menschen, die kurz vor dem Untergang stehen, die gewissermaßen am Rande des Wassers existieren, in das sie sich am liebsten hineinstürzen würden, um alles zu vergessen."

Lakonie statt Kasernengebell

Wolfgang Borchert ist zudem mit einer Schwierigkeit konfrontiert, wie sie wohl selten vorkommt in der Literaturgeschichte. Denn zwölf Jahre bestand die offizielle deutsche Sprache aus einer Mischung zwischen militärischem Drohgebelle und schwülstiger, völkischer Begrifflichkeit. Wolfgang Borchert erfährt, so der Berliner Literaturwissenschaftler Ralf Schnell, "dass die Phrasendrescherei der Nationalsozialisten dazu geführt hat, dass am Ende bestimmte Wörter nicht mehr unbefangen benutzt werden konnten. Denken Sie an so etwas wie Blut, denken Sie an Boden, denken Sie an Mutter und dergleichen mehr. Also alles, das hat zur Entwertung der Sprache beigetragen, zur Entleerung von Begrifflichkeiten und Bedeutungen. Und dann in dieser Zeit Erfahrungen aus der Zeit aufzuarbeiten in einer anderen Sprache setzt ja voraus, dass man eine solche Sprache erst entwickeln musste."
Wolfgang Borchert ist dieser Zusammenhang bewusst. Er thematisiert den jahrelangen Missbrauch der Sprache durch die Nazis, indem er in seinen Texten bewusst lakonisch bleibt.
Oft wirken die kurzen Sätze wie die nüchternen Feststellungen eines Arztes oder die präzisen Hiebe eines Boxers. Es gibt kaum einen deutschsprachigen Schriftsteller, dessen Knappheit dermaßen unter die Haut geht wie die diagnostische Sprache Wolfgang Borcherts. Sein Text "Generation ohne Abschied" ist dafür ein eindringliches Beispiel:
Wir sind die Generation ohne Bindung und ohne Tiefe. Unsere Tiefe ist Abgrund. Wir sind die Generation ohne Glück, ohne Heimat und ohne Abschied. Unsere Sonne ist schmal, unsere Liebe grausam und unsere Jugend ist ohne Jugend.

"Nachts schlafen die Ratten doch"

Wolfgang Borchert verbringt die meiste Zeit im Bett, weil er zu schwach zum Aufstehen ist. Oder er sitzt in einem großen Sessel. Wenn er fieberfrei ist, greift er sofort zu Papier und Stift und beginnt zu schreiben.
Sein Vater tippt die Texte seines Sohnes dann auf der Schreibmaschine ab, bringt sie zu den diversen Hamburger Zeitungen, wo sie veröffentlicht werden. Bald nach dem Krieg startet der Verleger Ernst Rowohlt mit seinen sogenannten "Rotationsromanen", billige Taschenbücher in Zeitungsformat, die sich jeder leisten können soll. Hier werden auch Wolfgang Borcherts Erzählungen verlegt.
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Eine der bekanntesten hat den Titel "Nachts schlafen die Ratten doch." Es ist ein Gänsehaut-Text. Ein Junge sitzt im Keller eines zerbombten Hauses, in der Hand einen Knüppel. Ein Mann fragt ihn, was er dort in finsterster Nacht macht. Das Kind antwortet, dass er wegen der Ratten Wache hält:
Die essen doch von Toten. Von Menschen. Da leben sie doch von. Mein Bruder, der liegt nämlich da unten. Da. Jürgen zeigte mit dem Stock auf die zusammengesackten Mauern. Unser Haus kriegte eine Bombe. Er war viel kleiner als ich. Erst vier. Er muss hier ja noch sein. Der Mann sah von oben auf das Haargestrüpp. Aber dann sagte er plötzlich: Ja, hat euer Lehrer euch denn nicht gesagt, dass die Ratten nachts schlafen?
Es sind solche Passagen, die Wolfgang Borchert heute noch lesenswert machen. Denn die Rebellion gegen Unmenschlichkeit, Barbarei und die Gleichgültigkeit der Menschen angesichts des Elends in der Welt ist auch im 21. Jahrhundert dringend nötig.

"Zu guter Grammatik fehlt uns die Geduld"

Besonders deutlich wird das, so der Theologe Karl-Josef Kuschel, in Borcherts eindringlichem Appell an seine Schriftsteller-Kollegen. Er trägt den Titel "Das ist unser Manifest".
"Im Wissen darum, was man erlebt hat, und dass die Zeit aus den Fugen ist, und dass jede Harmoniesoße hinterher, kurz nach dem Kriege, einer Lüge gleichkommt, rebelliert dieser Mensch nicht nur gegen einzelne Personen, sondern gegen die Weltordnung, kann man sagen. Insofern sind auch viele dieser Erzählungen, obwohl sie keine religiöse Botschaft enthalten, aber gewissermaßen metaphysische Geschichten, weil sie gegen mehr protestieren als gegenüber sozialem Elend oder Einzelschicksalen, sondern gegen die Weltordnung, die eben aus den Fugen geraten ist."
Wolfgang Borchert schreibt in seinem nachgelassenen Manifest:
Wir brauchen keine Dichter mit guter Grammatik. Zu guter Grammatik fehlt uns die Geduld. Wir brauchen die mit dem heißen heiser geschluchzten Gefühl. Für Semikolons haben wir keine Zeit. Denn wir sind Neinsager. Denn wir sagen nicht nein aus Verzweiflung. Unser Nein ist Protest. Unser Manifest ist die Liebe.

"Draußen vor der Tür"

Im Januar 1947 erreicht das fieberhafte Schreiben Wolfgang Borcherts seinen Höhepunkt. Offenbar spürt er den nahenden Tod, denn er wird immer schwächer. Innerhalb weniger Tage vollendet er das ursprünglich ja für das Theater konzipierte Stück "Draußen vor der Tür".
Der Kriegsheimkehrer Beckmann trifft auf eine Umwelt, die bereits kurze Zeit nach der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs verdrängt hat, was da eigentlich geschehen ist. Beckmann will sich in der Elbe ertränken, doch die spuckt ihn wieder aus. Unter anderem deshalb, weil sich der Tod in den letzten sechs Jahren überfressen hat.
Wolfgang Borcherts Held Beckmann sondert sich von der Gesellschaft ab, er geht in die Isolation. Im Unterschied zu den meisten seiner Kameraden ist er kein Heimkehrer, der sich möglichst schnell wieder integrieren will. Damit steht er am Anfang einer jahrzehntelangen Aufarbeitungsdebatte des Krieges und der NS-Gräuel. Am Schluss von "Draußen vor der Tür" steigert sich der Anti-Held Beckmann in eine Anklage gegen Gott und die Menschen:
Wo ist denn der alte Mann, der sich Gott nennt? Gebt doch Antwort! Warum schweigt ihr denn? Warum? Gibt denn keiner Antwort? Gibt denn keiner, keiner Antwort?
Die Hörfunkausstrahlung von "Draußen vor der Tür" gerät zu einem Riesenerfolg, vor allem bei der jungen Generation. Die Theateraufführung erlebt der sterbenskranke Wolfgang Borchert jedoch nicht mehr. Am 20. November 1947, einen Tag vor der Premiere in Hamburg, stirbt Wolfgang Borchert.