Christiane Florin: Sophie Scholl war ein begeistertes Mitglied im Bund Deutscher Mädel, im BDM. Was hat Sie daran fasziniert?
Maren Gottschalk: Sophie Scholl ist da in die gleiche Falle getappt wie die meisten Jugendlichen in der Nazizeit. Erstmal waren ihre beiden großen Geschwister schon bei der Hitlerjugend. Sie wollte einfach das gleiche machen wie die große Schwester Inge, obwohl die Eltern total dagegen waren. Robert und Lina Scholl waren pazifistisch eingestellt, waren absolut gegen die Nazis. Und dann ist Sophie sozusagen der großen Schwester hinterhergelaufen.
Was ihr das bedeutet hat, denke ich: Sie konnte sich wirklich austoben. Sophie war sehr sportlich, ein Mensch, der seine eigene Kraft spüren wollte. Das konnte sie alles in der HJ. Sie konnte sich auch als Anführerin zeigen, verantwortlich zeigen für andere. Das waren die Dinge, mit denen man gerade die bürgerlichen Kinder und Jugendlichen gelockt hat.
Sie war sehr zackig und fanatisch als Anführerin, aber auch sehr romantisch. Sie hat bei Zeltlagern anderen nachts am Feuer vorgelesen oder Gitarre gespielt und dazu Heldenlieder gesungen. Insofern hat sie da schon so einen eigenen Akzent gesetzt in ihrer Jungmädelgruppe.
Einfluss der bündischen Jugend
Florin: War das austauschbar mit den Idealen der Bündischen Jugend, wenn es die noch gegeben hätte? Oder gab es spezifische NS-Ideale, die sie teilte?
Gottschalk: Die Frage ist, inwieweit ihr überhaupt klar war, dass die Hitlerjugend sozusagen der verlängerte Arm der Nationalsozialisten war, also inwieweit diese Ideologie der Nazis - Rassismus, Kriegsvorbereitung - für sie durchschaubar war, dass sie dazu gehörten zu diesem ganzen System.
Die Bündische Jugend hat auf jeden Fall andere Akzente gesetzt. Das war auch ein Konflikt, in den dann die Scholl-Geschwister reingeraten sind. Hans Scholl und sein Bruder haben die Ideale der bündischen Jugend noch ein bisschen gepflegt, also die Lieder der Bündischen Jugend, speziell der Gruppe "dj.1.11". Die Bündische Jugend hat andere Literatur gelesen, hat sich als intellektuell verstanden, das war eigentlich verpönt bei der Hitlerjugend. Die Mädchen der Scholls, die Schwestern, haben diese Lieder auch mitgesungen, haben sich sehr viel abgeguckt von dem, was Hans mitgebracht hat.
Als die Gestapo 1937 Inge und Werner Scholl verhaftet hat, und auch dann Hans, wegen bündischer Umtriebe, wie man sagte - weil das verboten war, bündische Rituale noch zu benutzen -, war das wohl auch einer der ersten Momente der Entfremdung zu diesem System für Sophie Scholl.
Elternhaus hat Geschwister Scholl geprägt
Florin: Sie haben vorhin die Eltern erwähnt. Die waren nicht begeistert davon, dass ihre Kinder so viel Zeit in der Hitlerjugend verbrachten. Wie war das Verhältnis zwischen Sophie Scholl und ihren Eltern?
Gottschalk: Es war ein sehr enges Verhältnis. Die Mutter Lina Scholl hat für die religiöse Unterweisung gesorgt. Sie war evangelisch und vor ihrer Hochzeit Diakonisse gewesen. Sie hatte sich sogar verpflichtet zur Ehelosigkeit und hat sich dann aber in Robert Scholl verliebt und alles über den Haufen geworfen. Sie war sehr religiös, hat die Kinder alle in diesem Glauben erzogen.
Robert Scholl war nicht religiös. Er war politisch sehr wach und gut informiert, war ein guter Diskussions- und Sparringspartner für die Kinder. Ein Vater, an dem man sich abarbeiten konnte, mit dem man wirklich kräftig diskutieren konnte.
In der Zeit dieser Begeisterung für die HJ, denke ich, war das Verhältnis schwieriger für alle Kinder, weil Robert Scholl sich das nicht immer kommentarlos angeguckt hat, was die da machen. Je mehr die Geschwister verstanden haben, dass sie da dem Falschen hinterhergelaufen sind und sich abgekehrt haben vom System der Nazis und auch der Hitlerjugend - auch wenn Sophie noch lange dabei geblieben ist als Mitglied, aber doch innerlich schon den Abschied genommen hatte –, desto enger schloss sich Sophie dann an den Vater an. Gerade Sophie und der Vater hatten ein sehr enges Verhältnis und haben sich viel in den Briefen darüber ausgetauscht, wie man die Kriegsereignisse interpretieren sollte.
"Die Ansprüche, die Sophie an sich stellt, sind sehr hoch"
Florin: Sie beschreiben sehr ausführlich die Jahre der Pubertät, die Zeit auch als junge Erwachsene, als junge Frau, das innere Ringen um das, was wichtig ist im Leben: eine komplizierte Liebesbeziehung, die Frage, was ist Liebe? Was war Sophie Scholl wichtig als Jugendliche und junge Erwachsene?
Gottschalk: Wir können das in ihren Tagebüchern ganz gut nachvollziehen. Sie fängt wieder 1937 an mit dem Tagebuchschreiben, und da ist sie so ein richtiger Backfisch. Also, da ist sie einfach unglücklich, fühlt sich allein, will sich austoben, weiß nicht, wohin mit sich, will aus Ulm raus, will immer weg und sich spüren, etwas Neues erleben.
Dann, auch durch die Beziehung mit Fritz (Hartnagel), entwickelt sie sich zu einer jungen Frau, die auf der einen Seite sehr lebenshungrig und sehr lebensbejahend ist, sehr fröhlich auch und vor allem die Natur sehr liebt, den Sport liebt, sehr gerne zeichnet, sehr genau andere Menschen studiert. Gleichzeitig hat sie aber einen sehr starken Hang zur Selbstkritik. Die Ansprüche, die Sophie an sich selbst stellt, sind sehr hoch. Wie jeder andere Mensch auch muss sie natürlich diese Momente aushalten, dass man den eigenen Ansprüchen nicht gerecht wird. Das macht sie manchmal zu einer sehr anstrengenden Partnerin für ihren Freund Fritz.
Ringen mit dem Glauben
Florin: Sie hat immer wieder mit der Gottesfrage gerungen. Sie hat die "Bekenntnisse" des heiligen Augustinus gelesen. Das ist für eine junge Frau eher ungewöhnlich. Was verstand sie unter Christentum?
Gottschalk: Das muss man auf zwei verschiedenen Ebenen sehen: Auf der einen Seite hatte sie ein ganz klares, christlich geprägtes Welt- und Menschenbild: Das Leben ist wertvoll, das Leben gilt es zu schützen. Daraus resultierte auch diese ganz klare Ablehnung des Krieges. Friedlich sollen die Menschen miteinander umgehen.
Daneben hat sie ihren persönlichen Glauben, dieses Gefühl, aufgehoben zu sein, Gott nahe zu sein. Das zu empfinden war für sie sehr schwer. Es ist ihr punktuell immer wieder gelungen und dann doch immer wieder über Phasen nicht. Sie hat mit dem Gedanken gespielt, sich der katholischen Kirche mehr zuzuwenden. Das kam dann auch sicherlich durch Otl Aicher und diese ganzen Bücher der katholischen Erneuerungsbewegung, die sie gelesen hat. Das faszinierte sie.
Daraus entstand auch ein politischer Anspruch, aus diesem Verständnis heraus sich gegen den Krieg zu wenden, gegen Gleichgültigkeit, gegen Opportunismus. Aber sie hat auch gemerkt, dass sie in dieser katholischen Kirche auch nicht so den Frieden fand, den sie gesucht hat. Also bis zuletzt blieb sie da eine Suchende.
Abscheu vor dem NS-System im Reichsarbeitsdienst
Florin: Wann kam die Distanzierung vom NS-Regime? Und wie wurde aus der Distanzierung, aus der Entfremdung, Widerstand?
Gottschalk: Die Distanzierung ist ein Prozess gewesen, der vielleicht eben mit der Verhaftung der Geschwister wegen bündischer Umtriebe begonnen hat. Sie hatte dann auch damit zu tun, dass die geistige Freiheit immer mehr eingeschränkt wurde durch die Nazis. Sie wurde ja von Anfang an eingeschränkt, aber sie hat es vielleicht erst mit der Zeit Stück für Stück mitgekriegt: Man durfte nicht mehr das lesen, was man lesen wollte. Die Kunst galt als entartet, die sie sehr liebte. Man konnte gar nicht mehr offen sprechen und dann sicherlich sehr wichtig: der Krieg.
Zu Beginn des Krieges ist sie eine so klare Gegnerin. Es gibt überhaupt keine Rechtfertigung für Krieg. Sie sagt diesen berühmten Satz: "Ich kann es nicht begreifen, dass heute Menschen andere Menschen immer in Gefahr bringen." Sie unterscheidet überhaupt nicht: Wer sind denn jetzt die unseren oder die anderen, die einen, die anderen? Sondern für sie bringen Menschen Menschen in Gefahr. Insofern ist das ein ganz wichtiger Punkt für ihre Ablehnung.
Aber da ist sie immer noch im BDM, sie tritt auch nicht aus. Ich glaube, weil sie das Abitur machen will. Da hätte sie wohl auch damit rechnen müssen, dass sie das nicht hätte machen können.
Für mich konzentriert sich dann im Reichsarbeitsdienst 1941 ganz stark noch mal diese Abscheu vor diesem System dadurch, dass man sie aus Ulm herausreißt und sie in dieses Lagerleben gezwungen wird, zunächst im Reichsarbeitsdienst, dann im Kriegshilfsdienst. In dieser Zeit lesen wir auch in ihren Tagebüchern und in ihren Briefen Formulierungen, die wir sonst nicht so von ihr kennen. Zum Beispiel so ein Satz wie: "Es kotzt mich alles an".
"Führer, wir danken dir!"
Florin: Da wurde aus der jungen Frau mit Selbstzweifeln die Unbeugsame?
Gottschalk: Ja, also zumindest ist das für mich wie so eine Zwangsjacke gewesen. Wie etwas, was sich um ihren Hals gelegt hat. Sie kam verändert heraus aus diesem Reichsarbeitsdienst. Ich glaube, sie kam mit dem Gefühl heraus: Ich bin jetzt auch bereit, mich zu engagieren.
Da kommen noch Dinge hinzu: Zum Beispiel, dass die Familie Scholl in dieser Zeit - wir wissen nicht ganz genau wann, aber wohl in dieser Zeit - erfahren hat von den Verbrechen der Wehrmacht, dass die Scholls erfahren haben vom T4-Programm, also den sogenannten "Euthanasieprogrammen", der Ermordung kranker und behinderter Menschen. Das hat, glaube ich, alles dazu geführt, immer mehr zu überlegen: Wie können wir denn überhaupt als christliche Menschen, als humanistisch eingestellte Menschen in diesem System uns verhalten?
Als dann die Predigten des Bischofs Graf von Galen bei den Scholls im Briefkasten landeten, beziehungsweise also von Hand abgeschriebene Texte bei ihnen im Briefkasten lagen, denke ich, könnte die Idee, Flugblätter zu machen, also Texte abzuschreiben, zu verbreiten, da könnte die Idee dagewesen sein: Das können wir auch machen.
Florin: Das sechste Flugblatt wird der "Weißen Rose" zum Verhängnis. Es beginnt mit den Sätzen "Kommilitoninnen! Kommilitonen! Erschüttert steht unser Volk vor dem Untergang der Männer von Stalingrad." Ein paar Zeilen weiter heißt es: "Führer, wir danken dir!" Das ist sarkastisch.
Gottschalk: Ja.
"Alle Register ziehen, um die Menschen aufzurütteln"
Florin: Noch etwas weiter steht der Satz: "Der Tag der Abrechnung ist gekommen." Wie deuten Sie dieses Dies Irae-Motiv, dieser kommende Tag des Zorns?
Gottschalk: Dieses Flugblatt wurde von Professor Kurt Huber geschrieben. Ich glaube, dass die "Weiße Rose"-Gruppe insgesamt mit diesen Flugblättern versucht hat, alle Register zu ziehen, um die Menschen aufzurütteln. Sie haben auf ganz verschiedenen Ebenen argumentiert in den Flugblättern, sowohl christlich als auch humanistisch. Sie haben mit Klassikern gearbeitet, sie haben mit religiösen Texten gearbeitet, und sie haben auch versucht, den Menschen klarzumachen: Wenn ihr jetzt nicht handelt, wenn ihr euch jetzt nicht entscheidet, dann wird über euch entschieden. Und dann wird es ganz schrecklich werden. Also, sie haben schon noch versucht, die Menschen dazu zu bringen, diese Bedrohung darin zu sehen, die im Schweigen, im Nichthandeln steckt.
Florin: Hans und Sophie Scholl wollten nicht sterben, sie wollten den Krieg überleben. Ihnen war klar, wie riskant es war, diese Flugblätter zu verteilen. Ist Sophie Scholl eine Märtyrerin für Sie?
Gottschalk: Nein, für mich ist sie keine Märtyrerin, weil sie ja nicht für ihren Glauben gestorben ist. Sie ist für ihre politische Haltung gestorben. Sie hat gewusst, dass das sehr gefährlich war, dass man da für sterben könnte, wenn man erwischt wird. Sie haben aber auch sich nicht geopfert, sondern sie haben versucht, den Widerstand so gut wie möglich zu machen. Sie haben ja eine ganze Menge Vorsichtsmaßnahmen getroffen. Die sind ja auch bis dahin nicht aufgeflogen.
Sie hatten sich auch an diesem Tag, an diesem 18. Februar 1943, eine gute Geschichte überlegt für den Fall, dass man sie eben doch erwischen würde. Sie haben nicht blauäugig einfach gesagt: Wir hauen jetzt einfach mal die Blätter da raus.
Insofern haben sie das schon ganz gut geplant, aber eben nicht perfekt geplant. Sie haben Fehler gemacht. Im Verhör kommt ganz klar bei Sophies Antworten heraus, dass es hier um die Politik geht, nicht um den Glauben.
Herzlose Vereinnahmung
Florin: Das Nachrichtenmagazin "Spiegel" hat in dieser Woche eine große Geschichte über Sophie Scholl veröffentlicht. Darin steht unter anderem, wer sie alles als Vorbild, als Heldin bezeichnet. Die Grünen-Spitzenkandidatin Annalena Baerbock zum Beispiel. Die Kapitänin Carola Rackete, die mit der Sea-Watch Flüchtlinge aus dem Mittelmeer gerettet hat, hat mal getwittert, Sophie Scholl wäre heute bei der Antifa.
Und die meisten von uns erinnern sich an "Jana aus Kassel", die auf einer "Querdenker"-Demo erklärt hat, sie fühle sich wie Sophie Scholl. Warum wird eine junge Frau, 21 Jahre alt, über die man gar nicht so viel weiß, wenn man nicht eine solche Expertin ist wie Sie, warum wird eine junge Frau zu einer solchen Projektionsfläche, auch so viele Jahrzehnte nach ihrer Hinrichtung?
Gottschalk: Man muss schon sagen, dass Sophie Scholl eine ganz besondere Qualität hatte, indem sie so klar im Angesicht des Todes auf ihrer Meinung beharrt hat. Man muss unterscheiden, ob jemand sagt: "Sie ist ein Vorbild. Ich finde es bewundernswert, ihre Werte teile ich, und die möchte ich gerne verteidigen." Oder ob jemand sagt, Sophie Scholl wäre heute bei dieser oder jener Gruppe. Das ist ein Unterschied.
Natürlich können wir sie uns als Vorbild nehmen. Ich denke auch, wenn wir sie gut finden, wenn wir sie verehren, wenn wir sie bewundern, dann sollten wir auch versuchen zu überlegen: Wo können wir denn diese Werte wirklich verteidigen? Aber was wir natürlich nicht machen dürfen, ist zu sagen: Sophie Scholl wäre heute Mitglied in dieser oder jener Gruppe. Das ist völlig unhistorisch und unangemessen. Und ich finde das auch herzlos.
Denn wir leben heute nicht in einer Diktatur. Wir können Sophie nicht in eine Gruppe stecken, die hier in einer freiheitlichen Demokratie arbeitet und sagen, das wäre jetzt ein vergleichbarer Kampf. Das finde ich auch herzlos, weil sie eben von einer Diktatur ermordet worden ist, die überhaupt keine Freiheit des Denkens und Freiheit der Meinung und der Meinungsäußerung zugelassen hat. Wir dürfen alle heute unsere Meinung äußern und insofern verbieten sich für mich diese diese Vergleiche.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.