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Zum 100. Todestag Max Webers
Der Jahrhundertsoziologe und die Politik

Welche Formen der politischen Herrschaft gibt es? Wie hängen religiöse Ethik und wirtschaftliches Handeln zusammen? Das Werk des Soziologen Max Weber ist auch hundert Jahre nach seinem Tod aktuell und relevant. Seine Theorien werden besonders dann aufgegriffen, wenn sich Gesellschaften in Umbrüchen befinden.

Von Norbert Seitz |
Porträt des Soziologen und Nationalökonomen Max Weber (1864 - 1920)
Rational-legale und charismatische Herrschaft - für Max Webers Typologie von Herrschaftsformen gibt es auch aktuelle Beispiele (imago / Leemage)
"Von Politik will er nichts hören. Sie ist zu unerfreulich. Das Fieber bleibt hoch, der Arzt erklärt das für besser als ein Auf und Ab."
Marianne Weber schildert den Krankheitsverlauf ihres Gatten Max, der an der Spanischen Grippe erkrankt war.
"Ach Kinder, lasst nur, es hilft ja doch nichts."
Max Weber schied am 14. Juni 1920 mit 56 Jahren in München-Schwabing aus dem Leben. Ein Pandemie-Opfer von fünfzig Millionen weltweit. Die Wissenschaftswelt hielt nach Webers plötzlichem Tod den Atem an. Und die junge Weimarer Republik, die gerade einen Aufstand von Militärs – den so genannten Kapp-Putsch - zu überstehen hatte, verlor die vielleicht wichtigste intellektuelle Autorität. Denn am Ende des Ersten Weltkriegs war Max Weber als ein Vordenker jener "Ideen von 1917" in Erscheinung getreten, wie sie auf der Burg Lauenstein im Thüringer Frankenwald diskutiert worden waren.
Schwarzweiß-Aufnahme um 1918: Frauen mit Mundschutz stehen mit Tragen neben Krankenwagen des Roten Kreuz in St. Louis.
Spanische Grippe - Schlimmer als Corona
Leere Straßen, leere Züge. Kneipen, Restaurants, Theater und Kinos – alles geschlossen. Im Herbst 1918 hält ein Virus Europa und die ganze Welt im Griff: Nach dem ersten Weltkrieg wütete die sogenannte Spanische Grippe.
Der Jenaer Verleger Eugen Diederichs hatte dort zu zwei Tagungen eingeladen, die sich angesichts der drohenden militärischen Niederlage des wilhelminischen Deutschland mit der sozialen, ökonomischen und politischen Neuordnung des Landes befassten. Unter den Gästen waren der Historiker Friedrich Meinecke und der 24jährige Jungdramatiker Ernst Toller. Dieser konnte zwar unter den anwesenden Geistestitanen keine "biblischen Propheten" entdecken, "die eine verirrte Welt mit mächtigem Wort richten und verdammen, die bereit wären, den Zorn der Könige und Tyrannen furchtlos zu ertragen"
Rationalisierung und Intellektualisierung der Welt
Gleichwohl machte Toller auf Burg Lauenstein eine imponierende Lichtgestalt aus, die den Kaiser immerhin offen attackierte und für eine Demokratisierung des Obrigkeitsstaates eintrat: Max Weber, der Soziologe aus Heidelberg, politisch eher ein moderater bürgerlicher Reformist. Was ihn damals antrieb, umreißt Professor Gangolf Hübinger, Weber-Experte von der Viadrina-Universität in Frankfurt-Oder.
"Er wollte analysieren, welche historischen Potenzen diesen enormen Wandel hin zu einer industriekapitalistischen Massengesellschaft befördern und wie sich diese Potenzen auf das Leben der Menschen auswirken. Und ausgemacht hat er hier einen doppelten Prozess: Rationalisierung und Intellektualisierung der Welt."
Das fügte Weber theoretisch zu einer Soziologie zusammen, die ihn zum Klassiker der Moderne seines damals noch jungen Fachs machen sollte. Er lehrte in Berlin und Freiburg, ehe er in Heidelberg das Fach wechselte – vom Juristen zum Nationalökonomen, aber voller Misstrauen gegenüber dem eigenen Berufsstand. Diesen hatte er in seiner Rede über "Wissenschaft als Beruf" ebenso aufs Korn genommen wie den angeblichen Hochmut geistiger Berufe überhaupt. Stattdessen plädierte er für eine nüchterne Betrachtung, sachliche Herangehensweise und möglichst objektive Urteile.
Als Weber Mitte 30 von der modischen Nervenkrankheit seiner Zeit, einer depressiven Neurasthenie, befallen wurde, musste er seinen Lehrstuhl in Heidelberg aufgeben. Gangolf Hübinger über die Symptome dieser Erkrankung:
"Dauernde Ermüdungen, übersteigerte Reizbarkeit, einen manchmal manischen Arbeitsstil. Dann wieder auch völliger Arbeitsabfall. Auf jeden Fall auf dem Höhepunkt der Krankheit hat sich Weber mit Selbstmordabsichten getragen."
Der Soziologe Max Weber
Max Weber - Das stahlharte Gehäuse des Kapitalismus
Der Soziologe Max Weber reist 1904 nach Amerika und studiert die protestantischen Sekten und ihren wirtschaftlichen Erfolg. Die Thesen seines Werks "Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus" sind noch immer aktuell.
Doch schon kurz darauf wartete Weber mit einer bahnbrechenden Schrift auf über den Zusammenhang zwischen religiösen Werten, Überzeugungen und wirtschaftlichem Handeln. Titel: "Die Protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus" aus dem Jahre 1904. Webers Hauptthese:
"Die Protestanten, genauer: die europäischen Puritaner wollten sich vergewissern, dass ihre Lebensführung gottgefällig ist. Sie können ihren Gnadenstand nur ablesen an ihrem irdischen Verhalten. Und das ist eine asketische Lebensweise, eine strikte Berufs- und Arbeitsdisziplin. Und das macht sie wohlhabend. Es ist eine Mentalität, die entweckt unternehmerischen Geist, aber auch eine Rastlosigkeit überhaupt, eine Reihe psychischer Dispositionen, die förderlich sind für den Kapitalismus. Da ist der Nukleus, förderlich für den Kapitalismus, so wie er sich im 17. und 18. Jahrhundert in Europa ausbildet, sich dann aber Schritt für Schritt aus den religiösen Traditionen verselbständigt."
Anschluss an die globalen Märkte, an die Moderne
"Webers Protestantische Ethik ist wirklich das Werk mit der größten Verbreitung und auch Aufmerksamkeit. Was die Faszination dieses Textes ausmacht, dass es darum geht, wie schaffen wir den Anschluss an die globalen Märkte, an die Moderne. Und da scheint Webers Protestantische Ethik so eine Art Richtlinie zu sein, ein Orientierungspunkt."
Erläutert Edith Hanke, an der Bayerischen Akademie der Wissenschaften Forscherin der Rezeptionsgeschichte von Webers Werk. Sie erinnert daran, wie die "Protestantische Ethik" im Kalten Krieg des 20. Jahrhunderts gleichsam zur Gegenbibel von Karl Marxens Betrachtung der "ursprünglichen Akkumulation des Kapitals" geworden sei. In der Sowjetunion kam damals das voluminöse Werk des Klassenfeindes unter Verschluss.
"Der Zugang war nur ausgewählten Intellektuellen, Akademikern gestattet, weil man das Potenzial Max Webers mit seiner freiheitlichen Wissenschaftstheorie und auch mit seinen Theorien zum Kapitalismus gefürchtet hat."
Schwarzweißaufnahme des deutschen Soziologen Max Weber, um 1917, mit grau meliertem Bart, im schwarzen Anzug
Max Weber, um 1917 (Archiv Gerstenberg / ullstein bild via Getty images)
Noch vor dem Ersten Weltkrieg entwarf Weber seine Herrschaftstypologie, bestehend aus drei Typen: Erstens: Die traditional-patriarchale Herrschaft der Kaiserzeit - ohne Zukunftsperspektive. Zweitens die legal-bürokratische Herrschaft, der heraufziehenden Demokratie am angemessensten. Und drittens das schillernde Gebilde einer charismatischen Herrschaft, die es nach Weber – vor allem in Notzeiten - immer wieder geben werde. Dazu Tilman Allert, der an der Frankfurter Goethe-Universität Soziologie und Sozialpsychologie lehrt:
"Bei der Weberschen Herrschaftsanalyse muss man eigentlich immer berücksichtigen – diese beiden Perspektiven, dass er Herrschaft immer rekonstruiert über einen Legitimationshorizont. Dies ist die eine Perspektive. Und die zweite Perspektive: Herrschaft ist immer verbunden mit einem Verwaltungsstab."
Zur Aktualität des zweiten Typs fällt dem Weber-Biografen Dirk Kaesler von der Unversität Marburg ein besonders prominentes Beispiel ein:
"Angela Merkel ist die geradezu Verkörperung dessen, was der Max Weber mit rational-legaler Herrschaft meinte. Es geht nicht um Heilsverkündigungen, es geht nicht um einen neuen Messias, sondern es geht um jemand, der dieses politische Geschäft mit all diesen Schwierigkeiten professionell gut und ruhig und sachlich beherrscht."
Bedürfnis nach einem charismatischen Herrscher in Notzeiten
Dagegen geriet die Kategorie des charismatischen Herrschers in einem plebiszitären Führerstaat häufig in die Kritik, Weber habe damit dem späteren Hitler das Feld intellektuell bereitet. Doch der frühe Bierkelleragitator war zu Lebzeiten Webers noch nicht in Erscheinung getreten.
"Max Weber selber hat das Bedürfnis nach einem charismatischen Herrscher speziell in Notzeiten verortet. Menschen haben das Gefühl, es gibt eine Krise, es kann auch Stillstand sein. Und dann wünschen sich viele Menschen, im Zweifelsfall sogar die Mehrheit, dass jemand komme, der sie aus dieser Notsituation herausführt."
Hierbei bezieht sich Weber auf das dem christlichen Abendland entlehnte Urmodell von Jesus Christus: 'Es steht geschrieben, ich aber sage euch'. Dirk Kaesler:
"Mit diesem Herrschaftsanspruch tritt hier eine Figur auf, die sagt: 'Interessiert mich überhaupt nicht, was bisher kodifiziert, tradiert, gemacht wurde, mit mir beginnt eine neue Zeit.' Und das ist auch ein klassisches Momentum von charismatischen Herrschaftsansprüchen. Gerade an Trump kann man das natürlich wunderbar wieder sehen."
Max Weber kehrte 1919 in den akademischen Betrieb an die Münchner Universität zurück und lehrte dort Nationalökonomie. Unmittelbar davor war der gefragte Wissenschaftler Mitglied der deutschen Delegation in Versailles bei den Friedensverhandlungen.
Die Sitzung vom 7. Mai 1919, in der der Vertragstext der deutschen Delegation zugestellt wurde. Der Versailler Vertrag war der wichtigste der Pariser Vorortverträge, die 1919/20 den 1. Weltkrieg beendeten. Der Versailler Vertrag wurde am 28.6.1919 im Versailler Schloß zwischen Deutschland und 27 alliierten und assoziierten Mächten unterzeichnet und trat am 20.1.1920 in Kraft. Ohne deutsche Beteiligung wurde ab dem 18.1.1919 in Paris der Text des Friedensvertrages zwischen Wilson, Lloyd George, Clemenceau und Orlando (Die "Großen Vier") ausgearbeitet. Am 7.5.1919 wurde der Text der Deutschen Delegation zugestellt
100 Jahre Versailler Vertrag - Ein Frieden ohne Versöhnung
Der Versailler Vertrag entschied über das Schicksal der Verlierer des Ersten Weltkriegs. Folgeverträge bestimmten die territoriale Neuordnung Europas. Doch mit dem geschlossenen Frieden entstanden neue Konflikte, die zum Teil bis heute nachwirken.
In der aufgewühlten bayerischen Metropole erlebte der radikale bürgerliche Ordnungsdenker das blutige Ende der Münchner Revolution und Räterepublik. Gangolf Hübinger:
"Weber bekämpft die bayerische Revolutionspolitik als unverantwortliche Literatenpolitik. Und hier hat er Landauer, Mühsam, Toller, Neurath vor Augen."
In dieser stürmischen Zeit, am 28. Januar 1919, hielt Weber seine Berühmtheit erlangende Rede über "Politik als Beruf" vor dem Freistudentischen Bund in München.
Er führt darin aus: Politik bedeute "starkes langsames Bohren von dicken Brettern ". Wer seine "Hand in die Speichen des Rads der Geschichte legen" wolle, müsse dabei über drei Eigenschaften verfügen : über "Leidenschaft" als Dienst an der Sache, "Verantwortungsgefühl" gegenüber den Herrschaftsunterworfenen sowie über "Augenmaß" als Beachtung von Maß und Mitte.
Das Monopol legitimer physischer Gewaltsamkeit
Außerdem definierte er zum ersten Mal den Staat als diejenige menschliche Gemeinschaft, die "das Monopol legitimer physischer Gewaltsamkeit" für sich beanspruchen dürfe – verkürzt ausgedrückt: das Gewaltmonopol.
Seine Politikbetrachtung gipfelte in der Gegenüberstellung von Gesinnungsethik und Verantwortungsethik, einem Kategorienpaar, das von da an in der je aktuellen Politik zu Rechtfertigungszwecken ausgeschlachtet wurde wie kaum ein anderes Denkmuster. Dazu Tilman Allert:
"Bei der Herrschaftstypologie haben wir es zu tun mit einer Gegenüberstellung von Gesinnungs- und Verantwortungsethik. Das kontrastiert Weber idealtypisch. Ganz einfach: die Einen übernehmen in ihr Handeln die Folgenreflexion, Verantwortungsethik. Und die Anderen sind indifferent gegenüber den möglichen Folgen ihres eigenen Tuns."
"Es sind keine absoluten Gegensätze, sondern dieses Kategorienpaar ist aufeinander bezogen. Man könnte sagen: Weber stellt einen antagonistischen Zusammenhang zwischen Verantwortungsethik und Gesinnungsethik her. Richtig ist, es kommt bei ihm alles auf die Verantwortung an, auf die Kalkulation von Folgen. Aber Verantwortung trägt ein Politiker nie ohne Gesinnungsstärke."
Der deutsche Schriftsteller Ernst Toller (1893-1928) bei einem Vortrag in New York, aufgenommen am 7.4.1938.
Vor 125 Jahren geboren - Ernst Toller, Revolutionär des Theaters
Er zog begeistert in den Ersten Weltkrieg – und kehrte als überzeugter Pazifist wieder: Ernst Toller. Der Dramatiker propagierte eine "Revolution der Liebe". Berühmt wurde er für seine Theaterstücke.
Bemerkt Gangolf Hübinger. Für Weber waren die Protagonisten der Münchner Revolution und Räterepublik anschauliche Protagonisten eines Gesinnungsethikers, wie er ihn in ,Politik als Beruf‘ beschrieben hat. Zum Beispiel Kurt Eisner, der Gründer des Freistaats Bayern, der in sein Werk als der Typ des charismatischen Politikers eingeht. Oder Ernst Toller, der Vorsitzende des Revolutionären Zentralrats. Gangolf Hübinger:
"Wir kennen den berühmten Weberschen Zornausbruch: ,Gott schuf in seinem größten Zorn Ernst Toller als Politiker‘. Das zielt ja darauf, dass Toller der politischen Verantwortung, die er übernommen hat, als quasi Minister in Bayern – dass er dieser Verantwortung nicht gewachsen war."
Nachdem sie sich 1917 auf der Burg Lauenstein zum ersten Mal als Professor und Student begegnet waren, trafen sich Weber und Toller zwei Jahre später im Juli 1919 vor dem Münchner Standgericht wieder - nach der gewaltsamen Niederschlagung der kurzlebigen Räterepublik. Toller auf der Anklagebank und Weber im Zeugenstand.
Obwohl der Jungdramatiker für Weber zu dem von ihm so verachteten Münchner, wie er es ausdrückte, "Literatengesindel" gehörte, konnte er "starke menschliche Sympathien" für den gestürzten Revolutionär nicht verhehlen. Er unterschied zwischen der aus seiner Sicht unheilvollen politischen Rolle des Gesinnungsethikers und seiner persönlichen Lauterkeit. Gut möglich, wie oft behauptet wird, dass Max Weber mit seinem Zeugenauftritt Ernst Toller vor einem Todesurteil bewahrte. Er kam mit fünf Jahren Festungshaft davon.
Ein Goethe der Sozialwissenschaften
Doch auch Weber wusste, dass eine konkrete reale Herrschaft niemals nur verantwortungsethisch oder nur gesinnungsethisch sein kann. Dieser von ihm idealtypisch kontrastierte Gegensatz steht in einem je unterschiedlichen Mischungsverhältnis. Tilman Allert verdeutlicht dies am Beispiel der Kanzlerdemokratie in der Bundesrepublik.
"Die sogenannte Kanzlerdemokratie ist ein Mischungsverhältnis, in dem das politische Tagesgeschäft, das klein gearbeitet wird über die verschiedenen Institutionen einer parlamentarischen Demokratie, das wird jetzt kombiniert mit Elementen des Gesinnungsethischen oder – eine andere Formulierung von Weber – Elementen des Charismatischen."
Das Mischungsverhältnis kann jedoch nicht als eine gelingende Kombination angesehen werden, weil es mit einem latenten Dauerproblem behaftet ist, gesinnungsethische oder charismatische Elemente auf die Position des Bundespräsidenten zu übertragen:
"Die Position des Kanzlers ist in der Verführung, - dieser Verführung ist Schmidt streckenweise erlegen -, die Legitimationsideen vollkommen außen vor zu lassen, in der Gewissheit, die Verantwortungsethik reicht für das politische Handeln. Und umgekehrt ist die Position des Präsidenten in der notorischen Verführung, nur Sonntagsreden zu halten, oder sozusagen ein Sekretär der guten Werte oder der guten Ideen zu sein und dabei die Vermittlung in das politische Tagesgeschäft vollkommen außer Acht zu lassen."
Bis zum heutigen Tag wird der weltweit rezipierte Max Weber in der aktiven Politik und im politischen Feuilleton als Steinbruch benutzt.
"Weber ist immer für Kalendersprüche geeignet. Er ist ein Goethe der Sozialwissenschaften geworden und ein Schlagwortgeber in der politischen Rhetorik."
Helmut Schmidt benutzte Weber mit Vorliebe als seinen geistigen "Hausapotheker" in der Auseinandersetzung mit innerparteilichen Widersachern wie Erhard Eppler und dessen Kritik an der Atomkraft und der Nato-Nachrüstung.
Andere altgediente Politiker jedoch stehen dem Kategorienpaar Gesinnungsethik versus Verantwortungsethik eher distanziert gegenüber, zum Beispiel der Liberale Gerhart Baum oder der Sozialdemokrat Wolfgang Thierse:
"Also die Trennung, dass die einen die Gutmenschen seien, die die Welt verbessern wollen, und die anderen also nur an der Realität sich abarbeiten, das ist absolut falsch. Diese Haltungen müssen zusammen sein, müssen zusammengeführt werden."

"Hilfreicher finde ich Unterscheidungen zwischen Dogmatismus in der Politik und Pragmatismus. Nach dem furchtbaren Scheitern einer großen Systemutopie namens Kommunismus scheint mir das also auch überzeugender zu sein. Das ist aber nicht Gesinnungsethik versus Verantwortungsethik. Sondern das ist der Versuch, dem notwendigen Pragmatismus von Politik eine Richtung zu geben, die Menschen nachvollziehen können."
Schwarz-weiß Foto des Soziologen Max Weber in Lauenstein / im Jahr 1917.
Max Weber in Lauenstein (picture-alliance / akg-images)
Derweil schwört Christdemokrat Wolfgang Schäuble heute noch auf Max Webers Grundsatz aller verantwortlichen Politik vom "starken langsamen Bohren von harten Brettern".
"Wir wissen heute, in welche totalitären Abgründe es führt, wenn Gesinnung machbar werden soll. Um jeden Preis. Auch in dieser Hinsicht hat Max Weber nichts an Aktualität eingebüßt."
"Er wollte als Wissenschaftler auch Politiker sein"
Vom Problem einer schwierigen Trennung - wie der zwischen Gesinnungs- und Verantwortungsethik - war auch Max Weber betroffen. Ihm machte eine andere Art von problematischer Grenzgängerschaft zu schaffen, der zwischen den Sphären Wissenschaft und Politik. Dazu der Frankfurter Soziologe Tilman Allert:
"Weber ist jemand, der wissenschaftlich argumentiert, als wäre er ein Politiker. Das gehört zur notorischen Schwäche der Weberschen Position, wenn er öffentlich auftritt. Man kann auch sagen: Weber hat ein Leben lang darunter gelitten, dass er eigentlich beides sein wollte. Er wollte als Wissenschaftler auch Politiker sein und umgekehrt. Das gehört zum Faszinosum seiner Geschichte."
Max Webers Werk hat seit den zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts - mit gewissen Konjunkturen - an Aufmerksamkeit wenig eingebüßt, vor allem nach tiefgreifenden politischen Umbrüchen wie dem Fall des Eisernen Vorhangs vor dreißig Jahren oder der "Arabellion" vor zehn Jahren war er sehr gefragt. Wie die Rezeptionsforscherin Edith Hanke betont:
"Immer dann, wenn das eingetreten ist, dass also so eine sehr tradionalistisch funktionierende Gesellschaft sich aufgemacht und den Sprung versucht hat, in der Moderne anzukommen, ist die Rezeption Max Webers auch immer angesprungen."