"Ich bin wirklich immer noch sehr beeindruckt von der geistigen Frische und der Verfassung von Gretel Bergmann", sagt Dagmar Freitag, die Vorsitzende des Bundestags-Sportausschusses und SPD-Abgeordnete. Freitag hat Gretel Bergmann in New York zu ihrem 103. Geburtstag besucht: "Es war ihr deutlich anzusehen, wie sehr sie sich über den Besuch aus Deutschland gefreut hat. Dem Land, das ihr so viel Unrecht und Leid zugefügt hat und heute aber ihr, der jüdischen Sportlerin, zum Geburtstag gratuliert."
Knapp 80 Jahre ist es her. Die Hochspringerin Gretel Bergmann aus Laupheim in Oberschwaben ist eine der großen Hoffnungen für die Olympischen Spiele 1936. Sie gehört zu den besten Athletinnen ihrer Zeit, schon mit 17 Jahren wird sie süddeutsche Hochsprung-Meisterin. Im April 1933 kündigt ihr ihr Leichtathletik-Verein die Mitgliedschaft, für den sie zuvor zehn Jahre lang gekämpft hatte – die regierenden Nationalsozialisten wollen sie vom Sport ausschließen. Daraufhin verlässt sie Deutschland und wandert nach England aus – von heute auf morgen wird sie ihres sozialen Umfelds beraubt.
"Erinnerung an Bergmann bekommt heute wieder Aktualität"
Die Nationalsozialisten missbrauchten die Olympischen Spiele 1936 in Berlin als propagandistisches Schauspiel. Um einen Boykott der USA und anderer Länder zu verhindern, zwangen die Funktionäre die jüdische Sportlerin Gretel Bergmann dazu, als Alibi-Jüdin im deutschen Olympia-Aufgebot mitzutrainieren. Der Schein eines weltoffenen Deutschlands sollte gewahrt werden, keiner sollte mitbekommen, das Juden bereits seit 1933 fast gänzlich von der Gesellschaft ausgeschlossen waren. Im Juni 1936 stellte Gretel Bergmann mit 1,60 Meter den deutschen Rekord im Hochsprung ein – sie war in herausragender Form. Trotzdem verwehrten ihr die Nazis die Teilnahme an den Berliner Spielen, luden sie per Post wegen schlechter Leistungen aus, als der drohende Boykott ausgeschlossen werden konnte. Offiziell wurde aber eine Erkrankung der Athletin vorgegeben.
"Die Erinnerung an Gretel Bergmann bekommt natürlich wieder Aktualität, wenn wir bedenken, dass auch heute wieder Minderheiten aufgrund ihres Glaubens verfolgt werden", sagt Dagmar Freitag. Sie empfindet es als wichtig, sich die nationalsozialistische Vergangenheit immer wieder vor Augen zu führen: "Ich glaube gerade diese Geschichte kann jüngeren Menschen heute deutlich machen, was es einfach bedeutet, wenn in einem Land die Falschen das Sagen haben."
"Sie hat mit dem heutigen Deutschland ihren Frieden gemacht"
Nach dem Ausschluss von Olympia wollte Gretel Bergmann Deutschland verlassen – 1937 emigrierte sie in die USA. Dort heiratete sie 1939 Bruno Lambert, den sie aus dem Olympia-Trainingslager kannte: ein erfolgreicher, jüdischer 100-Meter-Läufer. Auch er musste seinen Verein verlassen – denn auch er war unerwünscht. Fast seine ganze Familie wurde von den Nazis im Konzentrationslager ermordet. Seitdem lebt Bergmann unter dem Namen Margret Lambert in New York. Mit Deutschland wollten beide lange nichts zu tun haben. "Ich habe Deutschland, die Menschen und sogar die Sprache dafür gehasst, was es mir und den jüdischen Menschen angetan hat", hatte Gretel Bergmann über Jahrzehnte immer wieder betont. Ihr Mann Bruno Lambert starb im November 2013.
Eigentlich hatte Bergmann auch immer gesagt, dass sie nie in ihre Heimat zurückkehren würde. 1999 kam sie trotzdem nach Deutschland und nahm den Preis "Der stillen Sieger" entgegen. Der deutsche Leichtathletik-Verband erkannte erst 2009 ihren Rekord von 1936 offiziell an, 2012 wurde die Hochspringerin in die Hall of Fame des deutschen Sports aufgenommen. "Sie hat deutlich gemacht, dass sie mit dem heutigen Deutschland ihren Frieden gemacht hat", sagt Dagmar Freitag. Im vergangenen Jahr hatte Bergmann zu ihrem 102. Geburtstag noch gesagt: "Mir geht es recht gut. Meine Beine wollen nicht mehr so, aber ich bin okay." Heute ist sie stolze 103 Jahre alt geworden und fügt hinzu: "Ich fühle mich großartig – und ich tue alles dafür, dass das so bleibt!"