Beschäftigt sich Philosophie mit einem Aprikosen-Cocktail? Gibt sie sich dann dem Rausch hin, der es ja mit der Wahrheit nicht immer ganz genau nimmt? Simone de Beauvoir berichtet in ihren Memoiren von einer Begegnung mit dem damaligen Studienkollegen Raymond Aron aus dem Jahr 1930:
"Wir verbrachten gemeinsam einen Abend im 'Bec de Gaz' in der Rue Montparnasse. Wir bestellten die Spezialität des Hauses: Aprikosen-Cocktail. Aron wies auf sein Glas: 'Siehst du, mon petit camarade, wenn du Phänomenologe bist, kannst du über diesen Cocktail reden, und es ist Philosophie!' Sartre erbleichte vor Erregung; das war genau, was er sich seit Jahren wünschte: man redet über den nächstbesten Gegenstand, und es ist Philosophie."
Zwar hatte sich das Wort Phänomenologie seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert durchaus eingebürgert. Doch erst Edmund Husserl entwickelt unter dieser Bezeichnung eine Philosophie, die eine eminente Wirkung nicht nur innerhalb des Fachs, sondern auch auf andere Wissenschaften entfalten soll und zwar just ob des Aprikosen-Cocktails, genauer ob ihres Anspruchs, dass die unbedeutendsten Dinge in der Welt Gegenstand der Erkenntnis werden könnten. So lautet Husserls programmatisches Schlagwort:
"Zu den Sachen selbst!" anstatt bei "bloßen Worten stehen zu bleiben".
In der Tat lässt Husserl seine Studenten Tintenfässer oder Streichholzschachteln beschreiben, hält ein Mitarbeiter ein Seminar über einen Briefkasten. Und wenn einer seiner Studenten über die großen Ideen schwadronierte, dann verlangte Husserl von ihm:
"Geben Sie Kleingeld."
Eher klein hat Edmund Husserl auch angefangen. Er besteht das Abitur nur mit größter Anstrengung als Schlechtester seines Jahrgangs am Gymnasium im mährischen Olmütz und studiert ab 1876 Mathematik und Naturwissenschaften in Leipzig, Berlin und Wien. Später nähert er sich unter dem Einfluss von Franz Brentano zunehmend der Philosophie. Brentano fragt, wie sich die innere Wahrnehmung konkret beschreiben lässt und begründet derart die Psychologie als Erfahrungswissenschaft. Die Münchner Philosophin Verena Mayer bemerkt:
"Brentano verfügte 'wie ein Vater', dass Husserl bei Carl Stumpf in Halle habilitieren sollte. Obwohl er bis zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht philosophisch gearbeitet hat, nimmt Husserl nach einigem Sträuben die Herausforderung an."
Die erste Fassung seiner Phänomenologie entwickelt Husserl in seinem frühen, aber eminent einflussreichen Hauptwerk den Logischen Untersuchungen. Wenn man zu den Sachen selbst will, dann darf man nicht allein den Blick auf den Aprikosen-Cocktail richten, sondern auch auf den Menschen, auf sein Bewusstsein, das sich vom Cocktail faszinieren lässt. Im Bewusstsein erlebt der Mensch aber nicht nur die äußeren Eindrücke, sondern auch das eigene Denken, zu dem die Logik gehört, die von äußeren Erfahrungen unabhängig ist, diese aber offenbar in einen vernünftigen Zusammenhang zu bringen vermag. Husserl sucht nach einem Mittelweg zwischen Materialismus und Idealismus, will er wie der Materialismus zum konkreten Gegenstand und zugleich doch nicht die Bedingungen übersehen, wie das Bewusstsein den Gegenstand wahrnimmt, also auch die idealistische beziehungsweise subjektive Perspektive berücksichtigen. Verena Mayer, die in ihrem Buch über Husserl in dessen Entwicklungsgang und Grundideen einführt, bemerkt:
"Zwar hatten frühere Denker, vor allem Descartes, Kant und Hume, bereits ähnliche Fragen gestellt und waren auch streckenweise vergleichbare Wege zur ihrer Beantwortung gegangen. Keiner aber war konsequent bei den Phänomenen geblieben und hatte ihre Ursprünge durch vorurteilsfreie, unbeteiligte Beobachtung bis in die letzten aufweisbaren Details verfolgt."
Wie aber begegnet der Aprikosen-Cocktail dem Bewusstsein? Indem es sich von Cocktail anziehen lässt und sich auf ihn ausrichtet. Das nennt Husserl Intentionalität, die zum vielleicht berühmtesten Leitbegriff der Phänomenologie avanciert. Im von Verena Mayer herausgegebenen Kommentar-Band zu den Logischen Untersuchungen erläutert der dänische Philosoph Dan Zahavi diesen Begriff folgendermaßen:
"Intentionalität hat zu tun mit der Gerichtetheit von Bewusstsein, das heißt mit der Tatsache, dass, wenn man wahrnimmt oder urteilt oder fühlt oder denkt, man einen mentalen Zustand über oder von etwas hat."
Intentional begegnet das Subjekt dem Aprikosen-Cocktail, und damit den Gegenständen, will Husserl damit die Trennung zwischen Subjekt und Objekt aufheben und doch zugleich ein solides logisches Fundament und eine klare Struktur beibehalten. Der im Akademie-Verlag erschienene Kommentar-Band zu Husserls Logischen Untersuchungen aus der Reihe Klassiker-Auslegen enthält Interpretationen aus verschiedenen Blickwinkeln, was ihn sehr spannend macht, aber leider nur für den Fachphilosophen, genauer für den Husserlianer. Dagegen führt Verena Mayers Buch im C.H. Beck Verlag in Husserls Werk und Leben verständlicher ein, allerdings auch nicht unbedingt für den Laien.
Mitte des ersten Jahrzehnts des 20. Jahrhunderts verändert Husserl sein Konzept. Sein zweites Hauptwerk Ideen zu einer reinen Phänomenologie erscheint 1913. Dazu bemerkt Verena Mayer:
"In den 'Ideen zu einer reinen Phänomenologie' füllt Husserl das reine Ich mehr und mehr mit 'Inhalten'. Von einem bloßen Feld des Bewusstseins wird es dabei zu einem personalen Subjekt mit Habitualitäten, Perspektiven, Gefühlen und Wünschen und einem 'absoluten Grund'. Diese Stärkung des Subjekts und der scheinbar damit verbundene Idealismus tragen wesentlich zur Abkehr der Schüler bei."
Husserl richtet den Blick noch konzentrierter nach Innen auf die logischen Bedingungen der Erkenntnis von Gegenständen, während der Aprikosen-Cocktail selbst in den Hintergrund seines Interesses rückt. Sein neues Konzept einer transzendentalen Phänomenologie führt indes dazu, dass sich viele Schüler von ihm abwenden, die mit der Phänomenologie gerade ihre jeweiligen wissenschaftlichen Gegenstände erfassen wollen, sich aber weniger dafür interessieren, wie die innerliche Subjektivität mittels Logik der Welt überhaupt erst einen Horizont eröffnet.
1916 wechselt Husserl an die Universität Freiburg. Die Schrecken des Krieges hinterlassen in der sowieso schon zur Depression neigenden Persönlichkeit Husserls tiefe Spuren. Verena Mayer schreibt dazu:
"In den Kriegsjahren ist Husserls Schaffenskraft weitgehend gelähmt. Seine beiden Söhne Gerhart und Wolfgang ziehen ebenso wie viele Studenten und jüngere Kollegen in den Krieg. Der 'Ausbruch des Welthasses', die 'Sintflut der Verleumdung und all die Orgien der kriegerischen Entmenschung' drücken Husserl nieder (...). Er hält zwar Vorlesungen und Seminare, muss sich aber schließlich in einem Sanatorium behandeln lassen."
Wolfgang Husserl stirbt mit 21 Jahren an der Front, ebenfalls viele von Husserls Studenten. Gerhart wird verwundet. Im Alter von 27 war Edmund Husserl vom Judentum zum Protestantismus übergetreten, und zwar aus religiöser Überzeugung. Jetzt interessiert er sich um so stärker wieder für religiöse Fragen.
In diese Zeit fällt auch seine Begegnung mit Heidegger, der einige Jahre sein Assistent wird und 1928 in Freiburg sein Nachfolger, was aber vor dem Hintergrund von Heideggers Engagement für den Nationalsozialismus zum persönlichen Bruch zwischen beiden führt.
Nach seiner Emeritierung beginnt seine letzte Schaffensphase, in der sein Spätwerk entsteht: "Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie". Husserl kritisiert, dass die modernen Wissenschaften mit ihrem Anspruch, die Welt objektiv berechenbar zu erfassen, die Fragen der Menschen nach dem Sinn des Lebens nicht mehr beantworten. Daher fordert er die Wissenschaften auf, sich darauf zu besinnen, dass sie ihre Entstehung der menschlichen Lebenswelt verdanken - der zentrale Begriff in der husserlschen Spätphilosophie, den Verena Mayer folgendermaßen erläutert:
"Die Lebenswelt ist die vortheoretische und unhinterfragte Welt der natürlichen Einstellung, 'die Welt, in der wir leben, denken, wirken, schaffen'."
Die transzendentale Phänomenologie möchte die Entfremdung zwischen den Menschen und den Wissenschaften vermindern.
Diese Gedanken entwickelt Husserl vor dem Hintergrund des Erstarkens und später der Herrschaft der Nazis. Bereits 1933 versuchen ihn die Behörden von der Universität zu entfernen. Aufgrund seiner internationalen Reputation gelingt das erst im Januar 1936. Von da an verhindert das Ministerium auch Auslandsreisen zu internationalen Tagungen. 1937 müssen die Husserls in Freiburg umziehen, weil Nachbarn antijüdische Hetze verbreiten. Von einem schweren Sturz im August desselben Jahres, just am Tag seiner goldenen Hochzeit, erholt er sich nicht mehr und stirbt am 27. April 1938. Sein Nachlass wird vor den Nazis zunächst nach Löwen gerettet, wo heute noch das Husserl-Archiv arbeitet. Nach dem Einmarsch der Nazi-Deutschen in Belgien muss es ein zweites Mal in Sicherheit gebracht werden und entgeht dabei nur knapp einem Bombenangriff.
Was ist von Husserl geblieben? Wie hat er gewirkt? Dazu stellt Verena Mayer etwas frustriert fest:
"Insgesamt gesehen sind die Versuche der europäischen Philosophie, Husserls Projekt in seinem Sinne weiterzuführen, spärlich geblieben. (...) Husserl fordert (...), dass wissenschaftlichen Untersuchungen, gleich welcher Art, eine systematische phänomenologische 'Begriffsbestimmung' vorherzugehen habe. So fruchtbar die Aufnahme Husserls in der europäischen Philosophie in vieler Hinsicht war: im Sinne der wissenschaftlichen Phänomenologie ist hier wenig geschehen."
Aber welcher Denker wird von seinen Schülern einfach fortgeschrieben? Solche Nachfahren erregen gemeinhin kaum Aufmerksamkeit. Die Zahl der renommierten Philosophen und Wissenschaftler dagegen, die sich im 20. Jahrhundert und heute noch auf Husserl berufen, ist eminent, so dass man ihn durchaus als den einflussreichsten Philosophen des 20. Jahrhunderts bezeichnen könnte.
Vorgestellt wurden:
Verena Mayer, Edmund Husserl, beck'sche reihe denker, München 2009, 192 S., 12,95 EUR.
Verena Mayer (Hrsg.), Edmund Husserl: Logische Untersuchungen, Akademie Verlag, Klassiker Auslegen, Berlin 2008, 250 S., 19,80 EUR.
"Wir verbrachten gemeinsam einen Abend im 'Bec de Gaz' in der Rue Montparnasse. Wir bestellten die Spezialität des Hauses: Aprikosen-Cocktail. Aron wies auf sein Glas: 'Siehst du, mon petit camarade, wenn du Phänomenologe bist, kannst du über diesen Cocktail reden, und es ist Philosophie!' Sartre erbleichte vor Erregung; das war genau, was er sich seit Jahren wünschte: man redet über den nächstbesten Gegenstand, und es ist Philosophie."
Zwar hatte sich das Wort Phänomenologie seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert durchaus eingebürgert. Doch erst Edmund Husserl entwickelt unter dieser Bezeichnung eine Philosophie, die eine eminente Wirkung nicht nur innerhalb des Fachs, sondern auch auf andere Wissenschaften entfalten soll und zwar just ob des Aprikosen-Cocktails, genauer ob ihres Anspruchs, dass die unbedeutendsten Dinge in der Welt Gegenstand der Erkenntnis werden könnten. So lautet Husserls programmatisches Schlagwort:
"Zu den Sachen selbst!" anstatt bei "bloßen Worten stehen zu bleiben".
In der Tat lässt Husserl seine Studenten Tintenfässer oder Streichholzschachteln beschreiben, hält ein Mitarbeiter ein Seminar über einen Briefkasten. Und wenn einer seiner Studenten über die großen Ideen schwadronierte, dann verlangte Husserl von ihm:
"Geben Sie Kleingeld."
Eher klein hat Edmund Husserl auch angefangen. Er besteht das Abitur nur mit größter Anstrengung als Schlechtester seines Jahrgangs am Gymnasium im mährischen Olmütz und studiert ab 1876 Mathematik und Naturwissenschaften in Leipzig, Berlin und Wien. Später nähert er sich unter dem Einfluss von Franz Brentano zunehmend der Philosophie. Brentano fragt, wie sich die innere Wahrnehmung konkret beschreiben lässt und begründet derart die Psychologie als Erfahrungswissenschaft. Die Münchner Philosophin Verena Mayer bemerkt:
"Brentano verfügte 'wie ein Vater', dass Husserl bei Carl Stumpf in Halle habilitieren sollte. Obwohl er bis zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht philosophisch gearbeitet hat, nimmt Husserl nach einigem Sträuben die Herausforderung an."
Die erste Fassung seiner Phänomenologie entwickelt Husserl in seinem frühen, aber eminent einflussreichen Hauptwerk den Logischen Untersuchungen. Wenn man zu den Sachen selbst will, dann darf man nicht allein den Blick auf den Aprikosen-Cocktail richten, sondern auch auf den Menschen, auf sein Bewusstsein, das sich vom Cocktail faszinieren lässt. Im Bewusstsein erlebt der Mensch aber nicht nur die äußeren Eindrücke, sondern auch das eigene Denken, zu dem die Logik gehört, die von äußeren Erfahrungen unabhängig ist, diese aber offenbar in einen vernünftigen Zusammenhang zu bringen vermag. Husserl sucht nach einem Mittelweg zwischen Materialismus und Idealismus, will er wie der Materialismus zum konkreten Gegenstand und zugleich doch nicht die Bedingungen übersehen, wie das Bewusstsein den Gegenstand wahrnimmt, also auch die idealistische beziehungsweise subjektive Perspektive berücksichtigen. Verena Mayer, die in ihrem Buch über Husserl in dessen Entwicklungsgang und Grundideen einführt, bemerkt:
"Zwar hatten frühere Denker, vor allem Descartes, Kant und Hume, bereits ähnliche Fragen gestellt und waren auch streckenweise vergleichbare Wege zur ihrer Beantwortung gegangen. Keiner aber war konsequent bei den Phänomenen geblieben und hatte ihre Ursprünge durch vorurteilsfreie, unbeteiligte Beobachtung bis in die letzten aufweisbaren Details verfolgt."
Wie aber begegnet der Aprikosen-Cocktail dem Bewusstsein? Indem es sich von Cocktail anziehen lässt und sich auf ihn ausrichtet. Das nennt Husserl Intentionalität, die zum vielleicht berühmtesten Leitbegriff der Phänomenologie avanciert. Im von Verena Mayer herausgegebenen Kommentar-Band zu den Logischen Untersuchungen erläutert der dänische Philosoph Dan Zahavi diesen Begriff folgendermaßen:
"Intentionalität hat zu tun mit der Gerichtetheit von Bewusstsein, das heißt mit der Tatsache, dass, wenn man wahrnimmt oder urteilt oder fühlt oder denkt, man einen mentalen Zustand über oder von etwas hat."
Intentional begegnet das Subjekt dem Aprikosen-Cocktail, und damit den Gegenständen, will Husserl damit die Trennung zwischen Subjekt und Objekt aufheben und doch zugleich ein solides logisches Fundament und eine klare Struktur beibehalten. Der im Akademie-Verlag erschienene Kommentar-Band zu Husserls Logischen Untersuchungen aus der Reihe Klassiker-Auslegen enthält Interpretationen aus verschiedenen Blickwinkeln, was ihn sehr spannend macht, aber leider nur für den Fachphilosophen, genauer für den Husserlianer. Dagegen führt Verena Mayers Buch im C.H. Beck Verlag in Husserls Werk und Leben verständlicher ein, allerdings auch nicht unbedingt für den Laien.
Mitte des ersten Jahrzehnts des 20. Jahrhunderts verändert Husserl sein Konzept. Sein zweites Hauptwerk Ideen zu einer reinen Phänomenologie erscheint 1913. Dazu bemerkt Verena Mayer:
"In den 'Ideen zu einer reinen Phänomenologie' füllt Husserl das reine Ich mehr und mehr mit 'Inhalten'. Von einem bloßen Feld des Bewusstseins wird es dabei zu einem personalen Subjekt mit Habitualitäten, Perspektiven, Gefühlen und Wünschen und einem 'absoluten Grund'. Diese Stärkung des Subjekts und der scheinbar damit verbundene Idealismus tragen wesentlich zur Abkehr der Schüler bei."
Husserl richtet den Blick noch konzentrierter nach Innen auf die logischen Bedingungen der Erkenntnis von Gegenständen, während der Aprikosen-Cocktail selbst in den Hintergrund seines Interesses rückt. Sein neues Konzept einer transzendentalen Phänomenologie führt indes dazu, dass sich viele Schüler von ihm abwenden, die mit der Phänomenologie gerade ihre jeweiligen wissenschaftlichen Gegenstände erfassen wollen, sich aber weniger dafür interessieren, wie die innerliche Subjektivität mittels Logik der Welt überhaupt erst einen Horizont eröffnet.
1916 wechselt Husserl an die Universität Freiburg. Die Schrecken des Krieges hinterlassen in der sowieso schon zur Depression neigenden Persönlichkeit Husserls tiefe Spuren. Verena Mayer schreibt dazu:
"In den Kriegsjahren ist Husserls Schaffenskraft weitgehend gelähmt. Seine beiden Söhne Gerhart und Wolfgang ziehen ebenso wie viele Studenten und jüngere Kollegen in den Krieg. Der 'Ausbruch des Welthasses', die 'Sintflut der Verleumdung und all die Orgien der kriegerischen Entmenschung' drücken Husserl nieder (...). Er hält zwar Vorlesungen und Seminare, muss sich aber schließlich in einem Sanatorium behandeln lassen."
Wolfgang Husserl stirbt mit 21 Jahren an der Front, ebenfalls viele von Husserls Studenten. Gerhart wird verwundet. Im Alter von 27 war Edmund Husserl vom Judentum zum Protestantismus übergetreten, und zwar aus religiöser Überzeugung. Jetzt interessiert er sich um so stärker wieder für religiöse Fragen.
In diese Zeit fällt auch seine Begegnung mit Heidegger, der einige Jahre sein Assistent wird und 1928 in Freiburg sein Nachfolger, was aber vor dem Hintergrund von Heideggers Engagement für den Nationalsozialismus zum persönlichen Bruch zwischen beiden führt.
Nach seiner Emeritierung beginnt seine letzte Schaffensphase, in der sein Spätwerk entsteht: "Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie". Husserl kritisiert, dass die modernen Wissenschaften mit ihrem Anspruch, die Welt objektiv berechenbar zu erfassen, die Fragen der Menschen nach dem Sinn des Lebens nicht mehr beantworten. Daher fordert er die Wissenschaften auf, sich darauf zu besinnen, dass sie ihre Entstehung der menschlichen Lebenswelt verdanken - der zentrale Begriff in der husserlschen Spätphilosophie, den Verena Mayer folgendermaßen erläutert:
"Die Lebenswelt ist die vortheoretische und unhinterfragte Welt der natürlichen Einstellung, 'die Welt, in der wir leben, denken, wirken, schaffen'."
Die transzendentale Phänomenologie möchte die Entfremdung zwischen den Menschen und den Wissenschaften vermindern.
Diese Gedanken entwickelt Husserl vor dem Hintergrund des Erstarkens und später der Herrschaft der Nazis. Bereits 1933 versuchen ihn die Behörden von der Universität zu entfernen. Aufgrund seiner internationalen Reputation gelingt das erst im Januar 1936. Von da an verhindert das Ministerium auch Auslandsreisen zu internationalen Tagungen. 1937 müssen die Husserls in Freiburg umziehen, weil Nachbarn antijüdische Hetze verbreiten. Von einem schweren Sturz im August desselben Jahres, just am Tag seiner goldenen Hochzeit, erholt er sich nicht mehr und stirbt am 27. April 1938. Sein Nachlass wird vor den Nazis zunächst nach Löwen gerettet, wo heute noch das Husserl-Archiv arbeitet. Nach dem Einmarsch der Nazi-Deutschen in Belgien muss es ein zweites Mal in Sicherheit gebracht werden und entgeht dabei nur knapp einem Bombenangriff.
Was ist von Husserl geblieben? Wie hat er gewirkt? Dazu stellt Verena Mayer etwas frustriert fest:
"Insgesamt gesehen sind die Versuche der europäischen Philosophie, Husserls Projekt in seinem Sinne weiterzuführen, spärlich geblieben. (...) Husserl fordert (...), dass wissenschaftlichen Untersuchungen, gleich welcher Art, eine systematische phänomenologische 'Begriffsbestimmung' vorherzugehen habe. So fruchtbar die Aufnahme Husserls in der europäischen Philosophie in vieler Hinsicht war: im Sinne der wissenschaftlichen Phänomenologie ist hier wenig geschehen."
Aber welcher Denker wird von seinen Schülern einfach fortgeschrieben? Solche Nachfahren erregen gemeinhin kaum Aufmerksamkeit. Die Zahl der renommierten Philosophen und Wissenschaftler dagegen, die sich im 20. Jahrhundert und heute noch auf Husserl berufen, ist eminent, so dass man ihn durchaus als den einflussreichsten Philosophen des 20. Jahrhunderts bezeichnen könnte.
Vorgestellt wurden:
Verena Mayer, Edmund Husserl, beck'sche reihe denker, München 2009, 192 S., 12,95 EUR.
Verena Mayer (Hrsg.), Edmund Husserl: Logische Untersuchungen, Akademie Verlag, Klassiker Auslegen, Berlin 2008, 250 S., 19,80 EUR.