"‘Der Druck der Erfahrung treibt die Sprache in die Dichtung‘ – das heißt, man schreibt einfach besser, wenn der Erfahrungsdruck höher ist."
1992, kurz nach der Wende, als der Dramatiker und Regisseur Heiner Müller diese Erfahrung T.S. Eliots für sich in Anspruch nahm, galt er in der öffentlichen Wahrnehmung noch überwiegend als ideologischer Hardliner. Noch als er am 30. Dezember 1995 starb, hielten ihn viele für statuarisch, dogmatisch und verkniffen. Hatte doch selbst der Literatur- und Theaterkritiker Joachim Kaiser in seiner hymnischen Lobrede auf Müllers Autobiographie "Krieg ohne Schlacht" von den "grandiosen Trümmern eines rachsüchtigen Ichs" gesprochen.
Mit mehr Abstand können wir heute einen furchtlosen Chronisten seiner Zeit entdecken: Einen Dramatiker, der in Deutschland zwei Diktaturen und drei Systeme durchlebt hat.
"In der DDR ging es nie um Leib und Leben, wenn es um Literatur ging ... es gab andere Fälle, das ist klar. Aber es ging nie um den Kopf. Man war nie wirklich in Lebensgefahr als Schriftsteller, wenn man nicht in politische Zusammenhänge geriet, die mit Literatur nicht unmittelbar zu tun hatten."
"In der DDR ging es nie um Leib und Leben, wenn es um Literatur ging ... es gab andere Fälle, das ist klar. Aber es ging nie um den Kopf. Man war nie wirklich in Lebensgefahr als Schriftsteller, wenn man nicht in politische Zusammenhänge geriet, die mit Literatur nicht unmittelbar zu tun hatten."
Meisterlich zwischen DDR und BRD lavierend
1929 in Sachsen geboren, wird er im Hitlerregime noch zum Reichsarbeitsdienst und anschließend zum Volkssturm einberufen. In den 50er- und 60er-Jahren beginnt seine Laufbahn als Dramaturg und Autor am Maxim-Gorki-Theater in Berlin und als ständiger Antagonist des DDR-Systems, das ihn gleichermaßen schikanierte und begünstigte, bevor er schließlich nach der Wende das berühmte Berliner Ensemble leitete.
Was seine virtuose Fähigkeit, zwischen den Systemen zu oszillieren betrifft, so verstand es Heiner Müller wie seine Kollegin Christa Wolf, meisterlich zwischen DDR und BRD zu lavieren, keinem System ganz anzugehören und zugleich von keinem als Abtrünniger diffamiert zu werden. Mit dem Risiko, zu keinem System "ganz" zu passen. Nach der Wende passte er dann weder zu den Ost-Nostalgikern noch zu den Einigungs-Euphorikern im Westen
Der Hamlet-Maschinist
Es ist kein Zufall, dass er schon 1977 in seiner berühmten "Hamletmaschine", einer zersetzenden Collage aus Trümmern des Shakespeare-Dramas, genau diese Rolle zwischen den Fronten dem Autor, also sich selbst, zuschreibt:
"Mein Platz, wenn mein Drama noch stattfinden würde, wäre auf beiden Seiten der Front, zwischen den Fronten, darüber."
"Mein Platz, wenn mein Drama noch stattfinden würde, wäre auf beiden Seiten der Front, zwischen den Fronten, darüber."
Und die Hamlet-Figur lehnt im vierten der fünf rätselhaften Textelemente die Zuschreibung einer Rolle grundsätzlich ab:
"Ich bin nicht Hamlet … Meine Worte haben mir nichts mehr zu sagen. Meine Gedanken saugen den Bildern das Blut aus. Mein Drama findet nicht mehr statt. ... Ich spiele nicht mehr mit".
In seinen artistischen Ausstiegsszenarien macht Müller den Albtraum zerbrechender Ordnungen hautnah erfahrbar, lenkt den Blick auf die Differenz zwischen dem Faktischen und dem, was die Literatur erkennbar macht.
"Ich bin nicht Hamlet … Meine Worte haben mir nichts mehr zu sagen. Meine Gedanken saugen den Bildern das Blut aus. Mein Drama findet nicht mehr statt. ... Ich spiele nicht mehr mit".
In seinen artistischen Ausstiegsszenarien macht Müller den Albtraum zerbrechender Ordnungen hautnah erfahrbar, lenkt den Blick auf die Differenz zwischen dem Faktischen und dem, was die Literatur erkennbar macht.
Sich selbst sah er als Arbeiter im Steinbruch der Literatur, als einen "Trümmerliteraten", der den gesammelten Kulturschrott der Jahrhunderte, Jahrtausende sammelt, sichtet, neu kollagiert. Ein Anatom der Katastrophen, ein Archäologe der Rekonstruktion von Entstehungsprozessen, einer, der die Vorgeschichte der Gegenwart, ihre unterirdische Tektonik, ihre Vorbeben entschlüsseln will, so Müller über Müller:
"Mich interessiert, wie es zu dem gekommen ist, was jetzt passiert ist. Und das fängt für mich an 1918 oder 1933, 41 ... Mich interessiert die Geschichte der Gegenwart."
"Mich interessiert, wie es zu dem gekommen ist, was jetzt passiert ist. Und das fängt für mich an 1918 oder 1933, 41 ... Mich interessiert die Geschichte der Gegenwart."
Dabei ist das Konstrukt unserer Erinnerungen immer mit der Frage verbunden, ob das, was wir für Tatsachen halten, nur besonders subtile Inszenierungen unseres Gedächtnisses sind:
"Das ist das Problematische an solchen Erinnerungsversuchen. Auch das gehört dann, was da an Fehlern, an Irrtümern, an Schiefheiten ... das gehört auch zum Leben."
Mit leisem Humor wider die Krisen
Heiner Müllers Interesse galt Fragestellungen und Erfahrungen, die vielleicht erst unsere Zeit so recht einzuordnen vermag - auf der Basis unserer Erfahrungseindrücke und Orientierungsschwierigkeiten. Denn er verfügte über das, was wir erst heute wieder zu schätzen wissen: Besonnenheit in Krisensituationen, Distanz zu allzu gängigen Trends, Haltung ohne dogmatische Starre und, ja, überraschenderweise, auch über einen leisen Humor und Selbstironie.