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Zum 70. Geburtstag von Ulla Hahn
Anspruch und Verständlichkeit als Einheit

Von Hajo Steinert | 30.04.2015
    Ulla Hahn , aufgenommen am 12.10.2011 auf der 63. Frankfurter Buchmesse in Frankfurt am Main.
    Die Schriftstellerin Ulla Hahn (picture-alliance / dpa-ZB / Arno Burgi)
    Am Anfang stand ein Bestseller. "Herz über Kopf" 1981 war das. Dass ein ehemaliges Mitglied der Kommunistischen Partei derart formvollendete und alles andere als agitatorische Lyrik schreiben kann, verwunderte die literarische Szene damals nicht schlecht. Sie bekam für ihr Debüt den Leonce-und-Lena-Preis. Aber verkaufsmächtig - 18.000 verkaufte Exemplare in einem Jahr! – nachhaltig also für Leserkreise geöffnet wurde der Erfolg ihres ersten Bandes vom Kritiker Marcel Reich-Ranicki, einer ihrer größten Fans.
    Nach Wolf Wondratschek mit seinen lässigen Strophen in den 70er-Jahren war es nur einer Ulla Hahn vergönnt, mit Lyrik die Spitze der Hitlisten für Literatur zu erobern. Was an ihren Gedichten im Gegensatz zu den reimlosen Versen, dem lockeren Parlando und den freien Rhythmen der sogenannten "Neuen Sensibilität" der 70er-Jahre bestach, war Ulla Hahns durchaus strenges Formbewusstsein. Es war aber nicht so streng, dass der Leser eine Versschule neben die Gedichte legen musste, um ihrem Stil auf die Schliche zu kommen. Anspruch und Verständlichkeit – bei Ulla Hahn von Anfang an eine Einheit.
    Am Anfang steht das Wort, danach erst das Gefühl, und millimetergenau danach: der Verstand. Mit anderen Worten: Das Herz schlägt schneller als es im Kopf tickt, das Herz liegt über dem Kopf, lässt den Verstand durch die Decke des Schädels fließen. Aber der Kopf passt auf. Kopflastigkeit wäre so schlimm wie Kopflosigkeit, eine Schlagseite wäre der Anfang vom Ende des formbewussten Gedichts, für das Ulla Hahn ohne Zweifel steht. Die Form liegt ihr am Herzen, und liegt ihr auch im Kopf. Zu viel Herz darf nicht sein. Reine Innerlichkeit, gepaart mit Kopflosigkeit, ein äußerst untragbares Mittel, Gedichte zum Pulsieren zu bringen. Herz und Kopf miteinander in Einklang zu bringen, eine Symbiose zu schaffen, Herz und Kopf gar in ein Liebesspiel miteinander zu verwickeln, darin beseht ihr literarischer Eros.
    Ulla Hahn schreibt meist kurze Gedichte, man merkt sie sich gut. Ulla Hahn schreibt ohne rot zu werden Liebesgedichte. Warum nicht. "Herz über Kopf" hieß ihr erster Lyrikband. Ihre Gedichte geben dem einen Liebesmut, dem anderen nimmt sie die Schwermut. Ihre Gedichte trösten, ohne den Trost als Stimmungsziel vor sich her zu tragen. UIla Hahn macht sich buchstäblich einen Reim auf das alltägliche Liebesgewirr. Manchmal sind ihre Gedichte ein wenig frivol:
    Komm beiß dich fest ich halte nichts
    vom Nippen. Dreimal am Anfang küß
    mich wo's gut tut. Miß
    mich von Mund zu Mund. Mal angesichts
    der Augen mir Ringe um
    und laß mich springen unter
    der Hand in deine. Zeig mir wie's drunter
    geht und drüber. Ich schreie ich bin stumm.
    Bleib bei mir. Warte. Ich komm wieder
    zu mir zu dir dann auch
    "ganz wie ein Kehrreim schöner alter Lieder".
    Verreib die Sonnenkringel auf dem Bauch
    mir ein und allemal. Die Lider
    halt mir offen. Die Lippen auch.
    Ulla Hahn, 2010 auf unserem Lyrikfestival "Lass Hören" in Düren, ein Gedicht aus ihrem ersten Lyrikband "Herz über Kopf", 1981 erschienen. Heute wird Ulla Hahn 70 Jahre alt. Wer sie in jüngster Zeit bei ihren Lesungen erlebt oder ihre neuen Bücher gelesen hat, kann das kaum glauben. Ihre Jugendlichkeit wirkt nicht aufgesetzt, ist nichts, was sie vor sich her trägt. Sie erscheint authentisch. Ihre Freude an der Kommunikation mit Lesern drückt sich nicht nur in ihren Auftritten aus. Sie ist Teil ihrer Poetik. Die Leser geben ihr zurück, was sie mit ihren Gedichten beabsichtigt: den Dialog.
    Im Märzen
    Im Märzen da reiß ich
    den Samt vom Himmel der Sonne
    mach ich die Laden dicht ich
    hack der Krähe ein Auge
    aus Amsel Drossel Fink und Star
    dreh ich den Hals um den Krokus
    köpf ich die Knospen ich schmeiß
    dir mit Veilchen die Fenster
    ein jeder sehe wie
    ich's treibe wenn
    du nicht sofort
    die Rößlein einspannst.
    Ulla Hahn hat in den 35 Jahren ihrer literarischen Publikationsgeschichte aber nicht nur weitere Gedichtbände geschrieben. In den drei Bänden ihrer als Fiktion getarnten Autobiografie stellt sie ihrem Leben in Form eines Bildungsromans nach. Die Bände heißen "Das verborgene Wort", "Aufbruch" und zuletzt "Spiel der Zeit". Allesamt auch von der Kritik gelobt. Mit großem epischen Atem und Liebe zum Detail, erinnerungssüchtig, doch nicht sentimental erzählt sie die Geschichte einer gewissen Hilla Palm, alias Ulla Hahn, ein Arbeiterkind vom Dorf, das in einer Kleinstadt am Ufer des Rheins zwischen Köln und Düsseldorf aufwächst, aus der Enge des Elternhauses in die Literatur flieht, aufs Aufbau-Gymnasium kommt und später sogar, natürlich Germanistik, zum Studium zugelassen wird.
    Im Köln der 60er-Jahre war es auch, wo sie mit Fußball, der antiautoritären Bewegung, ihren Popfestivals und bisweilen dogmatischen politischen Organisationen in Kontakt kam. Heute lebt – zusammen mit dem Politiker Klaus von Dohnanyi - und schreibt Ulla Hahn in Hamburg. Aber regelmäßig kommt sie nach Monheim am Rhein zurück, wo sie nach ihrer Geburt, heute vor 70 Jahren im Sauerland, ihre Kindheit verbrachte. "Mit meiner Liebe zur Sprache und Literatur bin ich aus dem Haus in der Neustraße 2 herausgewachsen. Mit derselben Liebe zu beidem komme ich nun, nach vielen Jahren, wieder zurück."
    Zurück nach Hause, zurück ins Ulla-Hahn-Haus, wie das Haus in Monheim heute heißt. Eine Begegnungsstätte für Literatur. Hier macht sich Ulla Hahn, zusammen mit ihren Mitarbeiterinnen, vor allem für die Verbreitung von Kinder-und Jugendliteratur in der Region verdient. Außerdem hat sie den "Ulla-Hahn-Preis" ins Leben gerufen. Er wird alle zwei Jahre an ein außerordentlich gelungenes Debüt von einer Jury vergeben. Auch dafür, Ulla Hahn, herzlichen Glückwunsch.
    Ulla Hahns Werke erscheinen in der Deutschen Verlags-Anstalt.