Als Joseph Roths erster Biograph David Bronsen in den 60er-Jahren Zeitzeugen befragte, traf er viele Menschen, die mit großer Zuneigung vom österreichischen Schriftsteller erzählten. Er stieß aber bei seinen über hundert Interviews fast auf ebenso viele Widersprüche, bis er resigniert feststellte, dass er es mit der "unüberwindlichen Einbildungskraft eines Mythomanen" zu tun hatte.
Joseph Roth hüllte sein Leben in Legenden und schien für jeden seiner Gesprächspartner eine andere Person darzustellen. Das war wie ein Spiel, aber vermutlich war es ein Zwang. Interessanterweise fiel der in Frankreich von ihm ab, als er 1925 als Korrespondent der Frankfurter Zeitung das Land bereiste. In seinem Essay über Südfrankreich "Die weißen Städte" beschrieb er ein Gefühl, als wäre er einem Gefängnis entkommen.
Man war nicht bestrebt, alles unverrückbar zu fixieren. Man wandelt sich jeden Augenblick, drüben, hinter dem Zaun. Wir nennen das immer "Treulosigkeit", und Anpassung ist halber "Verrat". Hinter dem Zaun gewann ich mich selbst wieder. Ich gewann die Freiheit, die Hände in den Hosentaschen, eine Garderobemarke an den Hut geheftet, einen zerbrochenen Regenschirm in der Hand, zwischen Damen und Herren, Straßensängern und Bettlern zu wandeln. Ich kenne die süße Freiheit, nichts mehr darzustellen als mich selbst. Ich repräsentiere nicht, ich übertreibe nicht, ich verleugne nicht. Ich falle trotzdem nicht auf.
Der Mythomane Roth ist ein Problem für seine Biographen. Wem sollen sie glauben?
David Bronsens Biographie von 1974 ist von einer Empathie durchdrungen, die wohl aus der Nähe zu den Zeitzeugen herrührt. Marcel Reich-Ranicki oder Reinhard Baumgart schrieben aus der Bewunderung für Roths Prosa heraus. Wilhelm von Sternburg, der jetzt eine neue 500 Seiten schwere Biographie vorlegt, entschied sich für die Skepsis, um nicht zu sagen: das Misstrauen. Und das von Anfang an.
Joseph Roth - und das kann einer der Gründe für sein Spiel mit Identitäten sein - schämte sich für seine Kindheit in Galizien, für die Armut, für seine ungebildete Mutter und für seinen im Irrenhaus verschwundenen Vater. Oft klagte er darüber, wie sehr sein Onkel ihn und die Mutter spüren ließ, dass sie finanziell von ihm abhängig waren.
Wilhelm von Sternburg glaubt nicht, dass Roth als Kind wirklich unter Armut gelitten hätte, wie er "mit viel Larmoyanz" - so Sternburg - beklagte. Schließlich habe ihm der Onkel das Schulgeld für das Gymnasium bezahlt und auch Geigenunterricht nehmen lassen.
Es gibt tatsächlich ein Foto, das Joseph Roth mit einer Violine in der Hand zeigt. Allerdings ist das eine Aufnahme aus dem Fotoatelier, wo das Instrument als Requisit gedient haben könnte. Das vermutet jedenfalls der Wiener Roth-Kenner Heinz Lunzer in seiner Bildmonographie. Die Violine ist ein nebensächliches Detail, zeigt aber das Dilemma von Sternburgs Biographie. Er zweifelt Vieles an, ohne neue Ergebnisse vorweisen zu können. Der frühere Fernsehjournalist hat sich schon mehrfach als Biograph bewiesen, wobei seine Stärke eindeutig in der Zeitgeschichte liegt, auch in seiner Roth-Biographie. Man erfährt viel über das Umfeld: über Galizien und das osteuropäische Judentum, über das Ende der Habsburger Monarchie, über die Zeitungslandschaft der 20er-Jahre und über die Verlagssituation im Exil.
Aber leider findet Sternburg keinen Zugang zur Person von Joseph Roth, weder zum Menschen noch zum Künstler. Zwar stellt er den literarischen Rang des Autors von "Hiob", "Radetzkymarsch" oder "Hotel Savoy" nicht in Frage, grundsätzlich auch nicht die Hellsichtigkeit des Journalisten Roth. Der tendierte zunächst zum Sozialismus, kehrte aber 1926 ernüchtert von einer Reportagereise durch die Sowjetunion zurück.
Wer in den Ländern der westlichen Welt den Blick nach dem Osten erhebt, um den roten Feuerschein einer geistigen Revolution zu betrachten, der muss sich schon die Mühe nehmen, ihn selbst an den Horizont zu malen. Viele tun es. ... Indessen ist die russische Revolution schon längst in das Stadium einer gewissen Stabilität gekommen. Der illuminierte laute Feiertag ist ausgeklungen. Der nüchterne, graue, mühselige Wochentag hat angefangen. Dieses Russland hat keine Genies nötig und schon gar nicht Literaten. Es braucht Volksschullehrer dringender als kühne Theoretiker, es braucht eher Ingenieure als Erfinder, es braucht Lesebücher und keine Werke. Literarische und Kultur-"Probleme" sind hier Luxus. Zweifel sind verdächtig. Feine, differenzierte Nuancen sehn heißt hier: eine bürgerliche Ideologie haben.
Der oft differenzierende, aber oft auch polemisierende Joseph Roth mit seinem ambivalenten Verhältnis zum Judentum wie zur Politik, der sich im Exil mit den Monarchisten gegen Hitler verbünden wollte, bleibt Wilhelm von Sternburg suspekt. Das zeigt sich in seinen belehrenden und relativierenden Kommentaren, die manchmal sogar den Eindruck erwecken, dass er Joseph Roth nicht besonders leiden kann. So unterstellt er, dass Roth seinen Charme gezielt bei Ehefrauen wohlhabender Gönner eingesetzt habe, etwa bei Noa Kiepenheuer und Friederike Zweig, oder er äußert zum Tod der Mutter: "Sehr erschüttert hat ihn dieser Verlust allerdings nicht. Jedenfalls heiratet er nur wenige Tage später." Angesichts der komplizierten Beziehung Roths zu seiner einsamen und dominierenden Mutter, ist das doch eine recht banale Feststellung.
Oft sind Sternburgs Deutungsansätze so simpel, dass er sie selbst ein paar Seiten später widerrufen muss. Wenn er etwa Joseph Roth als jungen Menschen schildert, der seine Herkunft möglichst schnell verlassen und vergessen will, dann muss er sich natürlich darüber wundern, dass der 1927 in seinem Buch "Juden auf Wanderschaft" so empathisch über das Ostjudentum schreibt. Und wenn Sternburg die Gründe für Roths Alkoholismus eruieren will, den er geradezu vorwurfsvoll anprangert, dann greift er auf alle möglichen Erklärungen zurück und erwähnt fast nebenbei, dass Roth schon in früher Jugend zu Depressionen neigte. Roth selbst sagte, dass Alkohol nicht die Ursache seines Elends sei, sondern die Folge. Er trank tatsächlich schon als junger Mann, und in der Emigration soff er sich buchstäblich zu Tode. Joseph Roth war ein Verzweifelter, wie viele seiner Freunde begriffen hatten, - und in seinen Texten findet man genügend Hinweise auf die Gründe seiner Verlorenheit.
Ich sprach in Frankreich mit einem jüdischen Artisten aus Radziwillow, dem alten russisch-österreichischen Grenzort. Er war ein musikalischer Clown und verdiente viel. Er entstammte einer Musikantenfamilie. Sein Urgroßvater, sein Großvater, sein Vater, seine Brüder waren jüdische Hochzeitsmusikanten. Er, der einzige, konnte seine Heimat verlassen und im Westen Musik studieren. Ein reicher Jude unterstützte ihn. Er kam in eine Musikhochschule in Wien. Er komponierte. Er gab Konzerte. "Aber", sagte er, "was soll ein Jude der Welt ernste Musik machen? Ich bin immer ein Clown in dieser Welt, auch wenn man ernste Referate über mich bringt und Herren von den Zeitungen mit Brillen in den ersten Reihen sitzen. Soll ich Beethoven spielen? Soll ich Kol Nidre spielen? Eines Abends, als ich auf der Bühne stand, begann ich, mich vor Lachen zu schütteln. Was machte ich der Welt vor, ich, ein Musikant aus Radziwillow?"
Zurückhaltender berichten Heinz Lunzer und Victoria Lunzer-Talos über Joseph Roth in ihrem Bildband zu Leben und Werk. Die Neuausgabe ist um Material aus der Emigrationszeit erweitert und konnte die vielen Fotos in verbesserter Qualität drucken. Der schöne Band besticht aber auch dadurch, dass er Joseph Roth selbst in seinen Texten ausführlich zu Wort kommen lässt.
Wilhelm von Sternburg: Joseph Roth. Eine Biographie. Köln, Verlag Kiepenheuer & Witsch, 560 Seiten, mit s/w-Abbildungen. 22,95 Euro
Heinz Lunzer und Victoria Lunzer-Talos: Joseph Roth. Leben und Werk in Bildern. Köln, Verlag Kiepenheuer & Witsch, erweiterte Neuausgabe 2009, 304 S. 39,95 Euro
Joseph Roth hüllte sein Leben in Legenden und schien für jeden seiner Gesprächspartner eine andere Person darzustellen. Das war wie ein Spiel, aber vermutlich war es ein Zwang. Interessanterweise fiel der in Frankreich von ihm ab, als er 1925 als Korrespondent der Frankfurter Zeitung das Land bereiste. In seinem Essay über Südfrankreich "Die weißen Städte" beschrieb er ein Gefühl, als wäre er einem Gefängnis entkommen.
Man war nicht bestrebt, alles unverrückbar zu fixieren. Man wandelt sich jeden Augenblick, drüben, hinter dem Zaun. Wir nennen das immer "Treulosigkeit", und Anpassung ist halber "Verrat". Hinter dem Zaun gewann ich mich selbst wieder. Ich gewann die Freiheit, die Hände in den Hosentaschen, eine Garderobemarke an den Hut geheftet, einen zerbrochenen Regenschirm in der Hand, zwischen Damen und Herren, Straßensängern und Bettlern zu wandeln. Ich kenne die süße Freiheit, nichts mehr darzustellen als mich selbst. Ich repräsentiere nicht, ich übertreibe nicht, ich verleugne nicht. Ich falle trotzdem nicht auf.
Der Mythomane Roth ist ein Problem für seine Biographen. Wem sollen sie glauben?
David Bronsens Biographie von 1974 ist von einer Empathie durchdrungen, die wohl aus der Nähe zu den Zeitzeugen herrührt. Marcel Reich-Ranicki oder Reinhard Baumgart schrieben aus der Bewunderung für Roths Prosa heraus. Wilhelm von Sternburg, der jetzt eine neue 500 Seiten schwere Biographie vorlegt, entschied sich für die Skepsis, um nicht zu sagen: das Misstrauen. Und das von Anfang an.
Joseph Roth - und das kann einer der Gründe für sein Spiel mit Identitäten sein - schämte sich für seine Kindheit in Galizien, für die Armut, für seine ungebildete Mutter und für seinen im Irrenhaus verschwundenen Vater. Oft klagte er darüber, wie sehr sein Onkel ihn und die Mutter spüren ließ, dass sie finanziell von ihm abhängig waren.
Wilhelm von Sternburg glaubt nicht, dass Roth als Kind wirklich unter Armut gelitten hätte, wie er "mit viel Larmoyanz" - so Sternburg - beklagte. Schließlich habe ihm der Onkel das Schulgeld für das Gymnasium bezahlt und auch Geigenunterricht nehmen lassen.
Es gibt tatsächlich ein Foto, das Joseph Roth mit einer Violine in der Hand zeigt. Allerdings ist das eine Aufnahme aus dem Fotoatelier, wo das Instrument als Requisit gedient haben könnte. Das vermutet jedenfalls der Wiener Roth-Kenner Heinz Lunzer in seiner Bildmonographie. Die Violine ist ein nebensächliches Detail, zeigt aber das Dilemma von Sternburgs Biographie. Er zweifelt Vieles an, ohne neue Ergebnisse vorweisen zu können. Der frühere Fernsehjournalist hat sich schon mehrfach als Biograph bewiesen, wobei seine Stärke eindeutig in der Zeitgeschichte liegt, auch in seiner Roth-Biographie. Man erfährt viel über das Umfeld: über Galizien und das osteuropäische Judentum, über das Ende der Habsburger Monarchie, über die Zeitungslandschaft der 20er-Jahre und über die Verlagssituation im Exil.
Aber leider findet Sternburg keinen Zugang zur Person von Joseph Roth, weder zum Menschen noch zum Künstler. Zwar stellt er den literarischen Rang des Autors von "Hiob", "Radetzkymarsch" oder "Hotel Savoy" nicht in Frage, grundsätzlich auch nicht die Hellsichtigkeit des Journalisten Roth. Der tendierte zunächst zum Sozialismus, kehrte aber 1926 ernüchtert von einer Reportagereise durch die Sowjetunion zurück.
Wer in den Ländern der westlichen Welt den Blick nach dem Osten erhebt, um den roten Feuerschein einer geistigen Revolution zu betrachten, der muss sich schon die Mühe nehmen, ihn selbst an den Horizont zu malen. Viele tun es. ... Indessen ist die russische Revolution schon längst in das Stadium einer gewissen Stabilität gekommen. Der illuminierte laute Feiertag ist ausgeklungen. Der nüchterne, graue, mühselige Wochentag hat angefangen. Dieses Russland hat keine Genies nötig und schon gar nicht Literaten. Es braucht Volksschullehrer dringender als kühne Theoretiker, es braucht eher Ingenieure als Erfinder, es braucht Lesebücher und keine Werke. Literarische und Kultur-"Probleme" sind hier Luxus. Zweifel sind verdächtig. Feine, differenzierte Nuancen sehn heißt hier: eine bürgerliche Ideologie haben.
Der oft differenzierende, aber oft auch polemisierende Joseph Roth mit seinem ambivalenten Verhältnis zum Judentum wie zur Politik, der sich im Exil mit den Monarchisten gegen Hitler verbünden wollte, bleibt Wilhelm von Sternburg suspekt. Das zeigt sich in seinen belehrenden und relativierenden Kommentaren, die manchmal sogar den Eindruck erwecken, dass er Joseph Roth nicht besonders leiden kann. So unterstellt er, dass Roth seinen Charme gezielt bei Ehefrauen wohlhabender Gönner eingesetzt habe, etwa bei Noa Kiepenheuer und Friederike Zweig, oder er äußert zum Tod der Mutter: "Sehr erschüttert hat ihn dieser Verlust allerdings nicht. Jedenfalls heiratet er nur wenige Tage später." Angesichts der komplizierten Beziehung Roths zu seiner einsamen und dominierenden Mutter, ist das doch eine recht banale Feststellung.
Oft sind Sternburgs Deutungsansätze so simpel, dass er sie selbst ein paar Seiten später widerrufen muss. Wenn er etwa Joseph Roth als jungen Menschen schildert, der seine Herkunft möglichst schnell verlassen und vergessen will, dann muss er sich natürlich darüber wundern, dass der 1927 in seinem Buch "Juden auf Wanderschaft" so empathisch über das Ostjudentum schreibt. Und wenn Sternburg die Gründe für Roths Alkoholismus eruieren will, den er geradezu vorwurfsvoll anprangert, dann greift er auf alle möglichen Erklärungen zurück und erwähnt fast nebenbei, dass Roth schon in früher Jugend zu Depressionen neigte. Roth selbst sagte, dass Alkohol nicht die Ursache seines Elends sei, sondern die Folge. Er trank tatsächlich schon als junger Mann, und in der Emigration soff er sich buchstäblich zu Tode. Joseph Roth war ein Verzweifelter, wie viele seiner Freunde begriffen hatten, - und in seinen Texten findet man genügend Hinweise auf die Gründe seiner Verlorenheit.
Ich sprach in Frankreich mit einem jüdischen Artisten aus Radziwillow, dem alten russisch-österreichischen Grenzort. Er war ein musikalischer Clown und verdiente viel. Er entstammte einer Musikantenfamilie. Sein Urgroßvater, sein Großvater, sein Vater, seine Brüder waren jüdische Hochzeitsmusikanten. Er, der einzige, konnte seine Heimat verlassen und im Westen Musik studieren. Ein reicher Jude unterstützte ihn. Er kam in eine Musikhochschule in Wien. Er komponierte. Er gab Konzerte. "Aber", sagte er, "was soll ein Jude der Welt ernste Musik machen? Ich bin immer ein Clown in dieser Welt, auch wenn man ernste Referate über mich bringt und Herren von den Zeitungen mit Brillen in den ersten Reihen sitzen. Soll ich Beethoven spielen? Soll ich Kol Nidre spielen? Eines Abends, als ich auf der Bühne stand, begann ich, mich vor Lachen zu schütteln. Was machte ich der Welt vor, ich, ein Musikant aus Radziwillow?"
Zurückhaltender berichten Heinz Lunzer und Victoria Lunzer-Talos über Joseph Roth in ihrem Bildband zu Leben und Werk. Die Neuausgabe ist um Material aus der Emigrationszeit erweitert und konnte die vielen Fotos in verbesserter Qualität drucken. Der schöne Band besticht aber auch dadurch, dass er Joseph Roth selbst in seinen Texten ausführlich zu Wort kommen lässt.
Wilhelm von Sternburg: Joseph Roth. Eine Biographie. Köln, Verlag Kiepenheuer & Witsch, 560 Seiten, mit s/w-Abbildungen. 22,95 Euro
Heinz Lunzer und Victoria Lunzer-Talos: Joseph Roth. Leben und Werk in Bildern. Köln, Verlag Kiepenheuer & Witsch, erweiterte Neuausgabe 2009, 304 S. 39,95 Euro