Monika Dittrich: 500 Jahre Reformation: Das ist ein Grund zum Feiern für die Evangelische Kirche. Als Martin Luther 1517 seine 95 Thesen publik machte, war das schließlich auch die Geburtsstunde des Protestantismus. Die Festlichkeiten haben längst begonnen und werden sich bis zum Stichtag am 31. Oktober noch steigern; zu Luthers Ehren ist das in diesem Jahr sogar ein bundesweiter Feiertag. Nur die evangelischen Theologie-Professoren, die sind nicht so recht in Feierlaune, findet zumindest Thies Gundlach. Er ist theologischer Vizepräsident bei der EKD und dieser Tage hat er sich bei seinen Kollegen in der Wissenschaft beschwert. In einem Aufsatz für die Zeitschrift "Zeitzeichen" schreibt Gundlach, viele Theologen seien in einer "grummeligen Meckerstimmung" und hätten sich aus der "konstruktiven Diskussion um das Jubiläum abgemeldet". Es würden "oftmals kleinliche Kritiken an der Fest-Gestaltung vorgetragen". Was für ein Vorwurf, was für eine Ohrfeige! Darüber wollen wir jetzt sprechen. Guten Morgen Thies Gundlach in Hannover.
Thies Gundlach: Guten Morgen, Frau Dittrich.
Dittrich: Herr Gundlach, alle reden in diesem Jahr über Luther. Es gibt mehr Bücher über den Reformator, als ein Mensch allein lesen kann. Es gibt Titelgeschichten in großen Zeitungen und Zeitschriften, Vortragsreihen, Diskussionsrunden, Talkshows im Fernsehen, außerdem natürlich Gottesdienste, Feierstunden und vieles mehr. Von einem Mangel an Luther-Interpretation kann doch in diesem Jubiläumsjahr wirklich keine Rede sein. Was fehlt Ihnen?
Gundlach: Tatsächlich ist das ein gewaltiger Luther-Boom mit viel Inhalt an der Basis, aber auch in grundsätzlichen öffentlichen Medien. Das ist ein sehr erfolgreiches Arbeiten für dieses Jubiläum und der Versuch, wirklich die verschiedenen Inhalte, die man mit Martin Luther und den Reformatoren verbindet, deutlich zu machen. Ich will deswegen einmal grundsätzlich sagen dürfen: Es geht gar nicht um "die Evangelische Kirche gegen die Professoren", sondern es geht gegen einige, bei denen ich die Frage habe, wie weit sie an der Gegenwartsinterpretation Luthers beteiligt sind.
In der Evangelischen Kirche, aber auch ich persönlich arbeiten wir mit sehr vielen Theologie-Professoren und Wissenschaftlern sehr gut zusammen, in Kammern, Kommissionen, in verschiedenen Arbeitszusammenhängen; es geht also, wenn überhaupt, um einen Streit zwischen verschiedene Richtungen der Theologie unter Professoren. Da ist es tatsächlich so, dass ich die Frage gestellt habe, nachdem ich nun sehr lange auch mit der Vorbereitung und inhaltlichen Gestaltung des Reformationsjubiläums zu tun habe, von meiner Aufgabe her, dass mir auffällt, dass einige Theologieprofessoren und theologische Fakultäten sehr zurückhaltend sind bei der Frage welche Relevanz, welche Bedeutung hat das eigentlich für heute. Das sind alles hervorragende Wissenschaftler, gar keine Frage, in Spezialbereichen der Reformationsgeschichte von niemandem zu toppen…
Risikobereitschaft fehlt
Dittrich: Ihnen fehlt die Gegenwartsinterpretation.
Gundlach: Genau.
Dittrich: Nun haben Sie aber gerade gesagt, es gibt einige, die das gemacht haben. Wir haben auch viele Buchautoren, z.B. Journalisten zuletzt gehabt, Willy Winkler, Georg Dietz, ihre Bücher haben wir in unserer Sendung besprochen - dort geht es ja genau um diese Gegenwartsinterpretation. Also reicht Ihnen das nicht?
Gundlach: Na ja. Doch ich freue mich darüber außerordentlich und finde diese Bücher zum Teil auch wirklich gut gelungen und so geschrieben, dass man da mit großem Spaß und sehr viel Lernerfolg lesen kann. Aber es sind gerade diejenigen Gruppen, von denen ich sozusagen von Haus aus die höchste Erwartung habe, solche Gegenwartsinterpretationen zu machen, nämlich die Wissenschaftler, die sich damit hauptberuflich beschäftigen. Da werden sehr viele historische Bücher mit sehr viel Substanz geschrieben, aber es gibt eben nicht diesen Versuch, dieses Risiko, eine Gegenwartsinterpretation zu machen. Es wird immer sehr deutlich gemacht, wie weit weg Luther ist und die Reformatoren und die Reformation, aber es wird nicht der Versuch gemacht, zu sagen: was bedeutet es heute für uns, für unsere Gesellschaft, für die Werte, aber auch für den Glauben und für die Kirche.
Dittrich: Das klingt, als habe sich die Evangelische Kirche ein bisschen mehr Zustimmung für dieses Jubeljahr gewünscht aus der Wissenschaft.
Gundlach: Ja, Zustimmung ist vielleicht die äußere Form. Die innere Form (ist) mehr Unterstützung und vielleicht auch mehr Anregung und theologische Interpretation. Wir haben seit 10 Jahren eine sogenannte Luther- oder Reformationsdekade. Da sind ganz viele verschiedene Inhalte: die Reformation in ihrer Bedeutung für Musik, für Politik und Kirche, für andere Werte. Wir haben an ganz vielen Stellen, auch in Gottesdiensten, in Diskussionen, Veranstaltungen von Martin Luther, seinem Glauben und seine Bedeutung für heute gesprochen. Aber von denjenigen, die nach meiner Meinung nach, sozusagen hauptberuflich zuständig und auch besonders kompetent sind, fällt es so ein bisschen aus, und das habe ich, jedenfalls im Blick auf einige dann deutlich gesagt.
Die Frage nach der Mission
Dittrich: Woran liegt das denn, dass die Theologie heute keine gegenwartsbezogene Luther-Interpretation liefert? Oder die Theologen, die Sie ansprechen, wir können vielleicht gleich noch Ross und Reiter nennen, um wen es da geht. Warum trauen die sich nicht hervor, wie Sie das sagen?
Gundlach: Mir ist nur wichtig, dass wir das auseinanderhalten: Es geht nicht um die Theologen gegen die Evangelische Kirche, das wäre wirklich zu eng geführt. Das ist eine sehr sehr gute Frage, die mich beschäftigt hat, die habe ich ja gerade gestellt.
Woran liegt es eigentlich? Auf der einen Seite habe ich viel Verständnis dafür, dass die theologische Wissenschaft in ihrem Kontext der Universität, deutlich zeigen muss, dass sie Wissenschaft ist, dass sie die Spezialfragen klären kann, dass sie akkurat arbeitet. Das ist eine Verwissenschaftlichung, die auch sein muss und die auch richtig ist. Auf der anderen Seite ist es vielleicht auch die Sorge, die Vergegenwärtigung, sozusagen, mit dem Risiko, das damit verbunden ist. Denn jede Interpretation von einem Ereignis, das 500 Jahre her ist, hat in irgendeiner Weise einen Bezug zu Gegenwartsfragen, zum Zeitgeist, zu dem, was wir heute wichtig finden. Diese Aufgabe, das auszusprechen, das zu riskieren, ist das Zweite. Das Dritte ist vielleicht wirklich, dass wir die Frage haben, ob die Wissenschaftler, sozusagen diese missionarisch glaubensorientierte Dimension, die eine Kirche natürlich mit einem solchen Jubiläum verbindet, - das wäre widersinnig, wenn wir nicht versuchen würden, zu sagen: "Leute, da kommt eine Tradition, die hilft uns in der Werteorientierung unserer Gesellschaft in Krisen, sie hilft natürlich auch dem Glauben und dem Verständnis von Glauben" -, sich dafür nicht ganz so engagieren. Das ist jedenfalls meine Frage: Warum ist es eigentlich so zurückhaltend im einem Bereich von Menschen, die hauptberuflich mit Reformation und Reformationsforschung zu tun haben?
Dittrich: Nun sind diese renommierten Wissenschaftler, die Sie in Ihrem Aufsatz auch zum Teil nennen, ebenfalls unzufrieden, mit dem was Sie bzw. die EKD zum Reformationsjubiläum hervorbringen. Vielen geht es zu viel ums Feiern, um Vermarktung, um öffentliche Aufmerksamkeit, um den Playmobil-Luther und zu wenig um ein historisch korrektes Bild Luthers und der Reformation. Zu Ihren Kritikern gehört beispielsweise Thomas Kaufmann, Theologe und Kirchenhistoriker, Professor in Göttingen und Autor einen hochgelobten Buches über die Geschichte der Reformation in Deutschland. Er hat in unserem Programm folgendes gesagt: "Luther wird seiner Ecken und Kanten beraubt. Er wird zu einer Art Schoßhündchen. Auch die ganze Anstößigkeit, der Inanspruchnahme religiöser Wahrheitsgehalte, die mit dieser Person verbunden ist, wird in gewisser Weise kleingeredet. Es geht darum, einen passfähigen und einen gesellschaftspolitisch noch tragfähigen Luther zu bieten, und das bringt meines Erachtens relativ wenig."
Herr Gundlach, macht die EKD Luther zum Schoßhündchen?
Gundlach: Also das ist eine flotte Formulierung, die ich aber für völlig falsch halte. Ehrlich gesagt versuchen wir an vielen Stellen die Kantigkeit und die Eindeutigkeit Luthers auch in seinen Schwächen und Grenzen sehr deutlich zu problematisieren. Ein Beispiel – lassen Sie mich sagen – gestern war die Verleihung von Buber-Rosenzweig-Medaille in Frankfurt. Der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland, Landesbischof Heinrich Bedford-Strom hat dort öffentlich gesagt, wie schwer und schamvoll wir das Erbe Luthers in Blick auf Antisemitismus und Antijudaismus tragen. Wie genau wir es versuchen zu verstehen. Er hat dann auch gesagt, wir wollen daran weiterarbeiten, das ist für unsere Kirche essenziell. Deswegen ist die Absicht der Evangelischen Kirche, eine Stiftungsprofessur zu diesem Thema einzurichten. Ich kann nicht sehen, dass wir da die Ecken und Kanten, die ja wirklich beschämend sind im Blick auf das Judentum und Israel, das wir das unsichtbar machen, ein Schoßhündchen daraus machen. Ich kann auch nicht sehen, dass wir mit dem Versuch der Aktualisierung eines Martin Luther, der ja nun wirklich intensiv einen Christus-Glauben in die Mitte gestellt hat, dass wir dieses Zentrum seines Anliegens sowohl in Richtung Ökumene wie auch im Blick auf gesellschaftliche Mitverantwortung irgendwie schoßhündchenmäßig machen – im Gegenteil.
Gott bei Google
Dittrich: Die Berliner Theologieprofessorin Dorothea Wendebourg, auch eine, die Sie kritisiert haben, kritisierte wiederum in der "Welt", die EKD spreche beim Lutherjubiläum kaum vom Gott, sondern konzentriere sich auf das, was an der Reformation für den Staat, die Menschenwürde oder die Demokratie wichtig sein könne. Ihnen gehe es nur um das Interesse von Politikern und Zivilgesellschaft. Was entgegnen Sie?
Gundlach: Dass das eine völlige Verzeichnung ist. Sie brauchen nur einmal bei Google das Stichwort einzugeben Gott und Reformation und Sie werden sehen, wie viel von unseren nicht nur leitenden Theologen, sondern auch in der Gemeinde an der Basis die Frage nach Gott, die heute anders gestellt wird als bei Luther, doch nach wie vor zentral ist: die Frage nach seiner Lehre, nach Rechtfertigung, nach Anerkennung, wie intensiv das diskutiert wird. Und gerade auch dadurch, dass wir seit 10 Jahren eine Reformationsdekade vorbereiten, ein Jubiläum gestalten, das ist ja Anlass, um solche theologischen Fragen zu stellen. Ich würde steif und fest behaupten, das machen wir als Evangelische Kirche sehr sehr intensiv.
Dittrich: Die Theologen, die Sie nun kritisieren, wollen Luther nun aber nicht so interpretieren, wie Sie sich das als EKD wünschen, weil Sie das vielleicht mit Ihrem akademischen, ihrem wissenschaftlichen Ansatz nicht vereinbaren können. Das muss man doch akzeptieren, dass die aus Luther jetzt nicht den Popstar machen wollen, mit dem man feiern kann. Oder das Schoßhündchen.
Gundlach: Das Popstar-Schoßhündchen wäre jetzt sozusagen die Kombination. Ich glaube tatsächlich, das da jetzt eine Frage an die benannten Wissenschaftler ist, inwieweit sie bei der reinen Historie stehen bleiben. Das ist für eine Jubiläumsgestaltung außerordentlich wichtig. Wir wollen ja nicht irgendwas sagen, da wird auch von uns als Kirche oder von mir persönlich auch wahrgenommen, aber darüber hinaus muss doch dieser Anlass, 500 Jahre Thesenanschlag, auch die Frage stellen, auch für die Wissenschaft, hat es heute Bedeutung? Und wenn ja, welche Relevanz hat es? Man kann ja auch sagen, es hat eine ganz andere als ihr das macht und wir sehen viel mehr dieses oder jenes. Aber wenn man im Grunde genommen durch Schweigen oder Nichtbeteiligen sagt, das hat gar keine Relevanz, dann ist ein wirklicher unterschiedlicher Einschätzungsgrad da, den ich sehr schwierig finde. Da kann ich mir eigentlich nicht so richtig konstruktiv vorstellen, dass man bei dieser Position bleibt.
Dittrich: Machen sich die Theologen, die Sie ansprechen, in ihrer Forschung irrelevant, wenn sie nicht in der Lage sind, eine gegenwartsbezogene, eine zeitgenössische Interpretation Luthers zu liefern?
Gundlach: Man kann ja an den Verkaufszahlen der Bücher und der hervorragenden Studien ja sehen, dass es nicht irrelevant ist. Die Frage, die ich versucht habe zu stellen, ist, wie viel Gemeinschaft, wie viel Unterschiede, wie viel kritische Funktion – Theologiewissenschaft muss kritisch sein – aber wie viel gemeinsame Solidarität und herausfordernder Blick auf Glauben und Glaubensleben heute haben wir gemeinsam, die Evangelische Kirche und einige konkret benannte Wissenschaftler? Das scheint mir die Grundfrage zu sein und die finde ich auch legitim. Dass sie so viel Aufregung auslöst tut uns auch gut auf beiden Seiten. Ich will mir die Kritik, die von den Historikern kommt auch gerne sehr genau angucken und versuchen, das zu verstehen und nachzuvollziehen.
Dittrich: Thies Gundlach, vielen Dank für Ihre Zeit heute Morgen im Deutschlandfunk. Das war der theologische Vizepräsident der Evangelischen Kirche in Deutschland. Wir sprachen über die Rolle der theologischen Wissenschaft für das Reformationsjubiläum.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.