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Zum Start der Münchener Sicherheitskonferenz
Rühe wirft Deutschland "geschichtslose" Sicherheitspolitik vor

Der ehemalige Verteidigungsminister Volker Rühe (CDU) fordert eine stärkere Rolle Deutschlands in der europäischen Sicherheitspolitik. "Wir müssen bereit sein, dasselbe Risiko zu tragen wie andere auch", sagte er im Dlf. In Europa lebe man in einer Schicksalsgemeinschaft - gerade angesichts der neuen Rolle der USA.

Volker Rühe im Gespräch mit Christine Heuer |
    Rühe mit Handbewegung bei einer Rede
    Volker Rühe, ehemaliger deutscher Verteidigungsminister (imago / photothek)
    "In Sicherheitskonferenzen sind wir weltklasse, aber was unsere eigenen Streitkräfte angeht und die strategische Analyse, was wir leisten müssen - da sind wir so schwach wie kaum jemals zuvor," sagte der CDU-Politiker. Wenn Deutschland bei sich keine Ordnung schaffe, sei es auch schwierig, in Europa zu Ergebnissen zu kommen.
    "Der europäische Beitrag muss steigen"
    Man müsse darauf schauen, was andere Staaten aufwenden: Großbritannien und Frankreich gäben ein Drittel ihrer Verteidigungsmittel für den nuklearen Bereich aus - ein gerechter deutscher Beitrag müsse dann so aussehen, "dass wir die stärksten konventionellen Kräfte stellen - das tun wir aber nicht", kritisierte Rühe.
    Nach der Wende habe man in Verhandlungen mit der damaligen Sowjetunion erreicht, dass Deutschland bis zu 370.000 Soldaten haben könne - heute seien es gerade mal 170.000. "Das ist geschichtslos", meint Rühe. Das, was die USA zwischen 1949 und 1989 in Europa geleistet hätten, könne man nicht als gesetzt ansehen. "Der europäische Beitrag muss steigen".
    Kritik an Merkel und von der Leyen
    Bei der Ausstattung der Streitkräfte gehe es nicht nur ums Geld: "Es geht darum, dass wir bereit sind, dasselbe Risiko zu tragen", sagte der Ex-Verteidigungsminister. Man müsse eine "politische Bindungswirkung" erreichen, "dass andere sich auf uns verlassen können". Das sei bisher am Kanzleramt und an der Bundesverteidigungsministerin gescheitert.
    Mit Blick auf den INF-Vertrag, der vor dem Aus steht, forderte Rühe von Bundeskanzlerin Angela Merkel "klare Worte", dass es in Europa und Deutschland keine Stationierung von Atomraketen geben werde. "Wir sind nicht mehr das schwache Europa der Nachkriegszeit". Es brauche eigene Initiativen.

    Das Interview in voller Länge:
    Christine Heuer: Mit dem CDU-Außenpolitiker und ehemaligen deutschen Verteidigungsminister Volker Rühe sprechen möchte. Guten Morgen, Herr Rühe!
    Volker Rühe: Guten Morgen, Frau Heuer!
    Heuer: Jörg Lau hat neulich in der "Zeit" geschrieben, es herrsche eine tiefe Verunsicherung in Berlin, die Außenpolitik, das ist jetzt ein Zitat, "wird zum Leben im Wolfserwartungsgebiet voller neuer Gefahren". Erleben Sie das auch so oder ähnlich?
    Rühe: Also den Vergleich mit den Wölfen habe ich noch nicht gehört, es gibt aber mangelnde Orientierung, mangelnde Führung, und ich muss sagen, in Sicherheitskonferenzen sind wir Weltklasse. Wolfgang Ischinger macht einen tollen Job, aber was unsere eigenen Streitkräfte angeht und die strategische Analyse, was wir für die Zukunft leisten müssen, damit Europa stärker für sich selbst sorgen kann, da sind wir so schwach wie kaum jemals zuvor.
    "Ein gerechter deutscher Beitrag zur europäischen Verteidigung"
    Heuer: Meinen Sie damit jetzt Berlin oder Europa?
    Rühe: Ich meine jetzt vor allem in Berlin, und wenn Berlin seine Dinge nicht ordnet, dann ist es auch schwer, in Europa zu Ergebnissen zu kommen. Wir müssen ja mal schauen, was die anderen Staaten aufwenden. Eine der Thesen, die ich vertreten habe, ist: Die Engländer, die Franzosen, die geben ein Drittel alleine aus für den nuklearen Bereich, und deswegen ist es eigentlich kristallklar, dass ein gerechter deutscher Beitrag zur europäischen Verteidigung darin bestehen muss, dass wir die stärksten konventionellen Kräfte stellen müssen, und das tun wir nicht. Das müssen auch Kräfte sein, die nicht nur auf dem Papier stark sind, sondern in der Realität. Das heißt, Helmut Kohl hat ja – und darauf war er zu Recht immer sehr stolz – 1990 in den Verhandlungen mit der Sowjetunion erreicht, dass wir bis zu 370.000 Soldaten haben dürfen, als Obergrenze. Das war seine Vision von dem zukünftigen Beitrag. Heute sind wir 170.000, und allein die Vorstellung, auf 200.000 zu gehen, ist sehr schwierig. Das zeigt, wie sehr wir das vernachlässigt haben. Und geschichtslos ist das eben, weil man das, was die Amerikaner zwischen 1949 und 1989 in Europa geleistet haben, das kann man nicht für immer einfach setzen – 2019 oder gar noch später. Der europäische Beitrag muss steigen, damit wir auch Paten einer Zukunft bleiben können. Also geschichtslos und orientierungslos ist das, was wir erleben, gerade auch in Deutschland.
    "Dasselbe Risiko tragen wie andere europäische Nationen"
    Heuer: Herr Rühe, nun möchte Ursula von der Leyen ja auch gerne viel mehr Geld für die Bundeswehr haben, für mehr Personal, eine bessere Ausrüstung, da sind Sie sich dann einmal einig mit der jetzigen Verteidigungsministerin?
    Rühe: Ja, aber es geht auch nicht nur um das Geld, sondern es geht darum, dass wir bereit sind, dasselbe Risiko zu tragen wie die anderen europäischen Nationen – das tun wir nicht. Warum üben nicht deutsche und französische Luftverbände gemeinsam? Das letzte Mal, dass wir zusammen deutsche und französische Soldaten im Ausland in einer Kaserne stationiert hatten, war in Rajlovac, also in Sarajevo. [unverständlich ...] in den 90er-Jahren. Und der weitere Punkt ist auch, wir haben nicht mehr rein nationale Armeen, wir werden aber nie eine europäische Armee haben, denn dann müsste man eine europäische Regierung haben. Aber wir haben Fähigkeiten, wo sich der eine auf den anderen verlassen muss. Nehmen wir AWACS, das beste Beispiel, wo elf Nationen in einem Flugzeug Aufklärung betreiben. Zweimal ist die Bundesregierung aus diesen Flugzeugen herausgegangen, und deswegen brauchen wir eine gesicherte Zur-Verfügung-Stellung dieser Fähigkeiten, die uns nicht alleine gehören. Ich habe auch eine Kommission geleitet, die vor drei Jahren ein Ergebnis produziert hat, um hier eine politische Bindungswirkung zu erreichen, dass die anderen sich auf uns verlassen können. Das ist gescheitert am Kanzleramt und an der Verteidigungsministerin. Also deutsche Defizite nicht nur bei den Finanzen, sondern beim Risikotragen und auch bei der gesicherten Zur-Verfügung-Stellung europäischer Fähigkeiten.
    "Mangelnde deutsche Fähigkeit, auf die Franzosen zuzugehen"
    Heuer: Emmanuel Macron hat den Deutschen ja nun sehr oft immer wieder die ausgestreckte Hand hingehalten, auch mit Blick auf eine stärkere Zusammenarbeit in der Verteidigung. War es – das muss ich Sie eigentlich gar nicht fragen, ob Sie es für einen Fehler halten, dass Angela Merkel da nicht eingeschlagen hat, ich stell die Frage mal anders: Nach München kommt Emmanuel Macron nicht. Ist das schon ein Signal, dass die Zeit abgelaufen ist, dass Angela Merkel nicht mehr handeln kann?
    Rühe: Das weiß ich nicht, aber ich meine, wenn man den Europäern klarmachen kann, dass wir in einer Schicksalsgemeinschaft leben, dass dann doch im Bereich der Sicherheit viele finanzielle Fragen um den Euro herum sind, sehr viele komplizierte. Deswegen ist die mangelnde deutsche Fähigkeit, hier auf die Franzosen zuzugehen und einen gemeinsamen europäischen Weg auch in der Sicherheitspolitik zu finden, gleiches Risiko zu tragen, ein ganz schwerer Fehler. Oder nehmen Sie die Rüstungsexportpolitik: Es kann ja nicht jedes europäische Land alles selbst produzieren, also produzieren wir gemeinsam, auch mit den Franzosen. Und da muss es auch möglich sein, zu einer gemeinsamen Exportpolitik zu kommen. Sind wir prinzipiell moralischer als die Franzosen, hab ich gefragt? Ich glaube nicht, aber wir tun so. Und da macht man einen Aachener Vertrag, wo drinsteht, wir müssen uns hier annähern, und in der Realität, wenn es um Saudi-Arabien geht, gibt es nicht den Versuch zu einer gemeinsamen europäischen Linie.
    "Führen heißt eben auch, Unpopuläres zu sagen"
    Heuer: Warum, glauben Sie, ist das so, Herr Rühe? Also Sie beklagen das, aber warum, glauben Sie, ist das so? Hören die in Berlin einfach den Schuss nicht?
    Rühe: Weil man sich einfach anpasst an die Gefühle, die wir hier haben, und wie man am leichtesten fertig wird in der Diskussion, statt zu führen. Und Führen heißt eben auch, Unpopuläres zu sagen. Natürlich ist das populärer, wenn Sie sagen, wie liefern nicht, wenn so schlimme Dinge passieren, wie das mit Saudi-Arabien der Fall ist. Aber man muss den Leuten auch klarmachen, wichtiger wäre es noch, dass wir eine gemeinsame europäische Position haben, auch wenn das dann nicht zu 100 Prozent die deutsche Position ist. Und diese Anstrengung macht man nicht, diesen Mut hat man nicht, auch zu sagen, wenn die Franzosen und die Engländer in Syrien interveniert haben, als es um Chemiewaffen ging, da müsste eigentlich auch Deutschland an ihrer Seite stehen und Luftwaffenverbände haben, die so etwas vorher rechtzeitig trainieren.
    Heuer: Donald Trump liebäugelt ja damit, die NATO zu verlassen, unter anderem auch, weil er findet, die Europäer geben nicht genug Geld für das Bündnis aus. Wie sicher sind Sie, dass die NATO Bestand haben wird?
    Rühe: Ich bin sicher, dass sie Bestand haben wird, denn es ist natürlich auch ein Interesse der Amerikaner, dass auf dieser Seite des Atlantiks Stabilität herrscht, Freiheit herrscht. Aber wir sind nicht mehr das schwache Europa der Nachkriegszeit des Zweiten Weltkriegs, und eigentlich ist es schlimm, dass ein Mann wie Trump hier so wirkt, als ob er den Europäern dies beibringen muss. Man hätte selbst frühzeitig – aber daran mangelt es eben, an eigener rechtzeitiger Initiative, gilt auch für den INF-Vertrag – eigene rechtzeitige Initiative, um sich auf die Situation einzustellen. Was man nicht erklärt, das kann man auch nicht durchsetzen, und ich glaube, man kann den Deutschen das schon erklären, wie wichtig das ist, europäische Schicksalsgemeinschaften der Sicherheitspolitik zu haben, mit einem angemessenen deutschen Beitrag.
    Heuer: Also ein bisschen verstehen Sie Donald Trump schon?
    Rühe: Ja, aber ich bin wirklich kein Fan von ihm, und ich finde es eigentlich schlimm, dass er uns so was sagen muss. Ich fände es viel richtiger, wenn wir ihm sagen können, hör mal zu, wir machen inzwischen sehr viel mehr, und wir sind ein gleichgewichtiger Partner in Europa.
    "Das wäre eine Aushebelung des amerikanischen Parlaments"
    Heuer: Die jüngste Meldung aus der Nacht, Herr Rühe, ist ja, dass Donald Trump den Notstand verhängen möchte in den USA, weil der Kongress ihm, wie er findet, eben nicht genug Geld gibt, um endlich seine Mauer an der Grenze zu Mexiko zu bauen. Wie beurteilen Sie diesen Schritt?
    Rühe: Ich hoffe auf die amerikanische Justiz, denn das wäre natürlich eine Aushebelung des amerikanischen Parlaments, das Budgetrecht würde ausgehöhlt werden. Es passt in diese Reihe, sich von allem zu befreien, also den Vertrag mit dem Iran, den Klimavertrag, auch den IFN-Vertrag. Ich glaube aber, Trump ist nicht das ganze Amerika. Man darf das nicht übersehen, welche Kräfte es in Amerika gibt, und ich denke, dass auch die Vertreter aus dem Senat und dem Kongress, die in München sein werden, das deutlich machen werden, dass sie sich das Budgetrecht nicht beschneiden lassen werden vom Präsidenten.
    Heuer: Ist Donald Trump eine "Loose Cannon"?
    Rühe: Ja, er ist sicherlich eine "Loose Cannon", umso wichtiger ist es, dass wir keine Loose Cannon sind, dass wir überhaupt auch eine Cannon sind und dass wir Europäer berechenbar sind. Ich wünsche mir zum Beispiel in München, dass die Kanzlerin, die lange zugewartet hat, was den INF-Vertrag angeht, also Mittelstreckenraketen, ganz klarmacht, dass wir keine Atomraketen in Deutschland und auch in Europa stationieren werden.
    Heuer: Glauben Sie, das droht sonst?
    Rühe: Ja. Die Verteidigungsministerin, ich weiß nicht, wer sie dazu autorisiert hat, hat in Brüssel nicht ausgeschlossen, dass es solche Stationierungen von Atomraketen geben kann. Ich finde, man konnte sich lange genug auf die Situation vorbereiten. Wir haben auch eine ganz andere historische Situation als in den 80er-Jahren des letzten Jahrhunderts, das darf nicht zurückkehren. Diese Logik – man kann das eigentlich auch so einfach sagen: Früher war Warschauer Vertrag auf der einen Seite, die NATO auf dieser Seite, heute ist Warschau die Hauptstadt eines NATO-Staats, nämlich Polen. Also klare Worte der Kanzlerin, klarzumachen, es wird keine Stationierung von Atomraketen in Deutschland und Europa geben, das würde ich mir eigentlich wünschen von der Münchner Konferenz, denn bisher sind die Töne sehr zwiespältig.
    Heuer: Volker Rühe, Außenpolitiker, Christdemokrat, ehemaliger deutscher Verteidigungsminister. Herr Rühe, haben Sie vielen Dank und einen guten Tag!
    Rühe: Frau Heuer, dafür nicht! Ja, tschüss.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.