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Zum Tod der Holocaust-Überlebenden Eva Mozes Kor
Große Geste des Vergebens

Einen großen Teil ihrer Familie ermordeten die Nazis in Auschwitz. Sie selbst überlebte die grausamen Experimente des Lagerarztes Josef Mengele. Trotzdem setzte sich die gebürtige Rumänin Eva Mozes Kor Zeit ihres Lebens für Aussöhnung und Vergeben ein. Im Alter von 85 Jahren ist sie nun gestorben.

Guido Eckert im Gespräch mit Maja Ellmenreich |
Die Auschwitz-Überlebende Eva Kor sitzt am 21.04.2015 im Gerichtssaal in Lüneburg (Niedersachsen)
"Ich bin die Anwältin jedes Opfers": die Holocaust-Überlebende und Versöhnerin Eva Mozes Kor (1934-2019) (picture alliance / Julian Stratenschulte)
Maja Ellmenreich: Die große Geste des Vergebens, die manchem so unglaublich schwer fällt – das war die Geste von Eva Mozes Kor. Dabei hätten ihr sicher viele alles Recht der Welt zugesprochen, nicht vergeben zu müssen. Als kleines Mädchen stand sie nämlich gemeinsam mit ihrer Zwillingsschwester Miriam an der Rampe des Vernichtungslagers Auschwitz. Eva und Miriam, im Gegensatz zu vielen Verwandten, wurden nicht direkt in den Tod geschickt, sondern dem Lagerarzt Josef Mengele zugeteilt - für seine barbarischen, vermeintlich medizinischen Zwillingsexperimente.
Die Schwestern überlebten. Und Jahrzehnte später begann Eva Mozes Kor, den Tätern zu vergeben. Da habe sie sich nicht mehr machtlos gefühlt, sagte sie einmal in einem Interview:
"I am not a religious person, I am not an angel. I am not a hero. I am an advocate for each victim to have the right to live without pain."
Sie sei weder religiös noch ein Engel, auch keine Heldin. Eva Mozes Kor verstand sich als Anwältin eines jeden Opfers, das Recht zu haben, ohne Schmerz zu leben.
Wie heute bekannt wurde, ist die Holocaust-Überlebende gestern im Alter von 85 Jahren gestorben. Der Schriftsteller Guido Eckert hat mit ihr vor einigen Jahren noch gemeinsam ein Buch geschrieben: "Die Macht des Vergebens" heißt es. Ich habe Guido Eckert gefragt: Worin bestand diese "Macht des Vergebens" bei Eva Kor. Galt sie dem eigenen Seelenheil? Oder war es eine Macht über die Täter?
"Sie hat dem ganzen Volk vergeben"
Guido Eckert: Die Macht des Vergebens – das klingt immer so im Nachhinein gerade. Es klingt ein bisschen wie ein Begriff. Aber für Eva war das ja eine Lebensphilosophie, die man in der Dimension, glaube ich, im Nachhinein gar nicht mehr richtig begreifen kann. Es geht ja nicht darum, dass man einem Nachbarn vergibt, der mal irgendwie einen bösen Blick hatte oder so was, sondern sie hat konkret Menschen vergeben, die ihre ganze Familie zerstört haben und getötet haben, und sie hat auch dem ganzen Volk, der Nation ja auch, vergeben.
Ellmenreich: Was hat dazu geführt, dass sie plötzlich vergeben konnte und auch wollte? Sie ist ja erst mal nach dem Holocaust über Palästina in die USA gegangen, hat dort mit ihrem Mann und ihren Kindern gelebt, und dann plötzlich dieses Bekenntnis zur Vergebung. Was hat dazu geführt?
Eckert: Ich denke nicht, dass es plötzlich war. Wie so vieles bei ihr sind das schon Lebensprozesse, und als ich sie kennengelernt habe, mit ihr gearbeitet habe, merkte man ja auch, dass Auschwitz nicht irgendeine historische Dimension ist, die sie so abgeheftet hat, sondern sie lebte ja konkret immer noch darin. Jahrelang hat sie Vorträge gehalten über Auschwitz und merkte, dass sie immer mehr in eine objektive Distanz hineingerät. Und dann gab es einen Vorgang bei einem Vortrag – ich habe leider jetzt nicht mehr ganz konkret im Auge, wie es war -, aber sie musste plötzlich unglaublich heulen. Und da merkte sie: Sie muss noch mal anders an diese ganze Sache heran, und da ist sie hineingerutscht in diese Vergebung.
"Sehr vielen Menschen Mut gegeben"
Ellmenreich: Sie sprechen von einer Objektivität. Sie hat sich aus dieser Ohnmacht von damals befreit. Könnte man es so vielleicht beschreiben?
Eckert: Ja! Für sie gab es keine andere Möglichkeit. Sie hat gesagt: Entweder bleibe ich in dieser Opferrolle mein ganzes Leben lang hängen. Das war übrigens auch ein Punkt, weshalb sie begonnen hat, auch darüber hinauszugehen. Sie hat ja auch versucht, mit anderen Menschen in Kontakt zu treten, die in irgendeiner Weise gedemütigt und verletzt worden sind, und ist dann aus ihrer Position herausgegangen und hat gesagt: Pass auf, wenn ich das überlebt habe, dann kannst Du das auch. Und das hat sehr vielen Menschen Mut gegeben.
Man muss auch dazu sagen, dass Eva innerhalb der Holocaust-Überlebenden ja auch sehr umstritten war. Sie hat sich ja auch sehr engagiert in der Vergebung zwischen Israelis und Palästinensern, und das ist gerade auch in Israel ein sehr heißes Eisen.
Ellmenreich: Sie haben gerade diese Kritik angesprochen. 1995 hat Eva Kor bei Gedenkfeierlichkeiten in Auschwitz eine Art Deklaration verlesen mit dem Tenor, dass sie allen Nazis vergebe, und dafür hat sie nicht nur Bewunderung, wie Sie gerade sagten, aber auch heftige Kritik geerntet. Warum genau?
Eckert: Viele haben das empfunden als Generalabsolution, als ob das jetzt alles vergessen wäre, damit ist dieses Thema zu Ende. Viele Überlebende können das nicht und wollen das auch nicht.
Es gab ja auch sehr anrührende Situationen, als der Prozess mit Gröning war. Gröning hat sie ja auch geküsst. Das sind Kleinigkeiten, die immer ein bisschen untergegangen sind, wo man auch merkte: Das ist eine menschliche Dimension, die wir nie richtig begreifen können, was dort auch alles dahinter war. Eva war keine spirituelle Person, aber man merkte, dass es dabei um Dimensionen geht, die weit über eine historisch-philosophische Dimension hinausreichen.
"Sie war eher eine konservative Person"
Ellmenreich: Sie hat sich gegen das Vergessen ausgesprochen, aber für das Vergeben. Was hat sie denn für das Erinnern, gegen das Vergessen sonst noch getan?
Eckert: Sie war sehr, sehr engagiert. Sie ist überall herumgefahren, hat immer wieder über ihre Geschichte erzählt. Manchmal habe ich auch gar nicht verstanden, woher sie die Kraft hatte. Sie war in der ganzen Welt unterwegs, bis ins hohe Alter hinein.
Ellmenreich: Wissen Sie, wie Eva Mozes Kor auf den gegenwärtigen Aufschwung des Rechtspopulismus insbesondere in Europa reagiert hat?
Eckert: Sie war auch sehr besorgt, auch in Amerika, das ist sehr interessant. Eva war auch in sich sehr gespalten und umstritten. Ich glaube, sie war politisch zum Beispiel eher eine konservative Person. Jetzt wage ich mich selber aus dem Fenster, aber ich glaube, sie war nicht mal eine unbedingte Gegnerin der Republikaner in Amerika. Aber wenn es um Faschismus ging und um Rechtsradikalismus, da hatte sie natürlich eine ganz klare Haltung.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.