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Zum Tod des israelischen Schriftstellers Amos Oz
Ein Mahner zwischen allen Fronten

Als Spross hochgebildeter osteuropäischer Zuwanderer hatte sich Amos Oz jahrzehntelang in seinem literarischen Werk wie in Essays, Artikeln und Interviews mit dem Judentum und seinem Heimatland Israel auseinandergesetzt – mit überaus kritischer Vehemenz und großer Herzenswärme. Nun ist der mehrfach preisgekrönte israelische Autor im Alter von 79 Jahren verstorben.

Von Angela Gutzeit |
    Der israelische Schriftsteller Amos Oz sitzt auf einer Bank und blickt in die Ferne
    Der israelische Schriftsteller Amos Oz (imago/Leonardo/Cendamo Leemage)
    Oz‘ umfangreiches literarisches und essayistisches Werk ist eng verbunden mit der Geschichte Israels. Wie kann es auch anders sein in einem Land, das sich auch nach 70 Jahre seiner Staatsgründung noch im permanenten Ausnahmezustand befindet? Ein innerlich zerrissenes Land. Wahrscheinlich sogar heute mehr denn je. Angesiedelt auf einem Stück Erde, dass zwei Völker für sich beanspruchen, Israelis und Palästinenser. Unversöhnlich aneinander gekettet, hat dieser israelisch-arabische Existenzkampf mit seiner religiösen Aufladung das Potential zu einem Weltenbrand.
    Aber Amos Oz‘ Schreiben und Denken war auch tief geprägt von dem Schicksal seiner Familie und einem europäisch grundierten, kosmopolitischen Judentum. "Auf der Werteskala meiner Eltern galt", so schrieb er in seinem Opus Magnum "Eine Geschichte von Liebe und Finsternis", "je westlicher, desto kultivierter". Und weiter:
    "Tolstoj und Dostojewski standen ihrer russischen Seele nahe, und doch vermute ich, Deutschland erschien ihnen – trotz Hitler – kultivierter als Rußland und Polen, während Frankreich wiederum Deutschland übertraf. (…) Europa war ihnen ein verbotenes verheißenes Land, ein Sehnsuchtsort – mit Glockentürmen und kopfsteingepflasterten alten Plätzen."
    Aufgewachsen zwischen Weltverbesserern, Gelehrten und Zionisten
    Amos Oz wurde 1939 in Jerusalem in einen familiären Kosmos hineingeboren, der bevölkert war von den Gestalten Dostojewskis, Tolstois und Tschechows. Das traf zu auf ihre gelebte Realität wie auf ihre endlosen literarischen, philosophischen und politischen Debatten. Sein Vater kam aus Odessa, seine Mutter aus Polen. Menschen, die der wachsende Antisemitismus in Europa noch vor dem großen Massenmorden ins Heilige Land geschwemmt hatte. Überlebende, hochgebildet, die mehr als ein Dutzend Sprachen beherrschten, und dann in einer Jerusalemer Kellerwohnung hausten, umgeben von ihren unzähligen Büchern in vielen Weltsprachen. In der Nachbarschaft andere Gestrandete – Weltverbesserer, Prediger, Ideologen, Gelehrte, Zionisten der verschiedensten Couleur. Zwischen Anspruch und Wirklichkeit tat sich bei vielen von ihnen ein Abgrund auf. "All das war Tschechow", ist in "Eine Geschichte von Liebe und Finsternis" zu lesen, "auch das Gefühl des Lebens im Abseits". Wie bei den Eltern, die den Anschluss nicht fanden. Der Vater erhielt, wie erhofft, keine Professur, sondern fristete sein Berufsleben in einer Bibliothek. Die Mutter nahm sich 1952 das Leben, als das einzige Kind, Amos Oz, der eigentlich Amos Klausner hieß, gerade mal 12 Jahr alt war. Danach brach er aus Verzweiflung, Ratlosigkeit und Hass eine Zeit lang den Kontakt zu seinem Vater ab. Er hielt ihn, aber auch sich selbst für schuldig am Tod der Mutter. Er wechselte den Namen und lebte für Jahrzehnte in der Gemeinschaft eines Kibbuz‘. Der Kibbuz sei für ihn eine Schule des Lebens gewesen, wie Amos Oz immer wieder betonte, eine Lehranstalt, die ihm für sein Schreiben tiefe Einsichten über die vielfältige Natur des Menschen beschert habe.
    Der Weltbestseller "Eine Geschichte von Liebe und Finsternis"
    Für das Verständnis von Amos Oz‘ Werk ist es nicht schlecht, wenn man diese biografischen Wegmarken kennt. Deshalb bietet sein Weltbestseller "Eine Geschichte von Liebe und Finsternis" einen idealen Zugang zu diesem Autor. Dieses Buch verbindet die Geschichte Israels mit der seiner Familie. Tief eingeschrieben ist ihm die Trauer über den Verlust der Mutter. Nach Jahrzehnten des Schweigens schrieb Amos Oz hier zum ersten Mal über ihren Freitod und seine möglichen Gründe. Versteht man ihn richtig, dann war es wohl vor dem Hintergrund des Verlusts von Freunden und Verwandten durch den Holocaust ein langsames Verstummen in einem Land, das dieser so begabten Fania Klausner offensichtlich fremd blieb.
    Das alle ist autobiografisch. Aber Vorsicht! Oz selbst bezeichnet dieses Buch mit seinen vielen Gestalten und Ansichten über Judentum, Zionismus, jüdische Identität, über den Staat Israel und sein Selbstverständnis in Abgrenzung zum arabischen Umfeld als Roman. Aber auf welche Weise dieser Autor die vielen Gestalten in seinem Buch zeichnet, sie reden, sie in ihrem Denken, ihren Konflikten und ihrem Wandel auftreten lässt und in eine Stimmenvielfalt der Debatten und Auseinandersetzungen einbettet, das hebt sie über das rein Autobiografische weit hinaus . Amos Oz war ein Meister der literarischen und essayistischen Debattenkultur. Dahinter verbirgt sich ein Verständnis von Literatur, Kultur, Politik und menschlichem Miteinander, das sich als zutiefst demokratisch erweist, da es jeder Stimme Wert und Bedeutung zumisst, eine Haltung, die Amos Oz als dem Jüdischen inhärent definierte. Die Gemeinsamkeit der Juden sei nicht in der Religion zu finden, sagte er einmal, sondern in der Buchkultur und dem Ringen um das beste Argument. Voraussetzung dafür aber sei Empathie, das Vermögen, sich in Andere hineinzuversetzen. Dafür sei Literatur die beste Lehrmeisterin, wie Amos Oz einmal in einem Gespräch sagte:
    Amos Oz:
    "The use of literature (…) Literatur ist dazu da, den Leser sich vorstellen zu lassen, er sei jemand anderes. Am Morgen aufzuwachen und zu denken, was wäre, wenn ich "er" wäre, was wäre, wenn ich "sie" wäre, was wäre, wenn ich einer, nein, vier Brüder Karamasow wäre – darum geht’s in meinen Augen bei der Literatur. Literatur hat mit Neugier zu tun. Ich halte Neugier unter anderem für eine moralische Tugend. Neugierige Menschen sind bessere Menschen als Menschen, die nicht neugierig sind – weil sie sich fragen, wie es ist, "er" zu sein, "sie" zu sein. Nicht, um die andere Wange hinzuhalten, nicht um der universellen Liebe wegen, an die ich nicht glaube, sondern um der Empathie willen. (…) Ich habe herausgefunden, dass ich in meinem Inneren mehr als nur eine Persönlichkeit beherbergen kann. Ich bin der Überzeugung, dass jedermann das kann. Die meisten Menschen wollen es nur nicht. Und das ist ein Jammer."
    Unwirkliche, unheimliche Romane
    Und so geht es in den Romanen dieses großen israelischen Schriftstellers immer wieder um die Konkurrenz unterschiedlicher Positionen, die er gegeneinanderstellt. Er schafft Figuren, die er immer wieder in einen Konflikt der Ideen schickt. So wie in seinem großartigen und in Israel vieldiskutierten Roman "Judas".
    Es geht um vier Figuren, von denen einer schon verstorben und trotzdem mit von der Partie ist. Das Unwirkliche, Abgründige und manchmal auch Unheimliche ist eine nicht selten anzutreffende Zutat in Oz‘ Romanen. Diese Figuren sind in einem Haus zusammenkommen und bringen sehr unterschiedliche Ansichten zu Gehör, zum Beispiel über Staat und Nation. Wobei der eine, der junge Schmuel Asch eher ein Idealist ist und zunächst glaubt, dass alle Menschen Brüder werden könnten, und der Staat Israel keine Grenzen benötige. Wogegen der alte Gershom Wald nicht einsieht, warum gerade die Juden, die nach Diaspora und Shoah zum ersten Mal die Chance haben, einen eigenen Staat zu bilden, sich diesem Experiment aussetzen sollten. Dieser Streit vermischt sich mit einem religiösen Motivstrang. Denn Schmuel Asch schreibt an einem Buch über Jesus und kommt zu dem Schluss, dass Judas keineswegs ein Verräter war, sondern wohl derjenige, der Jesus am meisten liebte und fest daran glaubte, dass er am Kreuz nicht sterben, sondern von diesem unversehrt herabsteigen würde. Da er es nicht tat, spricht der junge Gelehrte Jesus folgerichtig die Existenz als Gottes Sohn ab. Ein interessantes biografisches Detail ist in diesem Zusammenhang, dass der jüdische Gelehrte Joseph Klausner, Amos Oz‘ Onkel, einst ein skandalumwittertes Buch über Jesus schrieb, in dem er behauptete, Jesus sei ein Mensch gewesen und habe keineswegs eine Religion begründen wollen.
    "Judas" kann also auch als ein Roman bezeichnet werden, der untergründig in Korrespondenz steht mit Schriften aus der eigenen Familie, und darüber hinaus eine Umdeutung der Judas-Geschichte des Neuen Testaments vornimmt. Im Großen und Ganzen ist es ein Roman über Verrat und Liebe, über Streit, Zweifel und die Möglichkeit des Wandels, wie Oz einmal ausführte.
    Oz:
    "Ich schreibe einen Roman, um jeden meiner miteinander in Widerstreit liegenden Protagonisten mit ausreichend Empathie und Unterstützung auszustatten. (…) Sodass auf der einen Seite Abrabanel und seine Tochter Atalja stehen, die die Schaffung eines jüdischen Staates als Katastrophe betrachten. Aber es gibt jetzt auf der anderen Seite auch Gershom Wald und schließlich auch Schmuel, die glauben, dass es verrückt ist, zu erwarten, dass die Juden nach den Pogromen, den Verfolgungen und dem Holocaust der Nazis als einziges Volk der Welt ohne Gitter vor ihren Fenstern und Schlössern an ihren Türen leben sollen. Warum sollten sie? Sie haben einen hohen Preis dafür bezahlt, der Welt vorzuführen, wie es ist, als Volk keine Heimat zu haben. Das soll sich nie mehr wiederholen. Beide Argumentationslinien werden im Roman höchst überzeugend dargestellt. Sie wiedersprechen sich, aber ich hoffe, sie wirken überzeugend."
    Zerrissene, gestrandete, aber auch komische Figuren
    Dieses widerstreitende, dialogische Konstruktionsprinzip bildet eine Konstante in Amos Oz Werk. Aber auf der anderen Seite sollte man auch seine inhaltliche und ästhetische Vielfalt betonen. In seinen frühesten Romanen "Keiner bleibt allein" und "Ein anderer Ort" aus den 60er Jahren setzt sich Oz mit dem Leben von Juden im Kibbuz auseinander, mit den Schwierigkeiten zwischen den Generationen und den Tabubrüchen der Jungen, wobei – wie auch unter anderem im Roman "Mein Michael" - Sinnlich-Erotisches wie auch Phantastisches in die realistisch- nüchterne Ebene des politischen Zeitgeschehens oder des philosophischen Reflektierens einbrechen können. Und es sind oft, wie bei seinem Vorbild Tschechow und wie er sie auch in seiner eigenen Familie und dem Umfeld seiner Kindheit vorgefunden hat, eigensinnige, verstiegene, zerrissene, gestrandete, aber auch komische Figuren, die seine Romane bevölkern.
    Amos Oz war nicht immer glücklich damit, dass sein politisches Engagement in der Regel stärker beachtet wurde als sein literarisches Werk und dessen ästhetische Vielfalt, bzw., dass man sein literarisches Werk vorzugsweise durch die politische Brille betrachtete. Wenn er eingeladen wurde, wie oft auch nach Deutschland, geschah es nicht selten, dass das Gespräch über einen seiner Romane schnell zur Situation in Israel und Palästina überwechselte. Aber andererseits hat Amos Oz nie mit seiner politischen Meinung hinter dem Berg gehalten. Im Gegenteil. Er, der als Soldat am Sechstage- wie am Jom-Kippur-Krieg teilnahm, der sich vom konservativen "Israel-first"- Pionier zum linken Friedensaktivisten wandelte, hat beispielsweise in unzähligen Essays zum Nahostkonflikt Stellung genommen. Aber – wie schon angesprochen – sind eben auch seine Erzählungen und Romane durchaus von diesem für Israel existentiellen Thema geprägt.
    Israel-Palästina-Konflikt auf die Shakespeare‘sche Art beenden
    Für die Lösung des Israel-Palästina-Konflikts hatte Amos Oz eine ironische Formel mit todernstem Hintergrund parat: Das Problem, so seine Worte, sei entweder auf die Shakespeare‘sche Art zu beenden, dann blieben lauter Leichen zurück. Oder á la Tschechow. Dann würden alle weiterleben, seien zwar unzufrieden und verbittert, aber immerhin lebendig! Und so trat er für eine friedliche, dialogbereite Koexistenz von Israelis und Palästinensern nach dem Zweitstaaten-Modell ein. Empathie, Humor, Selbstkritik sollten die Oberhand haben im Dialog mit Andersdenkenden. Oz gab sich allerdings auch keinerlei Illusionen hin hinsichtlich des Zusammenlebens mit den Palästinensern. Dafür sei zu viel Blut geflossen und zu viel Hass gesät worden. Und er fand harsche Worte für die Unnachgiebigen und Militanten auf beiden Seiten. Vor allen Dingen aber schonte er die eigene Regierung nicht, überzog zuletzt den Ministerpräsidenten, sowie die jüdischen Siedler und die Ultraorthodoxen mit heftigen Vorwürfen.
    Oz:
    "Well, I need (…) Ich brauche eine Lupe, um den kleinsten Unterschied zu erkennen zwischen europäischen Neonazis, islamistischen Neonazis und jüdischen Neonazis. Den Begriff "Nazis" habe ich nie verwendet. Die Nazis waren etwas Einzigartiges, eine andere Art Mensch. Ich glaube nicht, dass diese gewalttätigen, fanatischen Siedler Nazis sind. (…) Leider sind Neonazis aber sehr weit verbreitet. Und wir Israelis sind nicht immun dagegen. Wir haben sie auch."
    "Ich liebe Israel, auch wenn ich es nicht ertragen kann"
    Und so wurde Amos Oz für nicht wenige in seinem Land zum Verräter, zum Judas. Aber er ließ sich nicht beirren. Oz war der Meinung, dass die Zeit drängen, dass Israel auf einem Pulverfass sitzen, die Regierung aber auch im 70. Jahr der Existenz des Staates keine Einsicht in die Notwendigkeit einer friedlichen Lösung zeigen würde. In seinem vor wenigen Monaten erschienenen Buch "Liebe Fanatiker. Drei Plädoyers" ist zu lesen:

    "Wenn es hier nicht bald zwei Staaten geben wird, ist es ziemlich wahrscheinlich, dass hier, um die Gründung eines arabischen Staates vom Mittelmeer bis zum Jordan zu verhindern, eine Diktatur extremistischer Juden, eine fanatische, rassistische Diktatur entsteht, die mit eiserner Hand sowohl die Araber als auch ihre jüdischen Gegner unterdrücken wird. Eine solche Diktatur wird sich jedoch nicht lange halten. In der Neuzeit hat sich fast keine Diktatur einer Minderheit über eine Mehrheit lange gehalten. Und so wird uns am Ende dieses Wegs ein arabischer Staat vom Mittelmeer bis zum Jordan erwarten und zuvor vielleicht noch ein internationaler Boykott oder ein Blutbad oder beides."
    Israelis und Palästinenser hätten ein Anrecht auf dasselbe Land, schrieb er ein ums andere Mal. Und deshalb müssten sie sich dieses Land teilen und ihre unterschiedlichen Positionen aushalten. Dass ein friedliches, wenn auch vielleicht zähneknirschendes Nebeneinander der verfeindeten Völker immer weiter in die Ferne rückt, als Gestalt anzunehmen, und das sein Land sich unfähig erweist zum Kompromiss, gehört zur bitteren Erkenntnis dieses bedeutenden israelischen Erzählers, überzeugten Patrioten, großen Kosmopoliten und Menschfreunds. Hätte er ansonsten am Ende des Buches "Liebe Fanatiker" diesen Satz geschrieben? "Ich liebe Israel, auch wenn ich es nicht ertragen kann."