Archiv

Zum Tod des Komponisten Dieter Schnebel
Neugierig auf ungehörte Töne

Für den Komponisten Dieter Schnebel war Musik untrennbar verbunden mit Psychologie und Körpersprache. Seine Stücke für menschliche Stimme bestehen vor allem aus Atmen, Röcheln, markerschütternden Schmerzensschreien. An Pfingsten ist Dieter Schnebel gestorben, er wurde 88 Jahre alt.

Von Andreas Göbel |
    Der Komponist Dieter Schnebel
    Der Komponist Dieter Schnebel (imago / Kai Bienert)
    Er selbst bezeichnete sich als Optimisten. Einzelgänger wäre ebenso passend. Dieter Schnebel gehörte keiner musikalischen Richtung an. Schubladendenken war ihm zeitlebens fremd, dazu war er einfach zu neugierig auf bislang ungehörte Klänge.
    Musik als isoliertes Fach konnte ihn nicht zufriedenstellen. Er studierte daneben noch Philosophie und Theologie und war sogar zwei Jahrzehnte als Pfarrer und Religionslehrer tätig. Vor allem aber interessierte es ihn, seine Eindrücke und Erfahrungen weiterzugeben:
    "Ich war eigentlich mein ganzes Leben lang Pädagoge und bin es, wenn man so will, auch heute noch, und die andere Seite ist wohl das Nachdenken über Musik, über Gott und die Welt. Das war in meinem Leben immer wichtig."
    Markerschütternde Schmerzensschreie
    Schnebel versuchte immer, über die Musik hinauszudenken. Sie war für ihn untrennbar verbunden mit Psychologie und Körpersprache. Seine Kompositionen für menschliche Stimme bewegen sich zwischen Tönen und Sprache, sind vor allem aber elementare Lauterzeugungen des Stimmapparats, von Atmen und Röcheln bis hin zu markerschütternden Schmerzensschreien. Gesang konnte er das nicht mehr nennen. Er entschied sich für den Begriff "Maulwerke".
    Mitte der 70er-Jahre begann Dieter Schnebel, sich gezielt mit der Tradition auseinanderzusetzen. Sein Ziel war es, die Widersprüche zwischen Vergangenheit und Avantgarde aufzuheben. Er beschäftigte sich mehr und mehr mit Formen vergangener Epochen - etwa mit Kanon oder Messe - und bezog sich in seinem Zyklus "Revisionen" explizit auf Werke etwa von Mozart, Schumann oder Mahler. Das zentrale Projekt seines späten Schaffens war die Sinfonie X, ein geradezu monumentales Werk, das weit über dreieinhalb Stunden dauert.
    Musik ist kein Selbstzweck
    "Es ist das umfänglichste Stück, was ich geschrieben habe, und was mir vorschwebte, war schon auch eine Summa von Sinfonischem, eine Synthese all dessen, was in der klassischen und modernen Sinfonik geschaffen wurde und was es an Möglichkeiten noch gibt."
    Die Unbegrenztheit der Möglichkeiten – das ist zeitlebens der zentrale Aspekt für Dieter Schnebel geblieben. Musik war für ihn kein Selbstzweck, sondern Ausdruck gesellschaftlicher, zwischenmenschlicher Beziehungen.
    "Ich glaube, dass Musik sehr wesentlich eine emotionale Kunst ist. Das Material von Musik sind Schwingungen, und das psychische Leben ereignet sich auch sehr stark in Schwingungen. Und da gibt es nun eben einen engen, fast möchte ich sagen: materialen Kontakt zwischen Musik und Emotion, und die tiefste Emotion, die wir haben, ist die Liebe."