Maja Ellmenreich: Er habe eigentlich Dutzende Male den gleichen Roman geschrieben, hat Wilhelm Genazino einmal schmunzelnd gesagt und noch schmunzelnder hinzugefügt: "Und die Leute wollen dieses eine Buch weiterhin lesen."
Ohne dieses Schmunzeln war die Stimme des Schriftstellers Genazino eigentlich nicht zu hören, auch wenn seine Romane von Melancholie und Hoffnungslosigkeit durchzogen waren, wenn seine meist männlichen Protagonisten äußerst empfindsam waren – so wie er selbst:
"Ich war als Kind von total unsensiblen Menschen umgeben, die ganz fix mit ihren eigentlich schrecklichen Erlebnissen fertig waren. Ich saß dann irgendwo in der Ecke und habe diese Leute angeguckt und habe mich gefragt: Wieso ist das bei mir anders als bei den anderen. Und wieso kann ich nicht auch wieder hier auf den Pudding hauen?"
Wilhelm Genazino – u.a. Georg-Büchner-Preisträger des Jahres 2004 – er ist vorgestern im Alter von 75 Jahren gestorben, das wurde heute bekannt. Mit dem Frankfurter Literaturkritiker Martin Lüdke möchte ich jetzt über Wilhelm Genazino sprechen. Dass er nur ein Buch geschrieben habe, Herr Lüdke – war das die übliche Genazino-Koketterie? Oder welche Themen, welche Motive ziehen sich durch sein literarisches Schaffen?
Martin Lüdke: Nein, es war nur ein kleiner Fehler. Denn er hat in Wirklichkeit zwei Bücher geschrieben, und die immer wieder. Die ersten Bücher, die "Abschaffel"-Trilogie und die ersten beiden Romane, noch bei Rowohlt, das waren Romane über die Angestelltenkultur. Und damit ist er erstmal bekannt geworden. Aber er merkte genau, das reicht ihm nicht, das will er nicht. Er möchte kein sozialkritischer Schriftsteller sein, und deswegen hat er dann angefangen, sein zweites Buch zu schreiben, das dann in 15-, 16facher Ausfertigung erschienen ist. Und das sind dann Romane, wie er durch die Städte stromert, wie er guckt, genau beobachtet und dies auch wahnsinnig sensibel empfindet und diese Empfindungen dann sehr genau und präzise darstellt.
Sehr hohe Präzision der Sprache
Ellmenreich: In der Begründung des Büchner-Preises war 2004 die Rede von dem Autor Genazino, der die Unauffälligkeit liebt. Das passt ja auch zum genauen Beobachten der kleinsten Dinge. Mit was für einer Sprache hat er denn diese vermeintliche Unauffälligkeit beschrieben?
Lüdke: In einer relativ sachlichen Sprache, die überhaupt nicht gespreizt, nicht übermäßig auffällig war, sondern eigentlich sich auszeichnete durch diese sehr, sehr hohe Präzision. Der konnte nicht einen Fleck auf einer Hose, sondern er konnte ein Fusselchen auf einer Hose so genau beschreiben, dass es aussah, als sei die ganze Hose defekt. So genau hat man es dann wahrgenommen. Er hat eine unglaubliche Gabe der Beobachtung gehabt und der Fähigkeit, diese Beobachtung in Sprache umzusetzen.
Ellmenreich: Und auch eine Gabe für Humor. Er hat ja u.a. für das Satiremagazin "Pardon" gearbeitet.
Lüdke: Das waren seine Anfänge. Er hat als Schüler noch – in Mannheim hat er Abitur gemacht – als Schüler noch einen Roman geschrieben, der hieß "Laslinstraße". Diesen Roman hat er mir mal geschenkt, und ich habe ihn leider mal verliehen und nicht wiederbekommen. Diese "Laslinstraße" – dazu wollte er nicht stehen, er hat immer dafür gesorgt, dass das nicht auftaucht in seinen Sachen. Das war auch schon so ein bisschen Angestelltenkultur. Dann ist er nach Frankfurt gekommen und hat sich relativ schnell dieser Gruppe um "Titanic" und vorher noch "Pardon" angeschlossen, dieser Neuen Frankfurter Schule - Waechter, Gernhardt, Eilert und Co. – und da ist er als "Domingo" bekannt geworden in den Romanen. Unter "Domingo" stellt man sich auch einen etwas strammeren Burschen vor, und das war Genazino auch. Und so tigerte er durch diese Romane. Aber er hat relativ schnell Distanz zur "Titanic" gewonnen und hat dann den Ehrgeiz gehabt, freier Schriftsteller zu sein. Und er hat alles daran gesetzt, das zu machen. Das waren dann die "Abschaffel"-Bücher und dann die Romane, die vor allem bei Hanser erschienen sind.
Geschichten der Nebenstraßen und Durchgangshallen
Ellmenreich: Der Städtename Frankfurt ist jetzt schon mehrfach aufgetaucht, obwohl ja Wilhelm Genazino 1943 in Mannheim zur Welt gekommen war. Aber doch das geographische Zentrum seines Lebens und seines Schreibens war Frankfurt. Was hat ihn mit der Stadt verbunden bzw. was erfährt man über diese Stadt in seinen Büchern?
Lüdke: Sehr, sehr viel, aber die Geschichte der Nebenstraßen, die Geschichte von einzelnen Supermärkten, von irgendwelchen Durchgangshallen. Auch wieder nicht das Spektakuläre, nicht den Eisernen Steg, sondern eine ganz normale Brücke. Das war eben Genazino, der immer rumlief, der immer durch die Stadt lief. Den halben Tag seiner Arbeitszeit verbrachte er mit Rumlaufen: gucken, genau beobachten, sich Notizen machen. Er hatte immer kleine Zettelchen oben in der Brusttasche, und darauf schrieb er auf. Wenn man ihm zum Beispiel mal einen Roman empfahl, dann holte er einen kleinen Zettel raus und schrieb es auf. Und das hat er dann systematisiert und in kleine Erzählungen umgesetzt.
Ellmenreich: Springen wir nochmal ein bisschen zurück in der Zeit: Wilhelm Genazino war ein später Student, wenn man das so sagen darf. In seinen 30ern hat er nochmal das Studium aufgenommen. Mit welchem Ziel? Was war da sein Impuls?
Lüdke: Was ich schon sagte: Er hat mit der Angestelltenkultur angefangen und wollte dann aber, wie er es fand, richtige Literatur machen, also poetischer schreiben. Aber er merkte auch, dass ihm gewisse Voraussetzungen fehlten. Wir kannten uns da schon, ich habe an der Uni unterrichtet. Er hat auch in meinen Seminaren rumgesessen, er war natürlich einer der ältesten Studenten. Er wollte sich Grundlagen erarbeiten, und er war immer ein unheimlich genauer, ein unheimlich penibler Mann, der sich nicht damit zufrieden gab, Sachen ein bisschen zu wissen oder halbgenau zu wissen. Nein, er wollte es richtig wissen. Und das hat er auch gemacht. Er hat, wenn ich mich richtig erinnere, dann eine Diplomarbeit über Italo Svevo geschrieben, einen Schriftsteller, der auch ein Wahlverwandter sozusagen von ihm war. Und das hat er mit Vergnügen gemacht, aber er hat es auch mit Gewinn für sich gemacht.
Eine einzige Beziehungskrise
Ellmenreich: Martin Lüdke, Sie haben gerade Wilhelm Genazino als peniblen Arbeiter beschrieben bzw. Studenten. Dazu passt vielleicht ein Zitat, über das ich in der Vorbereitung auf unser Gespräch gestolpert bin. Wilhelm Genazino hat mal in einem Interview gesagt, Männer seien die wahren Komplikateure, die ohne die Unterstützung der Frauen verloren wären. Jetzt haben wir die ganze Zeit über die Protagonisten in seinen Büchern gesprochen, wie kommen denn eigentlich die Frauen weg? Was für einen Blick hatte er?
Lüdke: Frauen waren wesentliche Nebenfiguren für ihn. An denen hat er sich abgerieben, an denen hat er sich abgearbeitet. Aber man merkt durch die ganzen Bücher hindurch: Eigentlich ist das eine einzige Beziehungskrise, die sich da durchzieht, mit wechselnden Personen und immer mal anderen Schattierungen. Mal ging es darum, dass man sich nicht über die Art des Essens verständigen konnte. Dann hat die ihm nicht genug gelesen oder zu viel gelesen. Er hatte immer was auszusetzen. Wenn ich es richtig übersehe, dann hat er die allermeiste Zeit seines Lebens alleine gelebt. Er war früh verheiratet, hat eine Tochter, aber wenig Kontakt zu ihnen, denn irgendwo im Süden von Baden leben sie. Und die Tochter ist jetzt in letzter Zeit, als er krank war, immer mal zu ihm gekommen. Aber eine richtige Beziehung zu den beiden hat er nicht gehabt, zu Mutter und Tochter.
Ellmenreich: Liebe und Glück – Sie haben jetzt die Beziehungen gerade angesprochen - die tauchen auch immer in seinen Buchtiteln auf: "Die Liebesblödigkeit", "Das Glück in glücksfernen Zeiten" zum Beispiel. Welches Genazino-Buch – am Ende vielleicht noch eine Empfehlung von Ihnen, Herr Lüdke – welches würden Sie uns jetzt noch mal ans Herz legen?
Lüdke: Das ist wahnsinnig schwer zu sagen. Genazino hat ja, wie ich vorhin schon sagte, zwei Bücher geschrieben: Das eine war sozialkritisch, grob gesagt, das andere waren dann diese sensiblen Beobachtungsbücher. Und da ist es fast gleichgültig, welches man nimmt, was am besten greifbar ist. Und wenn man das dann liest – entweder wird man süchtig, was wahnsinnig Vielen so gegangen ist, oder legt es gelangweilt zur Seite, und dann ist es auch egal. Im Grunde genommen: Mit einem anfangen und dann weitermachen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.