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Zum Tod von André Glucksmann
Der ewige Provokateur

Einer der namhaftesten, provozierenden und umstrittensten Denker unserer Zeit ist 78-jährig gestorben: der französische Philosoph André Glucksmann. Kaum ein anderer Intellektueller hat sich so stark in politische Debatten eingemischt. Seine Waffen: die Rede und das Megaphon. "Diskurs über den Krieg" hieß sein erstes Buch - ein flammendes Plädoyer für den Frieden.

Von Hajo Steinert |
    Der französische Schriftsteller und Philosoph André Glucksmann, aufgenommen am 08.01.2008 bei einer Rede zur Eröffnung des Dahlem Humanties Center der Freien Universität Berlin.
    Der französische Schriftsteller und Philosoph André Glucksmann (Claudia Esch-Kenkel / dpa)
    André Glucksmann entstammt einer Familie mit jüdischen, osteuropäischen Wurzeln. Der Vater stammte aus der Bukowina, die Mutter aus Prag. 1930 gingen die Glucksmanns nach Deutschland. Sie schlossen sich dem antifaschistischen Widerstand an. 1937 flüchteten sie nach Frankreich. Der Sohn André wurde am 19. Juni 1937 in Boulogne-Billancourt geboren, der Vater kam im Zuge des Einmarschs der deutschen Truppen 1940 ums Leben. Die Familie entging der Deportation nach Deutschland nur, weil die Glucksmanns nach der Geburt des Sohnes französische Staatsbürger wurden. - Das sind biografische Urerfahrungen, die Andre Glucksmann weithin geprägt haben.
    Vom Marxisten zum Verteidiger der Demokratie
    Zurück in die Sechziger und Siebzigerjahre des 20. Jahrhunderts. Glucksmann wurde auch von der Linken in Deutschland, den rebellischen Studenten zumal, als Bruder im Geiste, als ihr ‚"Genosse" sowohl physisch – bei seinen Auftritten – als auch intellektuell durch seine schriftlichen Publikationen wahrgenommen.
    1976 erschien in deutscher Sprache sodann allerdings das Buch "Köchin und Menschenfresser – Über die Beziehung zwischen Staat, Marxismus und Konzentrationslager." Eine geistige Wende. Stark beeinflusst von Alexander Solschenizyns Buch "Der Archipel Gulag" fand Glucksmann scharfe Töne der Abrechnung mit dem Marxismus, dem Kommunismus jedweder Prägung. In der philosophischen Schrift "Die Meisterdenker" von 1977 – der deutsche Terrorismus um die Rote Armee Fraktion bewegte sich auf einer mörderischen Spur – in "Die Meisterdenker" stellte Glucksmann eine kühne Verbindung zwischen deutschen Denkern wie Fichte, Hegel und Marx und einem um sich greifenden geistigen Totalitarismus in Europa her.
    Unterstützung für Irak-Krieg
    Der Ideologe Glucksmann entwickelte sich im Verlauf seines Lebens zu einem radikalen Aufklärer, der jeder politischen Ideologie wie auch jeder Religion eine Absage erteilte. "Ideologien sind das Alibi des Hasses" lautete seine Kernthese. Fortan steigert er sich in seinen Büchern, ja, er verstieg sich geradezu in Erklärungsmodelle, weltweit brennende Konfliktherde betreffend.
    Glucksmanns Signalwort, auch ein Buchtitel: "Hass". Er beschreibt den Hass als "die Fähigkeit des Menschen, spontane Wut in seinem Innern zum Monstrum auszubrüten". In diesem Sinne brachte er nach dem 11. September Verständnis auf für den amerikanischen Präsidenten Bush und die militärische Intervention im Irak. Heftig plädierte er für das Selbstbestimmungsrecht der Tschetschenen im Kampf gegen Putins Russland. Im gleichen Atemzug hielt er den westlichen Demokratien vor, tatenlos zuzusehen, wie ein Volk um sein Selbstbestimmungsrecht gebracht wird.
    Für eine gehörige Provokation unter europäischen Intellektuellen sorgte er mit der Unterstützung Sarkozys im Wahlkampf. Er beklagte den Verlust des Vertrauens von Bürgern in die gewählten Vertreter der Politik. Die Versäumnisse der Linken, das blinde Vertrauen in eine Friedensbewegung, die sich einbilde, grundsätzlich ganz ohne Waffen auszukommen, prangerte der ewige Provokateur ebenso an wie die Überbetonung ökologischer Fragen, wie sie auch den Grünen in Deutschland eigen gewesen sei. André Glucksmann verteilte mit den Mitteln des philosophischen und politischen Exkurses zeitlebens Ohrfeigen. Gestern Abend ist er gestorben.