Susanne Luerweg: Holger Czukay hat bei den Berliner Philharmonikern das Bassspiel gelernt, bei Karlheinz Stockhausen Neue Musik studiert und erst einmal gar nichts mit Popmusik zu tun gehabt. Bis er zusammen mit Irmin Schmidt Ende der 60er die legendäre Band "Can" gründete. Czukay war aber nicht nur ihr Bassist, sondern gleichzeitig Radiowellen-Manipulator und Tonband-Zerschnipsler – er hat schlicht Samplingkunst betrieben, bevor dieser Begriff überhaupt in der Welt war. Jetzt ist Holger Czukay im Alter von 79 Jahren gestorben. Er wurde tot im legendären Tonstudio der Band, das sich in seinem Wohnhaus in Köln befand, aufgefunden. Am Telefon ist nun unser Musikkritiker Jens Balzer, mit dem wir auf das Leben von Holger Czukay zurückblicken wollen. Schönen guten Tag, Herr Balzer.
Jens Balzer: Hallo, guten Tag.
Rock ohne angloamerikanisches Vorbild
Luerweg: Herr Balzer, Holger Czukay, der hat quasi als reiner Akademiker angefangen. Und wie ist er dann genau bei der Popmusik gelandet?
Balzer: Ja, über Umwege. Also er hat, wie Sie schon gesagt haben, erst bei den Berliner Philharmonikern das Contrabassspiel gelernt und dann bei Karlheinz Stockhausen in den Darmstädter Ferienkursen für Neue Musik das experimentelle Komponieren irgendwie geübt. Und ein junger Gitarrenschüler von ihm, Michael Karoli, hat ihn dann mit den Beatles vertraut gemacht, mit dem Stück "I Am The Walrus" und dann erklärt, dass das doch eigentlich viel interessanter sei als Stockhausen. Und die Rockmusik, die gewissermaßen dann von "Can" erfunden wurde, hatte dabei eigentlich gar nichts zu tun mit den Beatles oder dem, was man dann so an britischen und amerikanischen Vorbildern irgendwie damals in der Zeit so irgendwie hören konnte. Das war eigentlich die erste Art von Rockmusik, die sich nicht an angloamerikanischen Vorbildern orientierte, sondern versuchte, eine neue Tradition zu begründen. Also Czukay hat mir mal gesagt, ein Musiker hat nur zwei Möglichkeiten: Also entweder die Musikgeschichte zu überbieten oder ganz von vorne anzufangen. Und "Can" haben sich für die zweite Variante entschieden, die wollten ganz von vorne noch mal anfangen.
"Eine unerhört einflussreiche Gruppe"
Luerweg: Und haben ja dann das gemacht, was dann allgemein hin als Krautrock bezeichnet worden ist.
Balzer: Ja, das war so ein Begriff, der kam dann eher so Mitte der 70er Jahre, wurde er von einem britischen Kritiker erfunden. Der Rock, den die Krauts, also die Deutschen, jetzt so machen. Ironischerweise, wie so oft, wurden die Propheten im eigenen Lande nicht so gehört wie dann im Ausland. Also die wirklich großen Erfolge und den größten musikalischen Einfluss hatten dann Can tatsächlich in Großbritannien. Also und dann später auch in den USA. Also zum Beispiel David Bowie hat immer wieder betont, wie wichtig diese Gruppe für ihn gewesen ist, also gerade für die Musik, die er in seiner Berliner Zeit aufgenommen hat, also gerade dieser Minimalismus und dieses repetitive Spiel, das vor allem dann Czukay am Bass und Jaki Liebezeit, der Schlagzeuger, dann irgendwie an seinem Instrument geprägt hat. Also diese wirklich unerhört einflussreiche Gruppe, die natürlich zur Zeit ihres Schaffens wirklich nicht besonders viele Platten verkauft hat, wie das ja so oft bei musikalischen Pionieren ist, also im Grunde so ähnlich wie "Velvet Underground", die ja auch am Anfang wirklich kaum Platten verkauft haben. Aber jeder, der "Velvet Underground" hörte, gründete eine Band. Und so ähnlich ist das bei "Can" dann auch gewesen.
Luerweg: Naja, zum Geldverdienen haben sie dann immerhin ab und zu mal so ein bisschen Filmmusik gemacht, also beispielsweise für Durbridge-Krimis die Musik komponiert. Also von irgendwas mussten sie dann ja auch leben vermutlich.
Balzer: Ja, das sehe ich genauso. Also sie hatten tatsächlich einen Hit, "Spoon" hieß der, das war von einem Francis-Durbridge-Krimi, "Das Messer", ich glaube '71 oder '72 lief das im Fernsehen. Und es gab dann, wenn man sich das genauer ansieht, die waren auch auf so eine ganz drollige Weise integriert und auch in den bürgerlichen Kulturbetrieb so im Westdeutschland der 70er Jahre. Haben dann auch irgendwie die Titelmelodie für die ZDF-Sendung "Aspekte" eingespielt, Mitte, Ende der 70er. Haben dann irgendwie für den Bundespräsidenten Walter Scheel bei diversen Gelegenheiten irgendwie aufgespielt.
Czukay hat das Sampling vorweggenommen
Luerweg: Holger Czukay hat die Band irgendwann verlassen, aber dann tatsächlich, ja, mit wirklichen Größen weitergearbeitet, wie Brian Eno mit Eurythmics. Also da war das auch so ein bisschen dieses Prinzip: Der Prophet im eigenen Land galt nix, aber in der weiten Welt schon?
Balzer: Naja, er hat … Er ist bei "Can" '77 ausgeschieden, ist dann so ein Jahr durch Südostasien getingelt und kam dann '78 zurück. Und arbeitete dann, fing dann an als Aufnahmeassistent in dem Studio von Conny Plank. Ein Produzent, der in der Nähe von Köln ein Studio hatte, wo dann tatsächlich viele dieser Größen, die Sie gerade schon erwähnt haben, aufgenommen haben. Und Czukay hat dann nicht nur zum Beispiel auf dem ersten Album der Eurythmics irgendwie den Bass gespielt, sondern da dann auch angefangen, mit einigen als Solokünstler zu arbeiten. Und da hat er mit ganz elementaren Mitteln, also Tonbandschnipseln und solchen Sachen irgendwie dann gewissermaßen das vorweggenommen, was dann in den 80er Jahren als Sampling bekannt wurde. Also er hat irgendwie Geräusche, vor allem von Radiosendungen aus dem Kurzwellenäther, irgendwie aufgenommen, geschnipselt und dann daraus dann wirklich sehr, sehr interessante, aber natürlich auch sehr fremdartige und sonderbare Melodien gemacht.
Luerweg: Herr Balzer, abschließend: Kann man ganz kurz knapp sagen, Holger Czukay ist gestorben – was bleibt?
Balzer: Ich war heute Morgen wirklich sehr traurig, als ich das gehört habe. Ich glaube, er ist wirklich einer der Väter der deutschen Rockmusik. "Can" war die erste Gruppe, die tatsächlich etwas Eigenes gemacht hat und eine eigene Tradition begonnen hat. Und wie ich schon gesagt habe: Es ist betrüblich, dass irgendwie solche Pioniere im eigenen Land wirklich so wenig wahrgenommen und gewürdigt werden. Ich habe ihn vor ein paar Jahren noch mal besucht da, in seinem Studio in Weilerswist. Und das war wirklich irgendwie ganz kläglich, zu sehen, wie einsam dieser klapprige alte Mann da an so einer Ausfallstraße in so einem Vorort von Köln saß, irgendwie. Er hätte wirklich ein, als Pionier, irgendwie ein würdigeres Ende verdient.
Luerweg: Jens Balzer zum Tod von Holger Czukay, Bassist von Can.